Warum fahren Bros aus Großbritannien so auf Klock und Dettmann ab?

Vor ein paar Wochen düste ich mit der Londoner S-Bahn in Richtung Osten. Es war gerade halb elf und ich scrollte mich durch eine handvoll Timelines, um die Zeit zwischen den vier Bieren und meinem Bett zu überbrücken. Plötzlich wurde die relative Stille im Waggon vom typischen Brunftschrei besoffener britischer Schlachtenbummler durchbrochen:

“MATE, MATE, MATE, MATE, MATE, MATE, MATE, MATE.” [Nein, damit ist nicht das koffeinhaltige Erfrischungsgetränk gemeint, sondern der englische Begriff für “Kumpel” oder “Alter”.]

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Eine Gruppe Kerle torkelte auf mich zu, ihre Arme fast bis zu den Ellenbogen mit Bändchen verschiedenster Farbtöne und Dicke bedeckt. Wie sich herausstellte, hatten sie den Tag und einen erheblichen Teil des Abends im Printworks verbracht – Londons neuem Großraum-Club, der direkt neben einer gigantischen Decathlon-Filiale liegt – und offensichtlich den Spaß ihres Lebens gehabt.

Der Club arbeitet anscheinend darauf hin, das britische Äquivalent zum Berghain zu werden – sowohl was Größe, Maßstab, Öffnungszeiten und Türpolitik angeht. Und so gab es nur einen DJ, über den sie reden wollten. Wobei reden allein nicht ausreichte, um ihrer Begeisterung freien Lauf zu lassen. Sie waren offensichtlich so aufgeregt, so unfassbar euphorisiert von dem, was sie gerade gesehen, gehört und wahrscheinlich auch genommen hatten, dass amtliches Gegröle notwendig war.

“BEN KLOCK! WE FUCKEN LOVE BEN KLOCK!”

“HE PLAYS AT THE BEEEERRRGHAIN!”

“SHA LA LA LA LA LA LA LA… KLOCK KLOCK… SHA LA LA LA LA LA LA LA… KLOCK KLOCK!”

Ich hatte noch nie zuvor mitbekommen, dass irgendein DJ außerhalb eines Clubs für solche Emotionen gesorgt hat. Natürlich habe ich mich selbst schon durch alkoholgeschwängerte Lobreden auf meine Lieblingskünstler gestammelt und gelallt, aber das beschränkte sich räumlich auf die Biergärten South-East-Londons. Die ganze Szenerie hatte etwas beinahe charmant Jungenhaftes – auch wenn die Lautstärke und physische Präsenz, die solche Gruppen berauschter Männer in öffentlichen Verkehrsmitteln mit sich bringen, gewohnt unangenehm und rüpelhaft war.

Es war einer dieser Momente, in denen sich das Phänomen einer beinahe vollständigen Vermischung des Undergrounds mit dem Mainstream zeigte: Wir sahen Männer in schicken Lederschuhen, die den Namen eines deutschen DJs grölten, als hätte er in letzter Minute das Siegtor gegen den Lokalrivalen im Rückspiel eines Halbfinales geschossen.

Ein paar Nächte danach lag ich im Bett, ein oder zwei Stunden später als es vernünftig gewesen wäre. Ich dachte darüber nach, wie unfassbar ätzend Instagrams Explore-Funktion ist. Instagram soll zwar eine Social-Media-Plattform für Menschen sein, die eine Pause von dem polyphonen Geplapper der anderen Social-Media-Plattformen wollen, doch der Dienst zur Lifestyle-Protzerei setzt seine gigantische Nutzer-Basis – etwa 600 Millionen Menschen im Monat – einem mehrstimmigen Angriff aus; einer Art bebilderten Bibliothek von Babel mit weniger kabbalistischen Denkanstößen und mehr Wochenendtrips nach Lissabon.

Mit dem Wisch eines Fingers war ich in Dantes siebtem Höllenkreis gelandet. Dort unten in der feuchten Dunkelheit neben Minotauren und Harpyien fand ich Ketflix & Pills – einen Account, der sich selbst damit brüstet, seine Follower mit “comedy for rave and festival lovers across the world” zu versorgen. “TURN ON POST NOTIFICATIONS”, heißt es weiter, “NEVER MISS A MEME”. Allein der Gedanke daran, nie mehr ein Bild von einem T-Shirt mit dem Spruch “JUST DO KET” in Nike-Schrift zu verpassen, auf dem dich später zwölf deiner Kumpels taggen, übersteigt das, was sich der große italienische Autor selbst ausdenken konnte.

Unter den unzähligen Memes über die “Sesh” – die britische Version der Afterhour oder eines Heimgelages – und darüber, was vor, während und nach der “Sesh” passiert, entdeckte ich eine Anomalie. Zwischen einem Video einer Gruppe schlaffer Kerle, die mit ihren “Keta-Schaufeln” zu den Klängen von Lipps Incs “Funkytown” in der Luft rumwedeln, und einem Bild, auf dem ein zwinkernder Wladimir Putin stellvertretend für deinen besten Kumpel abgebildet ist, der noch Drogen hat, fand sich ein Clip von zwei DJs, die eine Platte auflegen. Die Platte war “Freak Like Me” von DJ Deeon und die beiden DJs waren Ben Klock und Marcel Dettmann.

Plötzlich erinnerte ich mich wieder an die Mackerbrigade in der Bahn und es fiel mir wie Schuppen von den Augen: Die beiden DJs waren zum Maskottchen für ein Publikum geworden, das das Gegenteil ihrer teutonischen Wurzeln darstellte.


Aus dem VICE-Netzwerk: Locked Off – Ein Film über die illegale Rave-Szene Großbritanniens:


Stellen wir hier eine Sache klar: Klock und Dettmann sind keine Witzbolde. Sie fahren nicht in Rikschas durch die Gegend, legen nicht in lustigen Kostümen auf und haben auch keine eigene Whisky-Sorte. Klock und Dettmann spielen vor allem reduzierten, mechanischen Techno und das in den größten Clubs und auf den größten Festivals der Welt. Das tun sie meistens alleine, ab und zu auch zusammen. Dabei tragen sie so etwas Unaufgeregtes wie ein T-Shirt oder vielleicht eine Jeans-Weste. Und trotzdem sind die grimmig dreinblickenden Techno-Titanen von Horden vorlauter Clubber in die Arme geschlossen worden.

Von Nord bis Süd warten Unmengen an jungen Nachtschwärmern die ganze Woche über voller Vorfreude auf die Art von Erlösung, die nur der Anblick und der Klang eines ernsten deutschen Typen bieten kann, der düsteren Minimal abliefert.

Das soll nicht heißen, dass bestimmte Musik nur von bestimmten Leuten in bestimmten Situationen genossen werden darf oder kann. Die Anziehungskraft, die die beiden DJs auf die Massen ausüben, hat jedoch etwas zweifelsfrei Seltsames. Schließlich schafft nicht jeder DJ den Sprung vom tiefsten Berlin in Studenten-Clubs in Bristol, ohne dabei ein paar metaphorische Knochen zu brechen.

Das liegt wohl leider am Berghain-Einfluss. Ich sage “leider”, weil es seit letztem Jahr nichts Effekthaschenderes als eine Berghain-Referenz gibt – wenn selbst der Telegraph dir Insider-Tipps geben will, wie du es in den bekanntesten Club der Welt mit Fotoverbot schaffst, dann weißt du, dass die Dinge nicht ganz richtig laufen.

Es ist auf seltsame Weise wunderbar, dass ein Club sich weigert, bei der Art von Frivolität mitzumachen, die andere Partyorte in Kindergärten mit Kickdrums verwandelt hat, und dadurch zum wohl bekanntesten Club der Welt wird. Was aber viel seltsamer ist, ist die heteronormative Aneignung eines Sounds, der für eine uneingeschränkte Offenheit für queere Lebensformen steht.

Auch wenn sie selbst nichts dafür können, Klock und Dettmann sind das hübsche und, noch viel wichtiger, heterosexuelle Gesicht des Berghains und von Ostgut Ton. Mit ihren scharfen und ernsten Gesichtern sehen sie aus wie Männer, die in der GQ eine ebenso gute Figur machen würden wie hinter dem Mixer. Sie haben eine gewisse Sauberkeit und lassen sich gut verkaufen. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum sich britische Party-Bros auf sie eingeschossen haben.

Trotzdem hätten nicht einmal die kühnsten Propheten dieses Phänomen vorausahnen können, denn das ist eigentlich nicht das, was Vorreitern eines vermeintlichen Undergrounds widerfährt – selbst wenn dieser Underground immer mehr in den Mainstream einfließt und wir in einer Zeit leben, in der der vorherrschende Konservatismus des Clubbings sich mehr und mehr von seinen radikalen Wurzeln entfernt.

Eine wesentlicher Aspekt dieses Prozesses ist der schnelle Anstieg der Popularität, den Techno, Techno-DJs und Techno-Events in Großbritannien genießen. Es scheint, als könnte die abgestumpfte britische Jugend nicht genug bekommen von trockenen Großraumkrachern – der Art von Musik, zu dessen Botschaftern sich Klock und Dettmann in den letzten Jahren aufgeschwungen haben.

Versteh mich nicht falsch – diese Musik ist so humorlos wie nur möglich. Die Art von Techno, die sie bekannt gemacht haben und die sie auf den größten aller Bühnen spielen, versprüht ungefähr so viel Lebensfreude wie ein Leichenschauhaus. Trotzdem hörst du sie sowohl an den Stränden Kroatiens als auch beim Sonnenaufgang auf dem San Antonio Strip. Umso merkwürdiger, dass die MDMA-konsumierenden und Smoothie-trinkenden sozialen Gruppen, die hauptsächlich auf geografischer Nähe und einem gemeinsamen Interesse für Witze über Penisgrößen basieren, sie sich angeeignet haben.

Aber vielleicht ergibt auch gerade das Sinn. Falls die “Sesh” egozentrischer Nihilismus im Gewand eines großen Witzes ist, warum sollte man sie dann nicht mit den brutal freudlosen Klängen von Berghain-Techno untermalen? Warum solltest du das Lachen, mit dem du durch das Leben hüpfst, nicht durch eine 12″ von Len Faki unterdrücken? Denn letztendlich endet auch sie irgendwann.

Und jetzt alle:

“SHA LA LA LA LA LA LA LA… KLOCK, KLOCK…”

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