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Warum Markus Lanz sich trauen sollte, wieder Zuschauer ins Studio zu lassen

Markus Lanz der auch in Zukunft auf das Publikum in seiner Talkshow verzichten will, sitzt auf einem Sessel und spricht.

Am 30. April 2014 stand ich in Zürich im Komplex 457 in der ersten Reihe und musste sehr dringend pinkeln. Vor mir sangen Männer, deren Bands schon lange nicht mehr cool sind. Dessen waren sie sich bewusst, sie hatten schütteres Haar. Am 23. Februar 2017 spielten The Underground Youth im EXIL und ich hatte eine Mittelohrentzündung. Im selben Jahr war Lorde Headliner beim Openair St. Gallen und meine Begleitung – ein Typ, in den ich verliebt war – hatte sich so sehr das Hirn weg gekokst, dass ich’s nicht mehr war.

All diese Konzerte hatten das Potential absolut schrecklich zu werden. Und dann waren sie es nicht. Und das wahrscheinlich, weil neben mir Fremde auf meinen Arm schwitzten oder “Green Light” von Lorde mitgrölten oder mir Wasser anboten.

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Bei einem Konzert fühlt es sich an, als wären wir alle zusammen da. Das Publikum lässt mich alles um mich herum vergessen. Das Publikum bringt die Stimmung.

Wir warten seit über einem Jahr auf die Normalität. Wir warten darauf, wieder dicht and dicht in einer Konzerthalle zu stehen und verschwitzt unserer Lieblingsband zuzuhören. Wir warten darauf, wieder nebeneinander vor einem DJ zu tanzen oder ins Theater zu gehen. Wir warten darauf, wieder im Stadion mitfiebern zu können. Eigentlich warten wir darauf, wieder ein Publikum zu sein und nicht nur einzelne Zuschauer in ihren Wohnzimmern. Wir haben uns darauf geeinigt, dass das, was vor Corona Realität war, besser ist als ein Livestream. Markus Lanz aber scheint sich diese Normalität für seine Talkshow nicht zurückzuwünschen. Auch nach der Pandemie wolle er lieber auf ein Publikum verzichten, sagt er im Interview mit dem Journalist

Damit spricht er etwas an, woran wir nicht denken, wenn wir uns das Davor zurückwünschen. Corona kann uns, unsere Gesellschaft und unseren Alltag nachhaltig verändern. Corona hat zum Beispiel verändert, wie wir arbeiten. Eine klassische Woche mit fünf Tagen im Büro wird bei vielen wahrscheinlich kein Comeback feiern. Könnte es bei der Anwesenheit von Publikum bei Sendungen, Fußballspielen oder Konzerten ähnlich aussehen? Wird das Publikum bald so überflüssig wie Kreuzberger Großraumbüros mit Kaffeevollautomaten und Agenturhund? 


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Auf Instagram fand ein Comedy-Wettbewerb statt. Angehende Stand-up-Comedians gaben ihr Programm zum Besten mit Mikrofon in der Hand auf einer Bühne, aber ohne Publikum. Trotzdem pausierten sie für Lacher, die nie kamen. Wenn neben uns niemand sitzt, der uns mit Klatschen oder Lachen versichert, dass das jetzt ein Witz war, dann merken wir es vielleicht einfach nicht. Ich hinterlasse ein Like aus Mitleid. Das Publikum sagt mir, was ich fühlen soll – auch wenn ich selbst nicht in einem Studio anwesend bin, sondern nur von zu Hause aus zuschaue. Am politischen Aschermittwoch der CSU sprach Markus Söder aus einem im Studio aufgebauten Wohnzimmer zu den Zuschauerinnen und Zuschauern, und damit die auch wussten, wie sie es finden sollen, wurde eine Tonspur mit Applaus eingespielt.

Obwohl mit dem Verzicht auf das Publikum ein Bezugspunkt für die Menschen zu Hause verloren geht, sieht Lanz Vorteile darin: “Den populistischen Ausfallschritt für den schnellen Applaus traut sich heute kaum noch einer.” Die Stille im Studio habe die Sendung intensiver gemacht. 

Im Fußball sieht das ähnlich aus. Die Sportpsychologen Michael Leitner und Fabio Richlan von der Universität Salzburg haben in einer Studie zwanzig Spiele des FC Red Bull Salzburgs, die ohne Fans stattgefunden haben, mit denen der vorherigen Saison vor Publikum verglichen. Insgesamt wurden in den Geisterspielen 19,5 Prozent weniger emotionale Situationen beobachtet. Die Zahl der verbalen Auseinandersetzungen und Diskussionen ging zurück. Auch die Zahl der Tore unterscheid sich in den beiden Spielsaisons. Während der Geisterspiele wurden mehr Tore erzielt.

Wenn ich an Fußball denke, dann denke ich an meinen Vater, der an den Wochenenden von der Couch aus auf Italienisch den Schiedsrichter beschimpft. Fußball ist dramatisch. So dramatisch, dass ich mich manchmal frage, warum sich Fans nicht lächerlich vorkommen, wenn sie einen Sport so ernst nehmen. Doch wenn ich mich mal mit meinem Vater vor den Fernseher setze oder als ich bei der WM 2006 im Stadion in Kaiserslautern war (Italien gegen Australien, Achtelfinale), dann verstehe ich es. Das Publikum im Stadion bestätigt einen darin, dass ein emotionaler Ausbruch völlig gerechtfertigt ist. Mehr als die Teams ist Fußball dieses Gemeinschaftsgefühl.

Klar, ein Publikum ist auch eine unberechenbare Variable. Es beeinflusst die Gäste in einer Talkshow oder stachelt Fußballspieler dazu an, einen Streit anzufangen. Aber es erinnert auch daran, dass sich Mitfiebern lohnt. Nach über einem Jahr der Zurückhaltung und des Verzichts haben wir intensive Situationen einfach verdient. Nach Corona will ich, dass die Stimmung hochkocht im Stadion, in der Konzerthalle, im Fernsehstudio, positiv wie negativ. Ein Auftritt im Fernsehen, auf einer Bühne, im Stadion soll weniger durchgeplant und unberechenbarer sein.

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