Warum ich auch „falsche“ Flüchtlinge in der Schweiz begrüsse

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Den ganzen Sommer über sprach die Schweiz über Flüchtlinge. Unsere schräg singende Rechtspartei erkor sie zur Freude ihrer Kommentar-Armee zum Wahlkampf-Thema Nummer 1. Und auch die Medien freuten sich, das Sommerloch mit dem geforderten Widerstand gegen Asylzentren, scheinbar schmarotzenden Eritreern und einem unstoppbaren Asylchaos stopfen zu können. Erst vor kurzem—wie wir hier ausführlicher geschrieben haben—wendete sich die öffentliche Meinung.

In Österreich wurde ein Laster mit insgesamt 71 toten Flüchtlingen gefunden, aus dem bereits Verwesungsflüssigkeit tropfte, und ein paar Tage später brannte sich das Bild des ertrunkenen Flüchtlinsgjungen Aylan ins öffentliche Gedächtnis.

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Vergangene Woche redeten auch unsere Herren und Damen im Nationalrat über Flüchtlinge. Sie diskutierten, wie die Schweiz das Asylrecht effizienter machen könne und ob Soldaten an den Grenzen aufpassen sollen, dass auf keinen Fall auch nur ein Flüchtling zu viel in die Schweiz kommt. Immer wieder war—wie auch den ganzen Sommer über schon—in der Diskussion zu hören: Echte Flüchtlinge dürfen in der Schweiz bleiben, Wirtschaftsflüchtlinge sollten wir schnellstmöglich wieder los werden. Mittlerweile scheint es Standard geworden zu sein, dass wir Flüchtlinge in „echte” und „falsche” unterteilen und dementsprechend als gut und schlecht bewerten. Das finde ich falsch.

Das grundsätzliche Problem hinter dieser Trennung ist: Menschen wollen in die Schweiz, doch die Schweiz will nicht alle diese Menschen. Die Schweiz muss mit ihrer Haltung also irgendwo eine rote Linie ziehen—bei den Menschen, die sie als Wirtschaftsflüchtlinge oder „falsche” Flüchtlinge abgestempelt. Als Menschen, die nicht in die Schweiz kommen, um ihr Leben zu retten, sondern um ihr Leben zu verbessern.

Doch wie so oft beim Umgang mit Menschen, sagt es wohl mehr über uns selbst aus, wie wir mit den Anderen umgehen, als über die Anderen. Schliesslich wären die Auswirkungen der („echten” und „falschen”) Flüchtlinge auf Europa faktisch gar nicht so gross—selbst wenn wir alle Grenzen komplett öffnen würden.

Die klugen Menschen in den Wirtschaftswissenschaften sind sich sogar fast alle einig, dass es gut für die Wirtschaft ist, wenn Menschen einwandern. Einwanderung schafft mehr Arbeitsplätze, als sie vernichtet und sie lässt die Löhne steigen. Sogar für die „Wir sind nicht das Sozialamt der Welt!”-Brüller haben die Wissenschaftler eine Totschlag-Antwort auf Lager: Unsere Sozialsysteme brauchen für ihr Überleben Menschen, die aus anderen Ländern kommen.

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Aber selbst, wenn dem nicht so wäre: Wäre es so schlimm, wenn die Schweiz aus den Top 10 der reichsten Länder in die Top 20 rutscht? Wenn nicht mehr jeder 10. Milliardär auf dem Erdball eine rot-weisse Fahne vor seinem Haus hisst, sondern nur noch jeder 15.? Wollen wir uns wirklich so zwanghaft über unseren Wohlstand identifizieren, obwohl du und ich praktisch nichts dazu beigetragen haben?

Ob wir mehr Flüchtlinge wollen oder nicht, ist also keine wirtschaftliche Frage—und angesichts der Tatsache, dass gerade mal jeder 200. Mensch in der Schweiz ein Flüchtling ist, auch keine kulturelle. Es ist eine persönliche Frage.

Wir fürchten uns davor, dass sich etwas verändern könnte, wenn zu viele Menschen in die Schweiz kommen. Doch diese Ängste sind erstens—wie erwähnt—ziemlicher Bullshit und zweitens alles andere als eine gute Grundlage, um andere deswegen zu bestrafen. Nur weil du in der Geisterbahn Angst hast, fackelst du ja auch nicht gleich den ganzen Jahrmarkt ab.

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Und auch vor mir hast du schliesslich keine Angst—obwohl ich aus dem gleichen Grund in die Schweiz gekommen bin wie die Wirtschaftsflüchtlinge: Ich wollte ein besseres Leben. In meinem Geburtsland Liechtenstein hätte ich zwar auch studieren können—aber nicht das, was ich will. Ich hätte dort auch einen Job finden können—aber keinen, den ich will. Ich hätte dort leben können—aber nicht so, wie ich will.

Ich zog also vom ländlichen Liechtenstein in eine grössere Stadt an der Donau und anschliessend ins grosse Dorf nach Zürich. Auf mich warteten weder an der österreichischen, noch an der Schweizer Grenze Polizisten, um mich als Vorhut der Bürokratie zu empfangen. Bloss ein oder zwei jährliche Besuche beim Amt und schon sind die Stempelkrieger zufrieden.

Die ach so bösen Wirtschaftsflüchtlinge wollen im Grunde dasselbe: Sie sehen in einem anderen Land mehr Perspektiven für sich und wollen darum dorthin. Dafür müssen sie aber nicht wie ich einfach mal mit ein paar Wochen Verspätung beim Amt Hallo sagen. Sie nehmen in Kauf, dass sie in überfüllten Schlauchbooten sterben, sich wochenlang durch das europäische Nirgendwo kämpfen müssen oder von Polizisten gedemütigt werden. Dass das viel mehr ein Mix aus Verzweiflung und Hoffnung ist, als ein Spasstrip, dürfte auch dem hinterletzten Menschen in Hinterpfupfingen klar sein.

Was unterscheidet sie aber von mir? Der grundlegendste Unterschied ist wohl—so ausgelutscht das auch klingt—, dass ich zufällig in einem der reichsten Länder der Welt geboren bin und sie zufällig nicht. Dadurch bin ich mehr oder weniger in einem europäischen Wertesystem aufgewachsen, habe mich am Gymi durch Mathe- und Französisch-Lektionen gequält und konnte ein paar Jahre zu viel an der Uni vertrödeln.

Flüchtlinge bringen die meisten dieser Sachen nicht mit. Darum sehen wir sie als Aufwand. Wir finden es anstrengend, ihnen zu zeigen, wie die Schweiz tickt, ihnen Deutsch beizubringen und ihnen eine Arbeit zu geben. Bei „echten” Flüchtlingen machen wir das zwar noch lieber, weil sie ja offiziell akzeptiert sind—bei „falschen” Flüchtlingen aber auf gar keinen Fall. Das ist ziemlich arrogant.

Niemand weiss so genau, wie unserer Verhalten die Lage in ärmeren Ländern genau beeinflusst. Wir wissen aber, dass auch Schweizer vor etwas über hundert Jahren fleissig beim Geschäft mit afrikanischen Sklaven mitgemischt haben—und die offizielle Schweiz das als „normal” akzeptiert hat. Wir wissen, dass von 1980 bis 2009 an die 1.3 Billionen Dollar (das ist eine Zahl mit 11 Nullen: 1.300.000.000.000) Schwarzgeld von Afrika nach irgendwo geflossen ist—und auch Schweizer Banken davon profitiert haben. Und wir wissen, dass Schweizer Waffen selbst in Länder geliefert werden dürfen, in denen Menschrenrechtsverletzungen quasi zum Elitensport gehören.

Auch wir sind also nicht ganz unschuldig daran, dass es den Menschen in den Fluchtländern so geht, wie es ihnen heute eben geht. Wir profitieren sogar davon, wenn wir unsere T-Shirts ein paar Franken billiger bekommen. Wenn du für fünf Franken die Stunde arbeiten müsstest und gleichzeitig in einem Rattenloch deine Nächte verbringen würdest, während dein Chef seine Fish Flops (ja, das sind Flip Flops in Fisch-Form) mit Blattgold überziehen lässt, würde dich das schliesslich auch stressen. Wieso können wir also nicht einfach akzeptieren, dass auch Menschen in die Schweiz kommen wollen, die in ihrer Heimat nicht vom Tod oder von Verfolgung bedroht sind, sondern schlichtweg von einem menschenunwürdigen Leben?

Wenn wir fordern, die Grenzen besser vor den bösen „falschen” Flüchtlingen zu sichern, meinen wir eigentlich: „Ihr seid uns zu anstrengend”. Wir setzen unser Wohlbefinden über das der Wirtschaftsflüchtlinge, die ihr ganzes Leben hinter sich gelassen haben, um hierher zu kommen. In unseren Köpfen wispern wir dabei immer lauter „Wirtschaftsflüchtlinge raus”—und bemerken nicht, dass das nur wenige Hirnwindungen vom verpönten „Ausländer raus” entfernt ist. Denn letzten Endes sind die Wirtschaftsflüchtlinge das, was vor ein paar Jahrzehnten die verhassten Italiener, Spanier und Türken waren: Migranten auf der Suche nach einem besseren Leben.

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