Ich sitze in einem Restaurant in Stockholm. An dicken Metallhaken hängen dunkelrosa Tierkadaver in Glasboxen von der Decke. Neben dem trocknenden Fleisch reihen sich teure Weinflaschen aneinander. Es ist schick hier, aber irgendwie auch sehr Schlachthaus-mäßig. Ich bin übrigens Vegetarier. Gegenüber von mir sitzen Xavier de Rosnay und Gaspard Augé, aka Justice.
Xavier hat mir auf dem Weg hierher viel über Fleisch und Messer erzählt. Überhaupt spricht Xavier gerne und viel. Dazu wischt er sich üblicherweise den Pony aus dem Gesicht und beginnt einen seiner oftmals längeren und immer durchdachten Monologe. Gaspard auf der andern Seite verliert kaum ein Wort. Wenn doch, so beantwortet er eine Frage mit etwa drei Worten. Beide haben eigentlich ständig eine Zigarette in der Hand oder zwischen ihren Fingern. Etwa eine Stunde befinde ich mich jetzt in der Gesellschaft von Justice, aber um ehrlich zu sein, bin ich mir gar nicht so sicher, ob sie mich eigentlich hier haben wollen.
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Sie strahlen eine Verschlossenheit aus, die niemandem entgehen dürfte. Feindlich gesinnt gegenüber der Außenwelt sind sie dann aber auch wieder nicht. Sie interessieren sich nur mehr füreinander.
Als ich sie frage, wie sie sich kennengelernt haben, lächelt Gaspard verschmitzt. “Die Legende …”, sagt er.
Gaspard und Xavier lernten sich auf einer Party von gemeinsamen Freunden kennen. Beide waren Anfang zwanzig und Grafikdesigner. Xavier studierte noch, Gaspard, der drei Jahre älter ist, hatte bereits seinen Abschluss. “Bei diesen WG-Partys gibt es immer eine Küchenparty und wir waren bei der Küchenparty”, sagt Xavier. “Ich erinnere mich, dass ich [Gaspard] sehr unsicher fand. Sehr witzig, aber gleichzeitig auch merkwürdig—bis er jemandem, der vorbeiging, Bier auf den Kopf spuckte.”
Alle lachen und ich verlange mehr Details: Bier auf jemanden spucken … absichtlich?
“Nein, vielleicht habe ich gelacht oder so”, bietet Gaspard als Erklärung zu seiner Verteidigung an.
Xavier versichert mir, dass es Absicht war.
Zwei Wochen später wartete Gaspard auf eine Frau, die zufällig in Xaviers Grafikdesign-Kurs war, und beide trafen sich wieder. Sie führten ihre Unterhaltung von der Party fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. Bevor er sich versah, hatte Gaspard das Treffen mit der Freundin vergessen und er und Xavier zogen zusammen davon.
Xavier und Gaspard wurde schnell klar, dass sie denselben “trockenen Sinn” für Humor haben und sie fingen an, über Musik zueinander zu finden. “Ich kenne keine Leute in ihren Zwanzigern, die nicht über Musik sprechen oder sich selbst über Musik definieren”, erklärt Xavier. “Unsere anderen Freunde standen eher auf Post-Rock oder das, was sie Anti-Folk nannten. Wir mochten aber Pop und Prog-Rock.” Während ihre Altersgenossen sich in zeitgenössischer Indie-Musik vergruben, setzten sich die beiden auf einer Insel der Romantik, Hexerei und des Bombast ab. In Xaviers Worten: “The Buggles und Camel—so haben wir uns kennengelernt.”
Nachdem wir unser Essen bekommen haben—für mich ein tiefer Teller mit Artischocken, Spinat und Pilz-Pasta, für Xavier und Gaspard blutiges Steak—sprechen Gaspard und ich ausführlich über den wenig später gewählten US-Präsidenten Donald Trump und wie seine Cartoonisierung in den liberalen Medien seiner Sache nur zuträglich ist.
Wir diskutieren über den Zustand Europas und insbesondere über die mögliche Wahl von Marine Le Pen, die Xavier mit Tiësto vergleicht: “Nur weil du niemanden kennst, der Tiësto hört, heißt das nicht, dass er keine Stadien füllen kann!” Das Essen wird mit einem Kaffee beendet und ich teile mir mit Gaspard eine Käseplatte.
Trotz ihres erheblichen Einflusses auf das Genre, haben Justice auf unkonventionellem Weg zur elektronischen Musik gefunden. Beide wuchsen in Paris auf und hörten hauptsächlich 70er-Prog-Rock und 80er-Funk—eine Welt weit entfernt von der Clubkultur und ihrer Verehrung für Detroit. Gaspard erklärt dies so: “Als wir mit unserer Musik anfingen, war die Zeit französischer Underground-Raves und Techno bereits vorbei.” Xavier drückt seine Ansichten zur Rave-Kultur, die in Frankreich Mitte der 90er auf dem Höhepunkt war, etwas unverblümter aus: “Selbst wenn es zu der Zeit angesagt gewesen wäre, die Vorstellung, raus in einen Wald zu fahren, um dort Techno zu hören, gehört zu meinen schlimmsten Albträumen.”
Und so ist es auch keine große Überraschung, dass das erste Musikstück, das sie als Justice produzierten, eine Überarbeitung eines Rocksongs war—“Never Be Alone” von Simian—die sie für einen Remix-Wettbewerb produzierten. Sie gewannen zwar nicht, doch der Track mit seinem einprägsamen Refrain und der funkigen Bassline packte die Aufmerksamkeit von Daft Punks damaligen Manager Pedro Winter, der sie bei seinem Label Ed Banger Records unter Vertrag nahm und den Song 2003 als Single veröffentlichte. Mithilfe seiner Unterstützung schafft es der hymnische Remix unter dem Namen “We Are Your Friends” eine ganze Ära zu definieren.
Im Gegensatz zum rasanten Aufstieg, den viele Künstler 2016 hingelegt haben, basierte Justice’s Beliebtheit zu Anfang auf einer langsam aber stetig wachsenden Fanbase, die sich über ein damals noch weitaus abgeschiedeneres und entspannteres Internet ausbreitete. Dies gab ihnen Zeit, ihre Band nach eigenen Regeln Gestalt annehmen zu lassen.
“Wir hatten Zeit, uns zwischen unserer ersten Single und unserem ersten Album sehr natürlich zu entwickeln”, erinnert sich Xavier und blickt auf die Jahre zwischen “We Are Your Friends” und † zurück. “Wir hatten keine Ahnung, was passieren würde. Ich dachte zwar nicht, dass wir uns sofort wieder anderen Dingen zuwenden würden, aber ich dachte auch nicht, dass Justice sonderlich lange bestehen würde.”
Beide erzählen mir, dass der Support für ihren zweiten großen Track—“Waters of Nazareth” von 2006—durch Phantasy-Labelhead Erol Alkan, der ihn auch direkt remixte, und das Glasgower DJ-Duo Optimo, die ihn regelmäßig in ihren Sets spielten, ihr Vertrauen in den aggressiv verzerrten Sound verstärkte, der † am Ende charakterisierte. Pedro Winter mochte den Track anfangs wohl nicht, was er später allerdings vehement bestreitet, als Xavier und Gaspard es mir gegenüber in seinem Beisein erwähnen.
Die Idee, die Platte lediglich mit einem Symbol zu schmücken, entstand durch eine zufällige Begegnung mit einem Exemplar von Pink Floyds Dark Side of the Moon , das sich auf dem Kaminsims eines Freundes in Toronto befand. “Wir dachten, ah, das ist ein tolles Albumcover—wie cool wäre es, ein einfaches Symbol zu haben, das man auf das Cover packen kann, damit man nichts anderes benötigt?”, erinnert sich Xavier.
Egal, ob sie das Album “Cross”, “Kreuz” oder “das eine mit dem Kreuz drauf” nennen, haben die meisten Leute in einem gewissen Alter eine grobe Vorstellung davon, wo sie waren, als sie † zum ersten Mal hörten—oder zumindest, was für ein Gefühl sie dabei hatten.
Falls du es eine Weile nicht getan hast, nimm diesen Artikel zum Anlass und hör dir den Opener “Genesis” an. Der opernhafte Prunk des Aufbaus, der in diese unwiderstehlich zähe Bassline zerfällt—auch heute noch ein verführerische, wenn auch aberwitzige Kombination. Das Album kombinierte den grellen Pomp des Hair Metal mit der coolen Straßenschläue des G-Funk. Ob die Schulhof-Euphorie von “D.A.N.C.E” oder der Electro-Horror von “Stress”, das war der Sound von drei Jahrzehnten Pop, Rock, Disco und Rap, die miteinander kollidierten—und es kam verdammt gut an.
Justice taten für die Jugendlichen des Jahres 2007 mehr, als Clubmusik auch für Indie-Kids cool zu machen. Zusammen mit der Ed-Banger-Familie und einigen verwandten Acts wie Soulwax und Tiga verliehen sie beiden Welten neue Energie. Sie statteten Gitarrenbands mit neuen musikalischen Möglichkeiten aus und öffneten eine kriselnde europäischen Raveszene für neues, jüngeres Publikum. Ob es die Cut-and-Paste-Polaroid-Kamera-Ästhetik war, bei der Xavier und Gaspards Freund und Kollaborateur So Me Pionierarbeit leistete, oder die Verbreitung von MP3-Blogs und Remixen, Justice bildeten die Speerspitze einer Ed Banger-Revolution—einer, die auf der Logik musikalischer Hybridität basierte und dadurch den Raum zwischen Franz Ferdinand und Diplo, zwischen Stadion und Club besetzte. Ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung von Daft Punks Homework und Airs Moon Safari war Paris dank Justice wieder das Zentrum des Elektro-Universums.
Nach † schienen die beiden die Definition elektronischer Musik noch weiter zu dehnen. Auf ihrem zweiten Album—Audio, Video, Disco von 2011—verfolgten sie etwas, das sie mir gegenüber als Versuch einer Kombination von Dance-Musik und “der schwarzen Magie von Led Zeppelin” bezeichneten. Umgesetzt wurde diese Idee auch in der apokalyptischen Bildsprache der Leadsingle “Civilization”. Ihr mittlerweile berüchtigter Tourfilm A Cross the Universe porträtierte sie dementsprechend als ein Haufen Chaoten, die in einer Dunstwolke aus Alkohol, Sex und Gewalt die USA unsicher machten (in einer anscheinend ungestellten Szene greift Xavier einen Stalker mit einer Glasflasche an). Weit entfernt von der gesichtslosen, wohltätigen Rolle des DJs, waren Justice echte Rockstars.
Und als solche waren sie nicht überall willkommen. “Manchmal warfen die Leute Dinge nach uns, wenn wir Rocksongs spielten oder das Tempo zu sehr veränderten”, erinnert sich Xavier. Und auch wenn viele Dance-Puristen Justice für unauthentisch hielten, hatten sie im EDM-Zirkus nicht unbedingt einen besseren Ruf. Xavier erzählt mir von einem Auftritt beim Tomorrowland-Brazil. “Wir spielten in einem Zelt für 6.000 bis 8.000 Leute und innerhalb von zwei Minuten hatten wir es leergespielt”, sagt er und klingt dabei immer noch irgendwie verzweifelt darüber. “Ich mach keinen Spaß. Nach zwei Minuten waren nur noch vier Leute da.”
In Stockholm ist dies zum Glück nicht der Fall. Draußen vor dem Under Bron—einem merkwürdig zugeschnittenen Club, der sich unter einer Autobahn befindet—stehen die Gäste in der Hoffnung, noch reinzukommen, zitternd in der mitternächtlichen Kälte. Später, als Justice das engelsgleiche “Safe and Sound” anstimmen—eine Kollaboration vom neuen Album mit Streichern des London Contemporary Orchestra—steht der Raum in einem Moment erstaunter Andacht still. Und, wenn auch nur für eine Sekunde, heben wir vollständig ab.
Zwei Wochen später bin ich im 18. Arrondissement in Paris. Ein trüber Montagmittag, ich drücke immer wieder auf die Klingel eines weißen Apartment-Blocks in Montmartre, bis ich feststelle, dass ich vor der falschen Tür stehe. Einen Meter weiter sehe ich ein Schild mit einem kleinen aber grell-pinken Schriftzug: Ed Banger Records. Die Tür öffnet sich und vor mir steht Inhaber Pedro Winter. Er ist groß, trägt schwarz, eine runde Brille und hat langes, glattes Haar. Sein Auftreten ist irgendwie gleichermaßen schroff wie einladend.
Pedro bittet mich, drinnen Platz zu nehmen. Bevor wir unsere Unterhaltung beginnen, klingelt sein Telefon. “Es ist Xavier—kann ich kurz rangehen?” Er verschwindet in Richtung des nächsten Fensters, was mir Zeit gibt, meine Umgebung zu mustern.
Das Ed Banger-Büro könnte auch eine Kunstgalerie sein—wenn die Regale aufgeräumter wären. Die Wände sind weiß, was die gigantische Sammlung an Vinyl, Tapes, CDs, Büchern und Skateboards, die in diversen Stapeln im Raum verteilt sind, nur noch mehr akzentuiert. Später berichtet Pedro von seiner Vision eines “Plattenlabels, das wie eine Skater-Marke betrieben wird”. Das hier sind die gesammelten Schätze aus Ed Bangers Leben. Dementsprechend ist auch jedes Objekt angemessen jungenhaft und farbenfroh und spiegelt die cleane und trotzdem spielerische Ästhetik wieder, mit der das Label die Electro-Landschaft bereichert hat.
Aber selbst wenn du all das weißt: Mach nur nicht den Fehler, diese Ästhetik “Blog House” zu nennen!
“Dieses Wort benutze ich nie”, versichert mir Pedro mit Nachdruck. Sein Telefonat hat er inzwischen beendet und sich hinter seinem Schreibtisch gesetzt. “Ich erinnere mich an den Blog-Effekt (einen von Musikblogs an der etablierten Presse vorbei kreierten Hype) und verstehe ihn auch. Ich finde aber nicht, dass das ein schönes Wort ist. Ich bevorzuge ‘Heavy Metal Disco’. Das sind wir nämlich.”
Pedro gründete Ed Banger 2003, als er bereits eine feste Größe in der französischen Clubszene war. Mitte der 90er legte er selbst als DJ auf—auch im legendären Club Le Palace, dessen Besitzer David Guetta war—und wurde schließlich Manager von Daft Punk. Überhaupt scheint er bei jeder relevanten Entwicklung der französischen Clubkultur seit den 90ern seine Finger mit im Spiel gehabt zu haben.
Wenn man Pedro dabei zuhört, wie er von all den Jahren im Geschäft erzählt, erscheint er einem schnell wie ein Tausendsassa, der zurückgezogen in seinem schicken Erdgeschossbüro in Montmartre, mit der selben Hingabe alle seine Projekt angeht, egal wie groß sie sind. In der Zeit, die ich in seinem Büro verbringe, spricht er mit demselben Enthusiasmus über das neue Justice-Album wie über ein Fotobuch über Heavy-Metal-Aufnäher—Killing Technology von Melchior Tersen—das er veröffentlicht hat. Oder über 10LEC6, eine Afro-Punk-Band, von der er zur Zeit besessen ist.
Er spricht voller Selbstvertrauen über sein Label und alles, was es erreicht hat, bleibt jedoch bescheiden, was seine Ambitionen heute und gestern betrifft. “Um ehrlich mit dir zu sein, und jetzt, wo ich alt bin, kann ich es dir sagen, aber es ist eine sehr egoistische Beschäftigung”, erklärt er. “Ich beschäftige mich hauptsächlich damit, dieses kleine Büro am Laufen zu halten. Es gibt definitiv keinen Langzeitplan, außer auf jedes Projekt stolz sein zu können. Ich will einen Schritt zurücktreten können, mir ansehen, was ich die letzten 15 bis 20 Jahre gemacht habe, und denken, dass es gut aussieht.”
Pedro traf Justice—wie ich ohne Überraschung erfahre—2003 bei einem Abendessen.
Beim Raclette eines Freundes lernte er Xavier und Gaspard kennen, die ihm nach dem Essen “We Are Your Friends” vorspielten. “Ich sagte ihnen, dass sie am nächsten Tag in mein Büro kommen sollen”, erinnert er sich. “Sie waren die zweiten Künstler, die ich überhaupt unter Vertrag nahm.”
Er spricht über den unmittelbaren Effekt, den der Track auf ihn hatte. Der “Rock und Pop” von Simian, der “runde Bass”, der von Daft Punk inspiriert war, aber auch das Versprechen auf etwas Neues—etwas, das über die etablierte Disco-Revival des French-Touch und die engstirnige Techno-Verehrung hinausging. “Wenn du mit ihnen über elektronische Musik und ihren Background sprichst, dann sind sie keine Techno-Heads”, sinniert Pedro. “Die haben mehr mit Toto, Prince und den Beach Boys zu tun. Die spielen Platten, um Mädchen zum Tanzen zu bringen.”
Wie bestellt, klopft es an der Tür. Pedro begrüßt Gaspard und einen müde dreinschauenden Xavier, der es sich, nachdem er meine Hand geschüttelt und sich meinem Befinden erkundigt hat, eine Bank in der Ecke des Raumes sucht und sich hinlegt. Gaspard entschuldigt sich leise für seinen Partner. Sie waren die Nacht lange auf gewesen, um an einem Minimix für Annie Macs Radio 1-Sendung zu arbeiten. Da die beiden ziemlich geschafft sind und diesen Nachmittag noch Arbeit für ein Musikvideo zum Track “Fire” vom neuen Album Woman fertiggestellt werden muss, verschieben wir unsere Pläne auf ein letztes gemeinsames Abendessen vor meinem Heimflug nach London.
Wir treffen uns gegen acht auf dem nassen Kopfsteinpflaster einer Seitenstraße in der Nähe ihres Schnittraums. Wir sind im 9. Arrondissement im Pariser Norden, dem Stadtteil den sie ihr Zuhause nennen. Die beiden diskutieren eine Weile darüber, wo wir essen gehen sollen. Die Straßen sind dunkel und abgesehen von ein paar Cafés hier und da laufen vor allem an schwarzen Fenstern und verschlossenen Türen vorbei. Trotzdem werden sie an fast jeder Ecke von jemandem aufgehalten—niemals für Selfies, sondern für Handschläge, Wangenküsse und Umarmungen.
Ich sage zu Gaspard, dass ich nie weiß, ob es sich bei den Menschen um Fans oder Bekannte von ihnen handelt. “Das können wir meistens auch nicht”, entgegnet er trocken.
Endlich finden wir ein Restaurant. Unser Tisch befindet sich am Fenster, an den Wänden hängen gerahmte Konzertposter und die Lampenschirme sind aus Buntglas. Die vegetarischen Optionen sind hier etwas reichhaltiger als bei unserem letzten Essen. Xavier bestellt Austern. Wir reden über Paris. Ich frage, wie sehr sich die Stadt sich in den letzten zehn Jahren verändert hat. Nicht so viel—jedenfalls nicht für sie. Sie hängen immer noch mit den gleichen Leuten wie früher ab—mehr oder weniger.
Je weiter der Abend voranschreitet und je mehr Getränke serviert werden, desto schneller wird das Französisch. Ich klinke mich aus den Unterhaltungen aus und beobachte. Xavier lehnt über Gaspards Teller und hilft ihm dabei, sein Steak Tatar in die Form des Justice-Kreuzes zu bringen. Es ist ein sonderbarer aber auch irgendwie herzerwärmender Anblick. Wie zwei besoffene Kinder beim Sandburgenbauen.
Wenn † wie eine Punkband klang, die mithilfe elektronischer Instrumente ein energiegeladenes Debüt raushaute, und Audio, Video, Disco von 2011 eine Hommage an alte Rockgrößen war, so könnte man ihr neues Werk, Woman, vielleicht als ihre erste ernsthaft romantische Geste bezeichnen. Sie machen auf dem Album ausgiebigen Gebrauch von dramatischen Streichern und dem schnittigen Funk eines Clavinets. Vom rollenden Funk von “Alakazam!” bis zum surrenden French-Touch von “Love S.O.S.” bekommt man hier den Eindruck, es mit einer Inkarnation von Justice zu tun zu haben, die runder und vollendeter ist als auf ihrem Debüt—und leichter und durchdachter als auf Audio, Video, Disco.
Das Resultat ist eine schwindelerregende Disco-Oper—ein grandioses Album, das im Gegensatz zu seinem Vorgänger das Drama mehr im Herzen als im Niedergang einer ganzen Zivilisation sucht. Darüberhinaus handelt es sich um die vergnüglichste Musik, die Justice in Jahren gemacht haben. Das könnte vielleicht auch an den Aufnahmesessions liegen, die sie laut Xaviers damit verbrachten, “einfach nur das Gefühl auszuleben, Songs zu machen und durch mein Wohnzimmer zu tanzen.”
Neugierig bin ich allerdings schon: Ist mit der Woman im Albumtitel jemand Bestimmtes gemeint? “Wir haben dieses Wort schon lange geliebt, aber immer auf die richtige Gelegenheit gewartet, es zu verwenden”, sagt Xavier diplomatisch. “Wenn du an eine Frau denkst, denkst du an eine Göttin mit der Macht, Leben zu schenken. Wir haben diese Göttinnen-Kriegerinnenfigur vor Augen. Uns ist auch aufgefallen, dass das Weiblichkeitssymbol dem Kreuz sehr ähnlich ist.” Die Antwort ist in ihrer Vagheit ziemlich unbefriedigend, aber dann auch wieder typisch für ihre Vorliebe für große Mythologie. Einen konkreten Grund dafür, das Album Woman zu nennen, scheint es jedenfalls nicht zu geben. Genau wie das Kreuz auf ihrem Debüt ist der Begriff in unterschiedlichsten Lesarten zu verstehen—kosmisch und erdbezogen, menschlich und göttlich, erotisch und mütterlich.
Trotzdem werde ich den Eindruck nicht los, dass ihr Verständnis von “der Frau” mehr in Teenagerfantasien vom anderen Geschlecht begründet ist, als in der tatsächlichen weiblichen Erfahrung. Die funkelnde Romantisierung des Albums lässt es so klingen, als würde es besser zu Teenagern passen, deren sexuellen Erfahrungen auf das Hören von T. Rex-Alben im eigenen Schlafzimmer beschränkt ist, anstatt zu Menschen, die sie tatsächlich erlebt haben. Diese Überlegung trifft laut Gaspard ziemlich gut auf sie selbst zu. “Wir reden viel darüber, wie gut es ist, ein Spätzünder zu sein”, sinniert er. “Zu unserer Teenagerzeit hatten wir mehr Spaß damit, Musik oder Nerdkram zu machen. Es ist gut, in seinem eigenen Universum zu sein, sich auf die eigenen Interessen zu konzentrieren und eine eigene Ästhetik und Stil zu entwickeln. Vielleicht hätte ich es damals bevorzugt, Motorrad zu fahren und Mädels abzuschleppen, aber jetzt bin ich ganz froh, früher so ein Eigenbrötler gewesen zu sein.”
Wo wir schon beim Thema sind, frage ich sie nach ihrem aktuellen Beziehungsstatus. Beide nicken zögerlich und schauen dabei zur Seite weg. Von ihrer Unbeholfenheit bei unserem ersten Treffen in Stockholm mal abgesehen, ist das hier die erste Frage, die beiden sichtlich unangenehm zu sein scheint. “Wir sind ein bisschen wie eine Boyband”, scherzt Xavier, um die peinliche Stille zu durchbrechen. “Wenn herauskommt, dass wir Freundinnen haben, dann war’s das.”
Trotz allem, was er sagt—und im Kontrast zu ihrem Ruf als Act, der durch das Internet groß wurde—umgibt Justice eine hermetische Aura: zwei beste Freunde, die füreinander und den coolen Kram, den sie machen, alles geben und im Elfenbeinschloss ihrer eigenen Fantasie leben. Engstirnig kann man sie beim besten Willen allerdings nicht nennen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass gerade diese Abgeschiedenheit dieses Sakrale in ihrer Arbeit erzeugt.
Durch meine Zeit mit Justice—in meinen Gesprächen mit ihnen darüber, was sie machen und warum sie es machen—habe ich mich wieder danach gesehnt, Teenager zu sein. Ich habe mich danach gesehnt, Filme zu sehen, Bücher zu lesen und Alben zu höre, und diese dabei direkt in mich aufzusaugen. Ich habe mich danach gesehnt, Poster an meiner Wand mit Reiszwecken festzumachen—und sie nicht einzurahmen und minutiös neben meinen Zimmerpflanzen zu positionieren. Ich habe mich nach einer Zeit gesehnt, in der es völlig ausreichte, einfach etwas Cooles zu entdecken.
Wir beenden unser Abendessen, überqueren die Straße und gehen zu einer Bar. Der Laden ist eigentlich schon geschlossen, aber ein Freund der beiden hat den Besitzer dazu überredet, alle für ein paar Drinks reinzulassen. Das Metallrollo am Eingang ist gerade so weit geöffnet, dass man gebeugt darunter durchpasst.
Vollgefressen, leicht betrunken und mit einem sehr frühen Flug am nächsten Morgen entscheide ich mich dieses Mal dagegen mitzuziehen. Während vom hellerleuchteten Inneren bereits ihre Namen gerufen werden, verabschieden sich beide mit einem festen Händedruck, ducken sich unter dem Rolle durch und verschwinden im Licht.
Ich gehe einen Schritt zurück und schaue dabei zu, wie sich das gewellte Rollgitter nach unten geht und sie und die Party innen einschließt. Hier draußen ist es kalt.
Alle Fotos von Emma Le Doyen. Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP erschienen.
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