Warum es auf Schalke immer noch gespenstisch ruhig bleibt

Schalke 04 ist im Emsland der Tabelle angekommen. Mit Platz zehn und ohne Pokaltitel verpasst der Verein seit acht Jahren wieder einen europäischen Wettbewerb. Dennoch stellt diese Saison eine kleine Sensation dar, denn es blieb ruhig. Ja, auf Schalke.

Nach den normalen Regeln der “Gelsenkirchener Schule” hätte Markus Weinzierl nach den fünf Niederlagen zu Saisonbeginn schon mal den Mietvertrag seiner Wohnung kündigen können. Clemens Tönnies wäre spätestens vor Weihnachten zum dritten Mal Gast im Doppelpass gewesen. Und Christian Heidel hätte sich, nachdem zum Ende der Spielzeit auch die letzten Hoffnungen auf Europa vergeigt wurden, zum philosophischen Diskurs mit den Ultras begeben müssen.

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Diesmal scheint jedoch fast das gesamte Umfeld tatsächlich so etwas wie eine Umbruchsaison zu akzeptieren. Einer, der weiß, ob das wirklich zutrifft und warum, ist Hassan Talib Haji. Der 35-jährige S04-Korrespondent, -Kolumnist und -Blogger ist nah dran an Verein und Fans. Unter anderem betreibt er die Facebook-Seite “FC Schalke 04 Fan-Community”, auf der ihm fast 35.000 Schalker folgen. An einem verregneten Donnerstagnachmittag vor dem letzten Spieltag wartet der Gelsenkirchener im Café Charlys auf dem Vereinsgelände. Draußen trainiert die Mannschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

VICE Sports: Hallo Hassan, zunächst mal: Ich brauche ein Foto zum Interview. Das wäre jetzt die passende Atmosphäre, um draußen eines zu schießen. Schön symbolisch für die Schalker Saison.
Hassan: (lacht) Leider sind Fotos heute nicht erlaubt, müssen wir anders lösen.

Kriegen wir hin. Lass uns aber erst mal die Saison aufarbeiten. Eine Übergangssaison, schlicht eine Enttäuschung – wie fällt dein Fazit aus?
Auf sportlicher Ebene war es eine Enttäuschung. Die Europa-League-Qualifikation hätte es auf jeden Fall sein müssen. Aber letztlich war es, für mein Empfinden, eine Saison, die man halt einfach aushalten musste. Der Begriff Übergangssaison wird gerne inflationär benutzt, aber in diesem Jahr trifft er zu. So vieles musste sich neu zusammenfinden: neuer Trainer, neuer Sportvorstand, neuer Sportdirektor. Der Umbruch ist jetzt erst eingeleitet.

Für Schalke typisch wäre es aber eher gewesen, dass Chaos ausbricht, der Trainer gehen muss und dann wieder Euphorie herrscht.
Dass es diesmal so ruhig geblieben ist, ist natürlich paradox. Aber die neue sportliche Führung hatte einfach einen riesigen Vertrauensvorschuss, insbesondere Christian Heidel. Und Weinzierl hat ja schon auch gezeigt, dass er es kann. Die Mannschaft hat in der Mitte der Hinrunde seine Spielidee gut umgesetzt, von zwölf Spielen zehn gewonnen. Auch, wenn dann wieder alles mäßig lief, hatten die meisten Fans endlich mal verstanden, dass sie es akzeptieren müssen.

War es vielleicht auch einfach eine Frage der Zeit, bis dieses Einsehen auf Schalke einkehrt?
Ich denke schon. Die Leute sind ja nicht blöde. Sie haben gemerkt, dass die Luft in den letzten Jahren, wo man mit Ach und Krach „nur noch” die Europa League erreichte, raus war. Mit Christian Heidel und seinen Verdiensten in Mainz hat eine Akzeptanz Einzug gehalten, die Verantwortlichen in Ruhe an einem Neuanfang arbeiten zu lassen. Wenn selbst Heidel es nicht schafft hier Ruhe reinzubringen, wer dann?

Hassan Talib Haji beim Interview im Café Charlys (Foto: Roman Milenski)

Aber machen wir uns nichts vor, so ganz ruhig war es über die Saison ja auch nicht. Du bist viel in den sozialen Netzwerken unterwegs, bekommst Reaktionen der Fans oder einzelner Gruppierungen immer direkt mit.
Die Emotionen sind mit Heidel natürlich nicht verschwunden, er kann nicht die Mentalität des Ruhrgebiets ändern. Aber ganz ruhig ist es bei keinem Verein. Man muss nur zwischen dem jeweiligen Spieltagsfrust der Leute, mich eingeschlossen, und den Diskussionen über das Große und Ganze differenzieren.

Wie verliefen Letztere im Laufe der Saison, wenn du dir die Kommentarspalten durchliest? Wer waren dann doch Feindbilder?
Am Anfang gab es sehr viel Unterstützung für Markus Weinzierl. Je mehr schlechte Ergebnisse abgeliefert wurden, desto mehr änderte sich das etwas. Mir fielen zum Beispiel immer wieder Kommentare auf, die Weinzierl einen “Kirmestrainer” nannten. Was immer das heißen soll. Aber was positiv war: Es kamen dann stets ganz viele Gegenargumente. Die Hau-Drauf-Kommentare, das alles in Grund und Boden geredet wird, das hat stark nachgelassen. Die Mehrheit der Leute will dem Ganzen Zeit geben. Das war in der Vergangenheit weniger der Fall.

Wie war das bei dir? Welche Erwartungen hattest du am Anfang der Saison durch Weinzierl und Heidel?
Ganz klar: Ich hatte mindestens Platz sechs erwartet. Bei der Größe des Vereins muss man das auch und ich rege mich auch darüber auf, dass es nicht geklappt hat. Aber, wie gesagt, ich habe dann irgendwann akzeptiert, dass man diese Saison aushalten und erst einmal die Weichen fürs nächste Jahr stellen muss. Allerdings ist Schalke jetzt auch komplett vorbelastet. Es wird nicht noch ein für Schalker Verhältnisse relativ ruhiges Jahr geben – sollte eine ähnliche Saison herausspringen. Weinzierl kann sich nicht noch einen Fehlstart leisten, dann ist die Unterstützung weg. Die Geduld hier ist begrenzt.

Ein Vlog auf hassanscornerTV:

Auf Schalke sagen viele immer, dass mit dem Erreichen eines internationalen Platzes eine Saison gut verlaufen würde. Aber wirklich zufrieden und ruhig waren alle in den letzten zehn Jahren nur zweimal…
…als Schalke um die Meisterschaft mitspielte. 2007 und 2010…

…und da ungefährdet in der Champions League landete. Genau. Worauf ich hinauswollte: Ist die Europa League für Schalke mittlerweile nicht auch zu wenig?
So richtig zufrieden werden alle nur sein, wenn Schalke dann endlich mal wieder Deutscher Meister wird. Ansonsten denke ich schon, dass sich die Fans über eine internationale Platzierung freuen, natürlich viel lieber über die Champions League. Nur war die in den letzten zehn Jahren auch nicht selbstverständlich. 2009 wurde man zum Beispiel nur Achter. Somit besteht noch Grund zur Freude über die Europa League. Die Erwartungshaltung auf Schalke hat sich grundlegend geändert. Früher hieß es: Mindestens Platz drei und bitte vor Dortmund und wenn Bayern mal strauchelt, müssen wir da sein. Heute: Hauptsache international dabei.


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Mit der Europa League einhergehend sind aber auch Effekte, die zu einer Art Abkühlung der Fankultur führen – unbeliebte Spieltermine, öfters ein nicht ausverkauftes Stadion, ab der 80. Minute leeren sich die Ränge, weil viele Fans nicht im Stau stehen möchten.
Ich hab mal geschaut: Die Arena war in dieser Saison nur viermal ausverkauft – gegen Bayern, Gladbach, Dortmund und das letzte Heimspiel gegen Hamburg. Sonst nur Spiele unter 60.000 Zuschauer. Aber vor solchen Entwicklungen ist auch Schalke nicht gefeit. Klar liegt das am sportlichen Erfolg. Nach zweimal Euro League hintereinander setzt eine gewisse Ernüchterung ein. Davor war alles auch noch impulsiver, weil Schalke als eine der wenigen Mannschaften ganz oben mitgespielt hat.

Da sind wir schon bei dem anderen großen Thema dieser Saison. Durch das Emporkommen von Leipzig gab es die unendliche Debatte um Tradition und Fußballkultur auf der einen, und sportliche und wirtschaftliche Konzepte auf der anderen Seite. Mal abseits davon, was bedeutet der Erfolg solcher Emporkömmlinge für die tradierten Spitzenteams wie Schalke?
Logischerweise, dass sich neue Mitstreiter dazugesellen. Gerade für Schalke hat sich die Konkurrenzlage in der Vergangenheit immer wieder geändert. Erst hat man nur auf Bayern und Leverkusen geschaut, dann kam Dortmund aus dem Nichts wieder dazu und ist meilenweit enteilt, dann war Gladbach wieder da. Jetzt sind es gut sieben Teams, die um die Champions League mitspielen wollen und eigentlich können sollten.

Was muss Schalke tun, dass es mit der Champions League nächste Saison wieder funktioniert?
Den Kader umstrukturieren. Ich glaube, dass es da faule Äpfel gibt, also Spieler, die satt sind und es nicht schaffen oder wollen, Woche für Woche ihre Leistung abzurufen. Die müssen knallhart aussortiert werden. Dafür müssen zwei schnelle Flügelspieler kommen. Das große Problem auf Schalke ist, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis des Kaders nicht stimmt. Schalke braucht junge, hungrige Spieler. Und ganz ehrlich: Vielleicht sollte man nicht mehr so häufig öffentliches Training machen.

Oh, dann könnte hier aber schnell wieder Revolution herrschen, wenn die Nähe zu den Fans nicht gewährleistet wird.
Sehe ich aber so. Wie willst du da vernünftig Dinge einstudieren? Erstmal kann jeder Gegner sehen, was du machst, und wenn regelmäßig 500 bis 1000 Leute am Trainingsplatz stehen, kannst du als Trainer auch mal nicht eben einen Spieler zurechtweisen. Dann ist das ein paar Minuten später im Netz, am nächsten Tag gibt es eine Schlagzeile in der Bild und dann ist wieder Unruhe. Genau das, was Schalke nach wie vor nicht gebrauchen kann.

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