Warum ich im Zeitalter der Videospiele immer noch ‚Dungeons & Dragons’ liebe

Eine der wöchentlichen Spielsitzungen des Autors. Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung des Autors

„Magst du die Gesinnung eines Mannes lesen, siehe ihm beim Spiel zu; dabei wirst du in einer Stunde mehr über ihn lernen denn in sieben Jahren der Konversation, und kleine Wetten werden ihn ebenso prüfen wie hohe Einsätze, denn dann ist er nicht achtsam.”

Letter of Advice to a Young Gentleman Leaving the University Concerning His Behaviour and Conversation in the World, Richard Lindgard

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„Dungeons & Dragons is some of the most crazy, deep, deep, deep nerd shit ever invented.”

-Ice T

Dungeons & Dragons zu spielen, nachdem du dich durch die hochglänzende, schultergepolsterte Welt der Normalo-Einstiegsdrogen gespielt hast—Warcraft, Skyrim, Diablo, Baldur’s Gate, oder welches Blockbuster-Ding mit Trefferpunkten und Konstitutionswerten dich nun davon abhält, das Tageslicht zu sehen—ist, als würdest du nach Jahren des Religionsunterrichts mal die Offenbarungen des Johannes aufschlagen. Im Gegensatz zu den heutigen digitalen Rollenspielen, aka RPGs, wurde D&D nicht entworfen, um zugänglich oder (und das fanden Kinderpsychologen besonders bedauerlich) bedeutungsvoll zu sein, denn im Grunde wurde es gar nicht entworfen. Wie bei jeder richtigen Kunst bestand das Zielpublikum der ersten D&D-Regelwerke aus den Menschen, die sie auch verfasst hatten.

Als sich Dave Arneson und Gary Gygax 1974 D&D ausdachten, sah der Grundgedanke so aus, dass es ein loses Regelwerk dafür geben sollte, wie man so tun kann, als würde man im Fake-Mittelalter Leute töten, und alles, was nicht in den offiziellen Regeln stand, würde man sich einfach ausdenken können. Theoretisch könnte so einfach alles passieren. Diese Art von sandbox-mäßiger Freiheit machte D&D für alle Spieler zu einem völlig individuellen Erlebnis. Es war angepasst genug an eine bestimmte kulturelle Nische, um zu überleben, ohne von einer der anderen Pop-Fantasy-Visionen verschluckt zu werden, die D&D im Laufe der folgenden Jahrzehnte inspirieren würde. Es ist Game of Thrones, aber es ist auch Adventure Time—und alles dazwischen. Abgesehen von Versuchen, den unbewussten Sexismus und Rassismus der 1970er-Studenten-Nerd-Wurzeln abzutragen, besitzt das aktuelle Spiel noch das meiste seiner Exzentrizität—und nicht etwa trotz deren Kontrast zu dem, was die Leute 2015 von einem Fantasy-Spiel erwarten, sondern gerade deswegen.

Die Christen hatten recht. D&D ist—selbst in einer Welt, in der es Grand Theft Auto, Spice, den IS, globale Erwärmung und Donald Trump gibt—absolut abgefuckt. Es ist ein Spiel mit schwebenden, sprechenden Augen, die dich auflösen wollen, Stats für den Teufel und den Buddha, einem dreiköpfigen Gott, der einen Beutel aus Pantherleder trägt und einen magischen Ziegel wirft, der zwischen 5 und 50 Punkte Schaden verursacht, Zauberzähnen, der Möglichkeit, im Todesfall als teleportierender Hund oder Dachs zu spielen, Planeten, die nicht rund sind, und psionischen Priestervampir-Mantarochen.

Aber abgesehen von all dem sind die Gründe, weshalb es sich lohnt, D&D zu spielen, die Leute, mit denen du es spielst. Im Gegensatz zu Online-RPGs, in denen die Spieler durch ihre Bildschirme und Headsets interagieren, setzt du dich zu einer Runde Dungeons & Dragons mit deinen Leuten zusammen. Im selben Zimmer. Mit Snacks. Ohne dass der Rest der Kneipe zusieht. Es gibt eine Geschichte über drei Hexen und einen Maulesel, die ihr nicht nur alle mitangesehen sondern zusammen erfunden habt, und dann hat die Hexe dich mit einem Erdnussflip beworfen und deinen Whiskey getrunken.

Du lernst während dieser Spiele auch etwas über deine Freunde und Freundinnen. Wer sind diese Menschen, wenn die Einsätze niedrig und die Wetten klein sind und niemand cool ist? Pokerabende erlauben es dir, einen Blick in die Geldbeutel deiner Freunde zu werfen, doch D&D lässt dich in ihre Köpfe sehen. Patton Oswalt hat einen betrunkenen Zwerg gespielt, Marilyn Manson sagt, er sei ein Dunkelelf gewesen, unsere internationale Expertin für Furchtbares, Molly Crabapple, spielte eine Diebin—und hättest du geglaubt, dass unsere Porno-Korrespondentin Stoya einen Druiden mit einem Hund namens George spielt? Man sollte immer wissen, ob man gerade Hippies im Haus hat.

Das Spiel soll die Leute widerspiegeln, die es spielen. D&D entsprang aus der amateur-gedruckten Welt der Konfliktsimulation und erreichte seinen Höhepunkt Mitte der 1980er, als Zines Heftklammern hatten, Metallica nicht scheiße war und Computer die Welt noch nicht ganz verschlungen hatten—und selbst heute schuldet es eine Menge dem Handgemachten und dem Geist des DIY. Jede einzelne Regel in dem Spiel wurde schon Abertausende Male durchgestrichen und neu geschrieben, auf Abertausende verschiedene Arten, von Tausenden Toms und Lisas, für Tausende Spielrunden, die es so und nicht so machen wollten, und keiner von ihnen musste dazu programmieren lernen.

D&D gibt dir nicht nur einen Grund, echtes Zeug herzustellen, sondern auch einen Grund, warum andere Leute sich dafür interessieren sollten. Auf Conventions kannst du LED-beleuchtete Labyrinthe entdecken, die das Special-Effects-Team von Peter Jacksons Hobbit wie Amateure aussehen lassen, doch das Herz des Spiels sind Palasttürme aus Kaffeedosen und mit Nagellack gemalte Schweinemänner und auf dem Wanderndes-Monster-Bogen „Winterwolf” durchstreichen und „Kampfschnecke” hinschreiben. Die nahegelegenste Entsprechung dazu ist die Kultur um die psychotisch-dekadente Ära der Hausfrauenzeitschriften der Post-1950er, die dir beibrachten, wie du Heringssalat in Iglu-Form am Rand eines Sees aus blauem Wackelpeter zubereitest oder so. Und aus guten Grund: Diese weit von einander entfernten Szenen drehen sich beide im Grunde um die vergängliche Kunst des Party-Schmeißens. Das achtstöckige Rosinen-Ananas-Kompott-Karussell und die aus Schaumkern gefertigte Totenschädelfestung der Hasskröte werden beide in 40 Minuten dezimiert sein, aber jetzt im Moment macht es Spaß und jetzt im Moment ist es seltsam, und das ist der Definition nach eine Party. Und wenn das Ding hinüber ist, verbringst du eine Woche damit, die nächste zu planen.

„Seltsam” war immer der Schlüssel zu D&Ds andauerndem Überleben. So gesehen sollte es kein bisschen anders aussehen und sich auch nicht anders anfühlen als die mechanisierten Ork-Tötungs-Spiele, die du für deinen PC, deine PlayStation oder deine Xbox kaufen kannst, oder als die effektbeladenen Blockbuster, von denen es immer mehr gibt, seit Hollywood dahintergekommen ist, wie man Rüstungen und Tentakel auf der Leinwand richtig aussehen lässt—doch dem ist nicht so. Dave Arneson, Gary Gygax und andere Gestalter der frühen RPG-Szene hatten Tolkien und Howards Conan-Romane gelesen, doch ihr Fandom war unglaublich tiefsinnig und literarisch—sie ließen den witzelnden und seltsam erwachsenen Ton von Fritz Leibers mittelalterlicher Noir-Fantasy, den anti-mythischen experimentellen Charakter von Clark Ashton Smith, und die morallose Wortspielwelt der Kuriositäten von Jack Vance einfließen—Letzterer war der Nabokov der Fantasy-Groschenliteratur, der Zauberspruchnamen wie „Oitlukes Frostsphäre” und „Leomunds Winzige Hütte” inspiriert hat.

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Das Seltsame an D&D ist immer das Seltsame von Menschen, die völlig spontan etwas erfinden müssen. Es ist die Art von überdrehtem Seltsam, die um 3 Uhr morgens hervorsprudelt und die Videospielentwickler zurückschrauben müssen, um mit der Handlung am Ball zu bleiben oder ein Publikum anzulocken, das groß genug ist, um ihr Budget zu rechtfertigen. Es ist die Art von Seltsam, die genau so interessant ist wie die Menschen, die gerade spielen, und je später es wird, desto seltsamer wird alles. Es ist eine Manifestation der kollektiven Fantasie der Spieler und dem liegt eine Formel zugrunde, die—trotz der unglaublichen Fortschritte in Grafik und Gameplay—auf dem Schirm einfach nicht kopiert werden kann.

Zak Smith ist ein Künstler und gelegentlicher Pornodarsteller, dessen Gemälde in vielen großen öffentlichen und privaten Sammlungen erschienen sind, darunter das MoMA und Whitney Museum of American Art. Er lebt und arbeitet in Los Angeles, wo er eine Dungeons & Dragons-Kampagne für eine Gruppe von Freundinnen betreibt, die hauptsächlich aus Pornodarstellerinnen und Stripperinnen besteht. Er ist außerdem der Autor von zwei mit mehreren Preisen ausgezeichneten Ergänzungen für Tabletop-RPGS, Vornheim und A Red & Pleasant Land, und hat bei der neuesten Edition von D&D als Berater agiert.