Popkultur

Warum Journalisten nicht ins Berghain gehen sollten

Wer als Journalist über das Berghain schreiben will, hat es schwer. Die Betreiber des Clubs geben keine Interviews, die Türsteher nehmen einem am Eingang Notizblock und Kamera weg, auf die Smartphone-Linse kommt ein Sticker. Das Berghain riegelt sich hermetisch gegen die Öffentlichkeit ab. Umso mehr wollen deutsche Redaktionen erfahren, wie es im Inneren wirklich zugeht.

Erst in dieser Woche erschien bei Neon ein Text, der den Leser mitnehmen soll in den bekanntesten Techno-Club der Welt. Mal wieder. Alle paar Monate erscheint so ein Insider-Bericht. Und jedes Mal beschleicht einen das Gefühl, das alles schon gelesen zu haben, irgendwie, irgendwo, irgendwann. Aber stimmt das?

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Um das zu belegen, haben wir ein gutes Dutzend Berghain-Reportagen einer streng wissenschaftlichen Analyse unterzogen. Die Bilanz ist erschreckend! Die Texte sind tatsächlich nahezu identisch. Sie alle beinhalten die gleichen fünf Bausteine – die offenbar zwingend zu einem Berghain-Text gehören.

1. Die religiöse Überhöhung

Im Sommer 2009 erscheint die erste große Berghain-Reportage im Spiegel . Tobias Rapp beschreibt das Berghain als Kirche. Die Gäste sind die Jünger einer Religion namens Exzess. Sie gehorchen ihrem Messias, dem DJ – und die Hostie wird in den Toiletten als Ecstasy-Pille gereicht.

Rapp stellte die erste, bis heute unumstößliche, Regel auf. Beziehungsweise das erste Gebot: Du sollst in einem Berghain-Text religiöse Überhöhungen verwenden.


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Journalisten suchen Bedeutung im Rausch. Die Besucher feiern mit “heiligem Ernst“, heißt es. Also schreiben Journalisten vom “Techno-Tempel”, von “Ayahuasca ohne Schamanen“, vom Berghain als “Unterwelt”. Der Höhepunkt, quasi das publizistische Osterfest, ist ein Text aus dem Stern aus dem Jahr 2012:

“Wie eine Gottheit steht der DJ am Pult. Eigentlich fehlt nur, dass er jetzt in einem Lichtkegel langsam zum Himmel entschweben würde. Aber dort oben wäre es ihm vermutlich zu hell. In Ben Klocks Musik gibt es kein Licht, keine Hoffnung, keine Leichtigkeit. […] Das Berghain. Der beste Club der Welt, sagen viele. Ein Tempel des Hedonismus auf drei Etagen. Sehnsuchtsort und Vorhölle . Synonym der Verderbtheit und düsteres Paradies .”

2. Der Architektur-Porno

Einige Journalisten sehen das Berghain nicht nur als Kirche im übertragenen Sinn, sondern buchstäblich. In der Tanzfläche mit den Steintresen, den Betonwänden und der 18 Meter hohen Decke erkennt einer eine Kathedrale, ein anderer sieht bunte Fensterscheiben, die Kirchenfenstern gleichen.

In einigen Reportagen geraten bei Beschreibungen Wirklichkeit und (Drogen-)Vorstellung durcheinander. So steht das Berghain etwa als “monumentaler Betonkasten erratisch in der Landschaft” – und im Inneren pulsieren “Ströme aus flüssigem Stahl”. Womit wir beim nächsten Punkt wären.

Wer als Journalist etwas auf sich hält, verwendet den Begriff “Klassizismus“. Wenn diese Techno-Kirche architektonisch dem Pariser Triumphbogen oder dem Pantheon in Rom ähnelt, schmatzt der Ressortleiter “Feuilleton” über seinen Tee-Biscuits.

3. Die Märchenwelt

Das Leben im Berghain folgt keiner Regel der Außenwelt. Berghain-Tage sind Tage außerhalb der Zeit, oder:
Zeit ist relativ.”
Zeit ist eine Illusion.”
“So vergehen die Tage und Nächte und das Gefühl für Zeit.”

Diese zeitlose Märchenwelt bewohnen seltsame Gestalten, vor allem Raubtiere und Vampire.

Die Berghain-Gäste sind Tiere, “denen man ihre Fleischbrocken vor der Nase weggezogen hat“. Ebenso entmenschlicht dargestellt wird die Lust auf Sex. Ein Journalist beschreibt die Flirts der Tänzer (ja, nur der Männer) als Fütterung. Die Alphatiere greifen zu und ziehen sich mit den Filetstücken in ihre Höhle zurück, die sie hier Darkroom nennen.

Die Vampire bevölkern die Panorama Bar und zischen und keifen, wenn die Jalousien an den großen Fenstern plötzlich aufgehen. Als fürchteten sie, “durch das hereinscheinende Tageslicht gleich zu Staub zu zerfallen”. Sogar der ehrenwerte New Yorker hat mal einen Journalisten nach Berlin geschickt. Zurück kam er mit dem Satz: “Berghain, the vampire night club to end all vampire night clubs.

Doch natürlich darf nicht jeder, der ins Berghain möchte, eine solche Verwandlung durchmachen. Am Tor zwischen unserer und der Märchenwelt wacht der Hüter.

4. Der Tätowierte vor der Tür

Zugegeben, Sven Marquardt ist eine faszinierende Erscheinung. Aber allein seinem Gesicht einen ganzen Absatz zu widmen, in dem die Piercings und Tattoos in fotografischer Detailversessenheit beschrieben werden? Das zeugt davon, wie Journalisten daran verzweifeln, dass die Berghain-Betreiber keine Interviews geben. Dass so wenig aus dem Inneren nach außen dringt. Einer fragt gar: “Ist das Berghain die Stasi der Clubwelt?”

Sven Marquardt, der Einzige, der regelmäßig mit der Presse spricht, wird zur Projektionsfläche. Besonders, wenn er darüber entscheidet, wen er die Schwelle zum Club passieren lässt: “Seine Tätowierungen, die sich bis zum Scheitel ranken, und zwei an Eberzähne erinnernde Lippen-Piercings verliehen diesem Mann aus Granit unterhinterfragbare Autorität.”

Der Türsteher macht seinen Job, die Autoren stilisieren ihn zur Sagengestalt – zu Cerberus, dem dreiköpfigen Hund, der in der griechischen Mythologie das Tor zur Unterwelt bewacht.

5. Die Musik, die mehr ist als Musik

Einmal drinnen, in der “Unterwelt” Berghain, meint ein Journalist, “die Hörner von Jericho” zu hören, und einen Bass, der “den Rubikon längst überschritten [hat], auf dem Weg von filigraner Musik hin zur erbarmungslosen Bestrafung”. OK. Fragezeichen.

Der große Musiker Frank Zappa sagte einmal, über Musik zu schreiben sei, als versuche man, zu Architektur zu tanzen. Diesen Satz, von Zappa als Mahnung gemeint, nehmen die Autoren als Herausforderung an. Denn natürlich läuft im Berghain nicht einfach nur Musik, nein. Wie eine “Sturmböe” fege einen die Funktion-One-Soundanlage weg und eine Journalistin warnt vor “elektronischem Eisregen“.

Vom musikalischen Wetterbericht ist es nicht mehr weit zur ultimativen Transferleistung. Techno durch Sprache simulieren: “Träge Zunge. Tote Hose. Synapsen-Dauerfeuer. Lahme Gangart. Ein Fall fürs Tierheim – zum Tanzen reicht es noch.” Super. Klasse. Tolltolltolltolltoll.

Ehrenwerte Erwähnung: Die kosmische Verstrahlung

Im August 2009 verbrachte eine Bild-Journalistin eine Nacht in der “Villa Kunterbums“. “Viele von denen nehmen doch Pillen oder anderes Party-Zeugs”, schrieb sie. Die Journalistin wird vom druffen Norman (“Lackierer aus Pritzwalk in Brandenburg”) dichtgelabert und rettet sich auf die Tanzfläche. “Erde an Raumschiff, beam me up!”, fordert sie.

Der Science-Fiction-Vergleich hat sich allerdings nie in der Berghain-Berichterstattung durchgesetzt. Es bleibt verschmerzbar.

Die Absurdität dieses Ortes hat derweil niemand so wunderbar beiläufig eingefangen wie Moritz von Uslar: “Da steht, ganz im Ernst, ein Junge, der in der Brusttasche seines Karohemdes eine Zahnbürste und eine Mohrrübe trägt.”

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