Gegen Polizisten, die eine Straftat begangen haben, ermitteln hierzulande Kollegen. In Deutschland ist es nicht anders. Selbst die UN kritisieren Deutschland dafür. Doch die Polizei sträubt sich gegen Änderungen. Wir haben uns die Situation in Deutschland genauer angeschaut.
Wenn Polizisten beleidigen, drohen und schlagen, werden sie so gut wie nie bestraft. Oft kommt es gar nicht erst zur Anzeige, und wenn doch, dann erhebt die Justiz nur selten Anklage. Gegen etwa 4.500 Polizisten ermittelten die Behörden im Jahr 2013 wegen Straftaten im Amt. Weniger als jeder siebte Verdächtigte wird überhaupt angeklagt. Und fast alle kommen ohne Strafe davon.
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Die Bilder aus dem Internet machen fassungslos. Wir sehen Polizisten, die einen Mann während einer Verkehrskontrolle verprügeln wollen. Mitten in Herford. Und einen zerschossenen Wagen in Köln. Ein vermeintlicher Geschäftsmann soll dort laut Polizisten das Feuer eröffnet haben. Ein Video belegt später: Das Sondereinsatzkommando schießt zuerst—mehr als einhundert Kugeln werden auf den Mann gefeuert. Der überlebt nur knapp. In Gelsenkirchen schlagen Polizisten am vergangenen Silvesterabend einen Mann tot, Anwohner beobachten sie. Das Verfahren wird Anfang Juni eingestellt. Notwehr.
In allen drei beschriebenen Fällen sind die Polizisten zwar angezeigt worden, doch vor Gericht haben sie Medienberichten zufolge das Verfahren verzögert, sie haben gelogen und sich gegenseitig geschützt. Einige Bundesländer haben bei der Polizei eigene Dezernate für interne Ermittlungen eingerichtet, die Verbrechen der Kollegen aufdecken sollen. Dort ermitteln dann Polizisten gegen Polizisten—ein Interessenkonflikt. Opferverbände wie „Victim Veto” kritisieren das. Ihr Sprecher Martin Rätzke sagt: „Ermittlungen in den eigenen Reihen sind eine Farce.”
Auf 4500 Ermittlungen kommen 50 Gerichtsverfahren
Polizeiverbrechen, die sich öffentlich verfolgen lassen, werden in den Kategorien Mord, Körperverletzung und Amtsmissbrauch gezählt. Das Statistische Bundesamt wertet die einzigen vergleichbaren Statistiken zur Polizeigewalt aus. Im Jahr 2013 zählten die Statistiker 21 Verfahren gegen Polizisten wegen Mord, und jeweils mehr als 2.000 Verfahren wegen Körperverletzung und Nötigung. Von den 21 wegn Mordes verfolgten Polizisten klagten die Behörden nur einen einzigen Beamten an. Alle anderen kamen ohne Prozess davon.
Auch Polizisten, gegen die wegen Gewalt ein Verfahren eingeleitet wurde, sind so gut wie nie angeklagt worden. Rund 90 Prozent der 2000 Polizisten, gegen die wegen Gewaltverbrechen ermittelt wurde, kamen ohne jegliche Folgen davon. Vor einem Richter landeten sogar nur 31 Gewalttaten. Bei Nötigung und Amtsmissbrauch durch Polizisten sieht es nicht anders aus aus. Bei ähnlich vielen Verfahren landeten nur 16 vor Gericht. Einige Beamte zahlten Geldstrafen.
Zum Vergleich: Im Jahr 2013 gab es 21.618 Anzeigen von Widerstand gegen die Staatsgewalt, die in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) gezählt worden sind. Für das selbe Jahr weißt die Strafverfolgungsstatistik 4928 Verurteilungen von Widerständigen aus, also von Menschen, die sich Polizisten bei Demonstrationen, aber auch bei Polizeikontrollen im Alltag widersetzt haben.
In anderen Ländern wie Großbritannien funktionieren Ermittlungen gegen Polizisten anders: Sie sind ausgelagert und unabhängig. „Es ist nicht nachvollziehbar, dass es in Deutschland solche Stellen nicht gibt”, sagt Alexander Bosch, Sprecher von Amnesty Deutschland mit dem Schwerpunkt Polizei. Er bezeichnet das Fehlen unabhängiger Ermittlungsstellen als menschenrechtliches Defizit und rechtsstaatliches Problem.
Hinzu kommt die undurchsichtige Datenlage. Amnesty-Sprecher Bosch und Victim-Veto-Vertreter Rätzke sagen, es sei mühsam, sich Daten zusammenzusuchen. Die Daten, die es gibt, ließen keine Rückschlüsse auf das riesige Dunkelfeld von Polizeiverbrechen zu und seien nicht aussagekräftig. Bei eingestellten Verfahren gebe es eine Deutungshoheit der Behörden. „Zwar sind viele Einsätze gerechtfertigt, doch die Polizisten schießen oft weit über das Ziel hinaus”, sagt Opfervertreter Rätzke. „Ermittlungen der Staatsanwaltschaften müssen daher anonymisiert offengelegt werden.”
Die Polizei polarisiert. Die einen sehen in ihnen die Hüter von Recht und Ordnung, die anderen die Vertreter einer ungerechten Politik. Bei Demonstrationen knallt es oft, immer wieder gibt es auch Berichte über Streifenpolizisten, die zu Straftätern werden. Sicher ist: Polizisten machen einen wichtigen Job, viele müssen täglich in professionellem Rahmen Gewalt anwenden. Wahrscheinlich ist aber auch: Viele Polizisten schlagen zu hart zurück, manche schlagen zuerst. Es fehlt an Kontrolle.
Die deutschen Justiz- und Innenministerien schweigen lieber
CORRECT!V hat alle Justiz- und Innenministerien der deutschen Bundesländer gefragt, wie viele Anzeigen, Verfahren und Verurteilungen von Polizisten es in den vergangenen Jahren für welche Verbrechen gab. Die meisten Länder geben über die bundesweit gesammelten Zahlen hinaus allerdings keine weiteren Informationen heraus. Nur Berlin und Hamburg legen detaillierte Auswertungen vor, die später in den drei Kategorien Mord, Gewalt und Amtsmissbrauch gezählt werden. In den detaillierten Auswertungen finden sich so auch Sachbeschädigungen oder Hausfriedensbruch. Die Berliner Polizei etwa zählte in 2013 insgesamt 1.359 Anzeigen gegen Polizisten.
Wenn Polizisten das Gesetz brechen, werden sie in den meisten Fällen nicht angezeigt. Den Opfern fehlt es entweder an ausreichendem Wissen—oder sie fürchten die Ausweglosigkeit ihrer Anzeige. Das schreibt der Wissenschaftler Tobias Singelnstein in seinem Aufsatz über „Körperverletzung im Amt”. Singelnstein ist Professor für Strafrecht an der FU Berlin, er forscht seit 2003 zu kriminellen Beamten und hat dazu mehrere Fachtexte veröffentlicht. Kommt es zur Anzeige, folgt oft eine Gegenanzeige der Polizisten, sagt Singelnstein. Bei Ermittlungen würden Polizisten eine „Mauer des Schweigens” errichten, Aussagen verweigern und sich gegenseitig decken.
Kritik kommt auch aus den eigenen Reihen. Rafael Behr ist Professor an der Polizeiakademie in Hamburg und bildet dort Polizisten aus. „Es gilt das Prinzip: Nichts verlässt den Funkwagen—weder nach oben noch an die Öffentlichkeit.” Unbedingte Solidarität unter Polizisten sei das Schmiermittel einer funktionierenden Polizeikameradschaft. „Jeder Polizist kommt einmal in die Situation, Gründe für Anzeigen zu liefern. Dann gilt das Gesetz: Wir halten zusammen.” Behr glaubt, dass nachrückende Polizisten mit höheren Bildungsabschlüssen und aus unterschiedlichen sozialen Hintergründen diesen Kodex in Zukunft aufbrechen könnten. „Die Polizei wird heterogener. So kann Zivilcourage entstehen.”
Amnesty fordert Spezialermittler
Geht ein Verfahren gegen Polizisten doch einmal vor Gericht, dann sprechen Polizisten ihre Aussagen offenbar ab. Das schrieb Amnesty International schon 2010 in seinem Bericht „Täter unbekannt” über mangelnde Aufklärung von Polizeiverbrechen. „Amnesty International empfiehlt allen Ländern, für die strafrechtliche Verfolgung von Anzeigen gegen Polizeibeamte bei der Staatsanwaltschaft spezialisierte Dezernate einzurichten, die für die Ermittlungen gegen Polizisten zuständig sind.”
Deutschland wird auch vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen für seine Strafverfolgungsstrategie von Polizisten kritisiert. Der Rat empfahl 2013, Deutschland solle die Bevölkerung über ihre Rechte informieren und alle Vergehen durch Polizisten verfolgen. Dazu sollen umgehend unabhängige Behörden zur Strafverfolgung von Polizisten installiert werden, „ohne hierarchische oder institutionelle Verbindung zwischen Beschuldigtem und Ermittler”. Der Menschenrechtskommissar Thomas Hammarberg forderte schon 2009 auf fast 20 Seiten diese unabhängigen Ermittler.
Deutschland schreibt in seiner Antwort an die Vereinten Nationen, dass Polizeigewalt in Zukunft besser dokumentiert werden solle. Kameraüberwachung und Kennzeichnung der Beamten seien Indikatoren einer besseren Strafverfolgung von Polizisten. Offen bleibt, wie mit dem Kernproblem der sich gegenseitig schützenden Beamten umgegangen werden soll. Und wenn Kameras am Körper der Polizisten eingesetzt werden, stellt sich die Frage, wer Zugriff auf die Aufzeichnungen hat und wie verlässlich diese—im Original—schließlich auch herausgegeben werden.
Die Gewerkschaften reden das Thema klein/spielen die Probleme lieber runter
Die Polizeigewerkschaften halten interne Ermittlungsstellen für ausreichend. „Wir haben längst unabhängige Ermittler—die heißen bei uns Staatsanwälte”, sagt Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. Die deutsche Polizei genieße bei den Bürgern das größte Vertrauen im europäischen Vergleich, sagt Wendt. Es gebe immer Interessen, die Polizei schlecht aussehen zu lassen. „Urteile werden aber im Gerichtssaal gesprochen und nicht in Talk-Shows.” Wendt versteht nicht, warum man mit den Zahlen transparenter umgehen sollte. „Die Zahlen zeigen doch schon, wie wenig Vergehen von Polizisten es gibt.” Sein Kollege Oliver Malchow von der Gewerkschaft der Polizei sieht ebenfalls keine Probleme. „Es gibt ein unabhängiges, gutes System mit Gerichten, und es gibt ja die vierte Gewalt. Es gibt keinen Befund, dass das System nicht funktioniert.”
Rafael Behr von der Polizeiakademie beklagt, dass Polizisten oft gleichzeitig Akteure und Betroffene seien. „Polizisten sollen neutrale Anzeigen schreiben, nachdem sie etwa bespuckt worden sind.” Das sei oft extrem schwierig. „Die Kollegen müssen geschützt und entlastet werden—durch neutrale Ermittlungsstellen.” Polizeiforscher Tobias Singelnstein hält interne Dezernate ebenfalls für nicht ausreichend: „Ein Schritt in die richtige Richtung, aber immer noch ermitteln Polizisten gegen Polizisten.” So lange dies der Fall ist, bleibt der Interessenkonflikt bestehen.
Dieser Artikel ist entstanden in Zusammenarbeit mit CORRECT!V, dem ersten gemeinnützigen Recherchezentrum im deutschsprachigen Raum. CORRECT!V finanziert seine Recherchen aus Zuwendungen von Stiftungen und Bürgern. Hier kannst Du CORRECT!V unterstützen.
Infos zu den Zahlen in diesem Artikel:
Das statistische Bundesamt veröffentlicht jedes Jahr, wie viele Ermittlungen es gegen Polizisten gibt und wie viele vor Gericht standen. Die höhere Zahl der Anzeigen gegen Polizisten gibt es in dieser Form leider nicht. In der Polizeilichen Kriminalstatistik werden Anzeigen leider nur für die gesamte Gruppe der Beamten ausgewertet, nicht für Polizisten allein.
Deshalb haben wir uns auf die gegen Polizisten aufgenommenen Verfahren bei Staatsanwaltschaften konzentriert. In der staatsanwaltlichen Statistik können wir auch ablesen, wie viele von den Verfahren zu Anklagen führten. Nicht ausgewertet wird dagegen, wie viele dieser Anklagen auch zu Verurteilungen führen.
Unklar bleibt bei diesen Zahlen auch, ob ein Polizist verbeamtet oder nur angestellt ist und ob er die Straftat im Dienst oder nach Feierabend begangen hat. Es kann sein, dass Polizisten bei Einsätzen in anderen Bundesländern in der dortigen Statistik auftauchen. Zwischen Tatzeitpunkt und Verurteilung können zudem Jahre liegen.