Manchmal wünsche ich mir, alleine vor der Bühne zu stehen. Ich weiß, Konzerte bestehen per Definition aus der Begegnung von Musikern und Zuschauern und nicht zuletzt deren Reaktionen, das Mitsingen, Hüpfen, Laola-Wellen-Machen und Applaudieren, können eine Show ausmachen. Wenn aber der bierbauchige Vollpfosten im Toten-Hosen-Shirt neben mir dreieinhalb Töne daneben mitgrölt und mir dabei jeden zweiten Takt auf den Fuss steigt, dann erwacht die Misanthropie in mir.
Noch schlimmer und noch unausweichlicher: Gruppen. Die besoffene Hälfte vom Fussballclub Hintertupfigen zum Beispiel, die die Rockshow mit der Dorfchilbi verwechselt oder die Horde Teennies, die den Hauptzweck einer Show darin sehen, ihr Smartphone zuerst zweieinhalb Minuten Richtung Bühne und dann auf sich selbst zu richten, um danach siebeneinhalb Minuten über den passenden Shot für Instagram zu debattieren.
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Was weder die Instagram-Teenies, noch die Dorfchilbi-Rocker wissen: Konzerte sind am besten, wenn du alleine hingehst. Dass du allen anderen dann weniger auf den Sack gehst (falls du dich richtig verhältst), ist nur einer von vielen Gründen:
Du kommst rechtzeitig zur Show
Ich bin an sich kein pünktlicher Mensch. Ich komme zu spät zu Meetings, zur Arbeit, zu meiner Freundin und auch diesen Text hätte ich schon vor ein paar Tagen schreiben sollen. Wohin ich aber immer, wirklich immer rechtzeitig komme, sind Shows. Sofern ich alleine bin natürlich, denn sonst kann man das gleich vergessen. Zuerst muss der eine Zigaretten kaufen, dann der Andere zum Geldautomaten. Irgendwer muss sicher noch einen wichtigen Brief einwerfen und weil der Burgerking ja gleich neben dem Club liegt, gibt es vorher noch einen Long Chili Cheese.
“Stress nicht so”, meinen sie, “wir kommen schon rechtzeitig.” Und meinen damit: zur Show des Headliners. Doch rechtzeitig heißt: zur ersten Band. Weil auch die Zuschauer verdient hat. Weil da vielleicht gerade ein neuer Stern am Rockhimmel erstrahlt. Weil du, falls doch Reinfall, einfach nach draussen eine rauchen gehen kannst. Und weil auch die beste Band dein Befindlichkeitsbarometer nicht gleich in die Euphoriezone wuchten kann, wenn du vor drei Minuten (mit vielleicht gerade einmal einem Vorglühbier intus) aus dem Bus gestiegen bist. Die Vorband ist auf deinen Goodwill angewiesen, aber deine Stimmung auch auf sie.
Keiner stört dich, wenn du das Konzert schauen willst
Ich gehe an Konzerte der Konzerte wegen, will also Musik hören und Musiker beziehungsweise eine Show sehen. Vielen mag es anders gehen, mir nicht. Dabei bin ich gar kein hornbebrillter Frickelfreak mit einem Plattenspieler im Wert eines Kleinwagens. Ich will mich in Mosh-Raserei steigern, kontemplativ headbangen oder mich einfach im Soundstrom treiben lassen. Könnte ich das auch erreichen, wenn ich meine Freunde vorher nett darum bitten würde, mich in der nächsten Stunde in Ruhe zu lassen? Nein, kann ich nicht.
Und zwar nicht nur, weil sich die anderen nicht daran halten würden, sondern weil ich mich nicht daran halten würde (und du dich wahrscheinlich auch nicht). Weil wir nicht der Versuchung widerstehen können, nach dem zweiten Song – Nerds wie wir halt sind – anzumerken, dass sie den Song auf der letzten Tour als Zugabe gespielt haben. Weil wir nicht der Versuchung widerstehen könnten, uns über die zu leise abgemischte Gitarre aufzuregen. Weil wir auch bei Schweigen immer wieder zur Freundin oder dem Kumpel, mit dem es heute vielleicht klappen könnte, schauen würden, um zu sehen, ob es ihr oder ihm gefällt oder eben nicht.
Du musst dich nicht um den Durst anderer kümmern
In Bars oder auch bei kleineren Gigs eigentlich halb so wild, ist die Sitte des Rundenzahlens bei vollgepackten Shows ein gesellschaftlich zementiertes Übel. Klar, auch alleine kriegst du Durst und musst dich einer der mitunter schwierigsten Entscheidungen eines Konzertabends stellen: Gibst du deiner trockenen Kehle (und der Verheissung auf Rausch) nach oder deinen hart erkämpften Platz ein paar Meter vor dem Mischpult (der Tontechniker mischt nach seinem Gehör, also stellt man sich möglichst nahe zu seinen Ohren) auf?
In einer Gruppe unterwegs zu sein scheint zuerst nach einem Vorteil: Jemand anderes übernimmt vielleicht die Arschkarte und zwängt sich durch den beim Nach-hinten-Gehen noch verständnisvoll Platz machenden, sich auf dem Retourweg aber demonstrativ verhärtenden Wald aus Menschen. Nur kommt dann eben die Krux des Rundenzahlens: Irgendwann erwischt es auch dich und wenn die vier Becher Bier in deinen Händen auch durch eine Mischung aus Verständnis und vorsorglichem In-Sicherheit-Bringen etwas zurückschrecken lassen: Jeder, an dem du gerade vorbeischrammst, hasst dich in diesem Moment.
Du musst dich überhaupt nicht um andere kümmern (oder darum, was sie denken)
Alleine aber kannst du der vereinten Wut der Konzertbürger einfach ausweichen. Du musst dich nicht mehr nach vorne kämpfen, sondern kannst dich, wenn dir danach ist, gemütlich an die Bar lehnen und die Show von dort aus geniessen. Du kannst nach draussen eine rauchen gehen. Du kannst beim Merch-Stand vorbeischlendern und zu viele T-Shirts kaufen oder mit all den Leuten Smalltalk machen, mit denen du das machen willst (beziehungsweise glaubst tun zu müssen oder zumindest besser tun würdest, der Connections wegen).
Mit deinen Freunden geht das alles auch, keine Frage. Doch entweder müsst ihr zuerst darüber diskutieren oder, falls du gerade eine rauchen gegangen bist, übermannt zwei Minuten später sicher einen Anderen das gleiche Bedürfnis. Oder es kommt ganz blöde, wie letztens einem Kumpel von mir, der nur schnell seine Jacke hatte holen wollen. Als er zurückkam, waren die Anderen wie vom Erdboden verschwunden. “Wir dachten, du seist mit den Anderen im Auto”, sagten die einen. “Wir dachten, du seist mit dem Taxi gefahren”, sagten die Anderen und das bringt uns zum nächsten Punkt dieser kleinen Aufzählung:
Du kannst gehen, wann du willst
Mit dem Gehen verhält es sich wie mit dem Kommen – nur noch komplizierter, weil einfach alles möglich ist. Ich gebe mir normalerweise die volle Ladung, heisst: Ich warte bis der letzte Akkord verklungen, das Saallicht angestellt ist und mich entweder eine picklige Hilfskraft mit ihrem Besen oder ein brummelnder Sicherheitsangestellter mit seiner behandschuhten Hand gen Ausgang verweist.
Ein sinnvoller Moment zum Gehen – doch was ist, wenn der letzte Zug schon vorher fährt? Oder sich der designated driver zu früh eingesteht, dass das alles ohne Bier nur halb so viel Spass macht und der Verheissung vom Gute-Nacht-Joint Zuhause nicht widerstehen kann? Lässt du die Anderen warten, bist du ein egoistisches Arschloch. Gehst du nicht mit und entschließt dich zum Durchmachen, sitzt du im wahrscheinlichsten Fall irgendwann mitten in der Nacht mit deiner Müdigkeit als einzige Gesellschaft auf einer Bahnhofsbank und erreichst dank der Kälte viel zu schnell wieder die Nüchternheit.
Darüber hinaus gibt es aber auch noch den umgekehrten Fall, jener, in welchem dich deine Freunde davon abhalten, endlich wieder einmal ein paar Stunden geruhsamen Schlaf zu erhaschen, weil sie den Headliner geiler finden als du, der du vor allem wegen dem zweiten Support Act gekommen bist. Und so betrinkst du dich halt und wartest und wartest und lässt das langweilige Stadion-Gedöns über dich ergehen, weil du selber ja kein Spielverderber sein willst. Weil du deine Freunde eben gerade nicht durch deine Anwesenheit bei ihrer Lärmerfahrung einschränken willst.
Danken tut dir das dann aber niemand. Weil du dann, endlich im VW-Bus auf dem Heimweg, auf der hintersten Bank einpennst, dir das mitgenommene, vierzehnte und letzte Bier aus der Hand rutscht und eine wunderschöne Spur bis ganz nach vorne zum Beifahrersitz zieht.
Daniel Kissling steht immer etwas rechts der Bühne in Nähe der Bar. Und ist auf Twitter.
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