Die Schweiz gilt als Vorbild der westlichen Welt. Die Einwohner werden quasi als Millionenerben geboren, die Berge mit Zuckerhüten veredelt, der Staat demokratisch legitimiert. Drei Viertel der Deutschen wünschen, sie wären ein bisschen mehr Schweizer. Auch sie wollen in ihrem Land mehr mitbestimmen. Und auch die ausländischen Medien stimmen—trotz Momenten des Zweifels—in diesen Lobgesang ein.
Auch ich liebe es, meine Meinung in ein paar Kreuzchen zu verwandeln und in Stimmcouverts zu stecken. In meinen acht Jahren an der Uni habe ich aber nicht nur gelernt, wie man schuldenmässig mit Griechenland mithält, sondern auch, dass sich zu Friede, Freude und Eierkuchen immer Krieg, Depression und eine Ei-Allergie gesellen—so auch im Fall der direkten Demokratie. Hier sind acht Gründe, warum ich die direkte Demokratie hasse:
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1. Sie ist schlimmer als das Internet
Wenn uns das Internet etwas gelehrt hat, dann dass Menschen in der Anonymität zu unreflektierten Monstern werden. Den News-Kommentar von User Rüttli1291, der mit Flüchtlingsbooten am liebsten Schiffe versenken spielen würde, kann man wegklicken und vergessen. Entscheidungen, die Rüttli1291 nicht in der digitalen Parallelwelt, sondern mindestens so anonym auf dem Stimmzettel fällt, bleiben—und haben Konsequenzen.
2. Sie hasst mich
Demokratie heisst: Alle dürfen mitmachen. 1971 haben die Schweizer Männer beschlossen, dass nun auch ihre Pendants mit Vagina gescheit genug dazu sind. Und doch: Auch heute muss noch jeder dritte Bewohner des rot-weissen Kindergartens in der Time Out-Ecke sitzenbleiben, während die anderen fröhlich um die Wahlurnen tanzen. Die meisten, weil sie wegen mangelnder Blutsverwandtschaft mit Wilhelm Tell keinen Schweizer Pass haben oder weil sie zum Obstler saufen noch zu jung sind. Ich gehöre als Liechtensteiner zur ersten Sorte. Das ist mit ein Grund, warum ich bald an keinem einzigen Ort dieser Welt mehr abstimmen und wählen darf.
3. Ethik geht ihr am Arsch vorbei
Denk an die Blick.ch-Kommentarspalte. Denk an den einen Verwandten, der bei Familientreffen „die da oben” und „all diese Ausländer” gerne mal mit seinem Halbwissen unter den Stammtisch ohrfeigt. Ja, auch er darf abstimmen. Ja, auch er hat genau eine Stimme. Der Demokratie ist es scheissegal, ob jemand Homos als satanische Plage ansieht oder Jesus höchstpersönlich ist. Sie behandelt alle gleich.
4. Sie hasst sich selbst
Die zwei Drittel Bewohner der Schweiz, die abstimmen dürfen, organisieren nicht jauchzend Kreuzchenpartys. Die Hälfte davon bleibt lieber zu Hause und wünscht sich, die reale Politik wäre mindestens so spannend wie House of Cards—wenigstens ein paar Morde müssten drinliegen! Am Ende bestimmt weniger als ein Drittel der Einwohner darüber, ob und wie zum Beispiel die Abschottung der Schweiz weitergehen soll.
5. Sie lässt sich missbrauchen
Wer hätte sich an drei oder vier Moschee-Türmen gestört, wenn die Minarettinitiative in den Köpfen ihrer Schöpfer geblieben wäre? Kein Schwein. Die direkte Demokratie wird seit Jahrzehnten missbraucht, um auf neue Minderheiten einzuprügeln. Liegen diese erstmal K.O. am Boden, klettert es sich über ihre Köpfe hinweg ganz leicht die politische Karriereleiter nach oben. Die JUSO knüppelt—bislang wenig erfolgreich—am liebsten nach oben auf die Chefs in den Prime Tower-Einzelbüros. Die SVP nach unten auf Asylanten, Muslime oder Pädophile—und hat es mit Hass als Konzept zu einer der etabliertesten Rechtsaussen-Parteien Mitteleuropas gebracht.
6. Sie macht es sich zu einfach
Mit 13 war die Welt noch simpel. Politisch gab es nur „links” oder „rechts”, alias „gut” oder „böse”. Und auf Schatzi-Briefe kritzelte man „Willst du mit mir gehen?—Ja. Nein. Vielleicht.” Heute würden sich mindestens ein „Ja, aber …” und ein „Nein, aber …” dazwischen quetschen. Anders bei Abstimmungen. Dort bleiben „Ja” und „Nein” die einzigen Antworten auf Fragen, die mindestens so viele Dimensionen haben wie die Welt in Interstellar.
7. Sie wird von den Falschen geliebt
Im November sehnte sich Pegida Deutschland in ihren feuchten Träumen nach Asylverfahren wie es sie in ihrem grossen Vorbild Schweiz gibt. Heute ist Pegida im medialen Marianengraben versunken—und mit ihr ihre Forderung. In der Schweiz würde Toni Brunner die Patriotischen Europäer freudestrahlend zum herzhaften Buurezmorge in seine Beiz einladen. Was in anderen Ländern politisch keine Chance hat, macht bei uns Gesetze—auch dank der direkten Demokratie.
8. Überfremdungsinitiativen
„Ausverkauf der Heimat”-Initiative, „Gegen illegale Einwanderung”-Initiative, „18 Prozent”-Initiative, Asylrechtmissbrauchs-Initiative, Ausschaffungsinitiative, Minarettinitiative, Masseneinwanderungsinitiative, Ecopop, Selbstbestimmungsinitiative, Durchsetzungsinitiative usw.
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