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Warum ich es nicht mehr einsehe, Trinkgeld zu geben

Ein Geldschein verbrennt. Ich sehe es nicht mehr ein Trinkgeld zu geben, weil ich damit soziale Ungleichheit unterstütze

Ich will kein Trinkgeld mehr geben. Ich will nicht mein Bier bezahlen und dann auch noch das Bier des Menschen, der mir das Bier bringt. Warum sollte ich das tun? Habe ich zu viel Geld? Hat die bierbringende Person zu wenig? Ist das mein Problem? Oder liegt dieses Problem nicht eigentlich ganz woanders?


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Zehn Prozent, heißt es, soll man auf eine Rechnung in der Gastronomie draufschlagen und diese zehn Prozent der Bedienung schenken. Zehn Prozent. Schenken. Tue ich es nicht, spuckt sie mir das nächste Mal ins Essen oder Bier. Das ist Gesetz. 

Aber ich hasse es, Trinkgeld zu geben. Ich finde es falsch und abstoßend. Nur Spucke im Essen finde ich abstoßender. Wenn ich ins Restaurant gehe, bezahle ich für das, was auf der Speisekarte steht. Und das ist halt keine Spucke. Deswegen sehe ich nicht ein, dafür zu zahlen, keine Spucke im Essen zu haben.

Nun meine ich Spucke eher bildlich. Als Metapher für schlechten Service. Denn ordentlicher Service ist der Job eines Kellners: Er behandelt mich höflich, zeigt mir meine Bestell-Optionen auf und bringt mir schließlich mein Essen. Dafür bezahlt ihn das Restaurant. Warum sollte ich also nochmal zusätzlich dafür zahlen, damit er seinen Job macht?

Das, zugegeben, reichlich ungeschriebene Gesetz sagt ja nicht, dass man nur dann Trinkgeld gibt, wenn jemand seinen Job besonders gut macht. Sondern wenn die Person ihn überhaupt macht. Ich zahle also für das Minimum: die Höflichkeit der Bedienung. Würde ich mehr erwarten, wäre das bereits übergriffig von mir.

Denn Geld ist toll und wir sind alle bereit, die verrücktesten Dinge dafür zu tun. 40 Stunden im Büro zu sitzen zum Beispiel und dabei unsere Freundschaften, Hobbys und Familien zu vernachlässigen. Nur ist es unser Arbeitgeber, der uns dafür bezahlt, nicht irgendwer, mit dem wir zusammenarbeiten. Niemand, der mit ein paar Euro darüber entscheiden darf, ob wir lächeln oder nicht.

Ich bin nicht der Arbeitgeber einer Servicekraft. Kein Gast ist der Arbeitgeber einer Servicekraft. Die Person, die ein Restaurant oder eine Kneipe besitzt, ist der Arbeitgeber einer Servicekraft. Sie ist nämlich auch die Person, die mit mir Geld verdient. Klar kann ich um Dinge bitten: “Kann ich bitte das Knoblauch-Öl haben?”

Mir dieses zu bringen, ist aber, nun ja, der Job der Person, die es mir dann bringt. Und wenn ich Dinge von ihr verlange, die nicht Teil des Jobs sind, dann sollte die nicht lächelnde Person die Möglichkeit haben, mir den Mittelfinger zu zeigen, ohne Angst zu haben, dass ein Teil ihres Einkommens wegbricht.

Nun haben wir nur über wenige Menschen eine derartige Macht. Mir kann niemand sagen, dass ich lächeln soll. Vergliche man meinen Job als Journalist mit dem eines Kellners, dann wäre der Service das leere Dokument, in dem ich diesen Text schreibe. Ich gebe mir Mühe, damit der Text toll wird. Der Kellner gibt sich genauso viel Mühe, einen Gast zufrieden zu stellen. Aber gibt der Kellner mir Trinkgeld? Nein. Und das ist auch OK so. Dennoch: Hier ist mein Paypal: paypal.me/robocopmagic

Ihr werdet mir natürlich kein Geld überweisen, warum solltet ihr? Und selbst wenn ihr es tun würdet, würde ich nicht eure Wünsche erfüllen. Ich lasse mir doch von niemandem sagen, wie und was ich schreiben oder dass ich lächeln soll, außer von meinem Chef, liebe Grüße.

Denn das ist ja die nächste Frage: Warum geben wir dem Kellner so selbstverständlich Trinkgeld, den meisten anderen Menschen, die uns Gutes tun aber nicht? Wer hat schon mal die mindestentlohnte Bedienung an der Kinokasse gönnerhaft “den Rest” behalten lassen? Oder der Tankstellenverkäuferin zehn Prozent draufgeschlagen, dem Ordnungsdienstmitarbeiter, der den Fahrradweg vom parkenden Auto befreit hat, zwei Euro in die Hand gedrückt, oder auch nur dem Dönermann? 

Es gibt Jobs, da ist es selbstverständlich, dass wir Trinkgeld geben. Zumindest moralisch geboten. Wir alle wissen, wie schlecht so eine Lieferando-Fahrerin bezahlt wird oder ein Gorillas-Bote. Wer da nicht ein paar Euro mitgibt, wäre doch eigentlich ein verkommener Hund, wenn Hunde nicht so süß wären. 

Wie unfair ist Trinkgeld?

Dass manche Leute Trinkgeld kriegen ist eine Sache. Dass manche Leute Trinkgeld brauchen, eine andere. Die Tradition des Trinkgeld-Gebens zeigt eine tiefe Ungleichheit in unserer Gesellschaft. Die Idee des Trinkgelds ist an sich neoliberal und menschenfeindlich.

Das Trinkgeld verschafft nämlich den Lieferboten und sicher auch vielen Menschen in der Gastronomie erst einen Lohn, von dem sie leben können. Sie kriegen es bar auf die Hand, schön steuerfrei. Trinkgeld rettet so manche Existenz. Und das ist das eigentliche Problem.

Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass Menschen Jobs machen, von denen sie erst dann ihr Essen, ihre Wohnung und “den Rest” bezahlen können, wenn andere Menschen dafür extra bezahlen?

Ich sehe es nicht mehr ein, Trinkgeld zu geben. Denn ich bin nicht dafür zuständig, die geizigen Verfehlungen gieriger Unternehmen zu kompensieren, sie sogar zu ermöglichen, indem ich ihr Spiel mitspiele. Würden die ihre Angestellten – oder besser: freischaffende Dienstleister – ordentlich bezahlen, dann müsste niemand mehr Trinkgeld geben. Es kann doch nicht sein, dass manche Wirtschaftsleistungen für Unternehmen nur deshalb profitabel sind, weil wir sie mit unserem Trinkgeld subventionieren.

Wofür gibt es denn einen Mindestlohn? Wieso ist ein Mindestlohn nicht genug zum Leben? Es ist schlicht nicht die Aufgabe von Einzelpersonen, andere Individuen für ihre Arbeit zu entlohnen. Wir sind nicht die Arbeitgeber dieser Menschen und uns dazu zu machen, verschiebt nicht nur das Machtgefüge sondern auch die Verantwortung.

Es ist eine zutiefst neoliberale Forderung, dass wir als Einzelne Verantwortung für gesamtgesellschaftliche Prozesse übernehmen sollen.  So werden wir den Klimawandel durch den Verzicht auf Einweg-Becher nicht aufhalten, solange über uns abertausende Leerflüge umher düsen. Und ebensowenig ändern wir etwas an der Unterbezahlung unzähliger Menschen, wenn wir zehn Prozent extra zahlen, während Arbeitgeber die Löhne drücken.

Ich will mich nicht schlecht fühlen

Natürlich gebe ich Trinkgeld. Kellner, Tresenkräfte, Lieferdienste: Ich schaue, dass ich stets ein paar glänzende Münzen habe, um sie Menschen zu geben, die sonst kaum von ihrer Arbeit leben könnten. Aber ich hasse das schlechte Gewissen, wenn ich dann doch mal kein Kleingeld habe. Und auch das kann nicht sein. 

Ich sollte mich nicht schlecht fühlen müssen, wenn ein Mensch meinetwegen einen Verdienstausfall hat. Es ist nicht meine Aufgabe, das Auskommen dieser Menschen sicherzustellen. Gorillas, Flink, Lieferando und das kleine Schmuddel-Café um die Ecke sollen ihre Mitarbeitenden ordentlich bezahlen, nicht ich. 

Wenn mein Bier in der Kneipe dadurch teurer wird, dann ist das halt so. Dann zahlen wir alle ein paar Cent mehr für unsere matschigen Lieferpizzen und die Einkäufe, die uns abgehetzte Fahrradfahrer innerhalb von zehn Minuten an die Wohnungstür bringen. Das ist fairer als wenn diese Boten jedes Mal hoffen müssen, dass kein Arsch die Tür öffnet, der nicht einsieht, jetzt auch noch Trinkgeld zu geben. 

Das Konzept des Trinkgelds ist unsozial. Es verschiebt die Verantwortung für soziale Gerechtigkeit von Politik und Gesellschaft aufs Individuum und ermöglicht Arbeitsverhältnisse, die auf Ausbeutung basieren. Lasst es uns bitte abschaffen. Und bis dahin trotzdem weiter Trinkgeld geben.

Wenn ihr Robert in der Bar trefft, gebt ihm gern ein Bier aus. Oder trefft ihn halt auf ​​Twitter und Instagram und VICE auf Facebook, Instagram, YouTube und Snapchat.