Warum so viele Kinder scheinbar grundlos Angst vor dem Weihnachtsmann haben

Weihnachten sollte für (in einem christlichen Umfeld aufgewachsene) Kinder eigentlich die schönste Zeit im Jahr sein. Doch obwohl viele Eltern ihrem Nachwuchs erzählen, dass ihnen der Weihnachtsmann säckeweise Spielsachen mitbringt, haben Kinder häufig Angst vor dem alten Rauschebart und betrachten diese mystische Kreatur eher mit Argwohn als mit Vorfreude.

Als Kind waren meine Gefühle gegenüber dem Weihnachtsmann irgendwo zwischen „misstrauisch” und „zutiefst verängstigt” angesiedelt. Die Vorstellung, dass ein dicker, bärtiger, fremder Mann durch den Kamin unseres Hauses kommen würde, fand ich persönlich extrem verstörend. Einmal habe ich sogar darum gebeten, dass der Weihnachtsmann die Spielsachen doch bitte in der Garage abstellen sollte, damit sie meine Eltern zur Bescherung reinholen könnten. Mein Vater handelte dann allerdings mit mir aus, dass er den Weihnachtsmann durch die Haustür reinlassen und jeden seiner Schritte beaufsichtigen würde. (Damit war ich einverstanden und erlaubte meinem Vater sogar, dem Weihnachtsmann die Hand zu schütteln.)

Videos by VICE

Mehr lesen: Wie du deine Büro-Weihnachtsfeier überlebst

Laut Mercedes Samudio, einer klinischen Sozialarbeiterin, die auch als Erziehungscoach tätig ist, ist die Art von Verhalten ganz normal für kleine Kinder. Sie sagt: „In dem Alter, in dem viele Eltern ihren Kinder die Vorstellung vom Weihnachtsmann näher bringen, entwickeln Kinder einen Sinn für die Realität. Das bedeutet, dass sich die meisten Kinder zwar über die Aussicht freuen, dass jemand kommen wird, der ihnen ihre heiß ersehnten Spielsachen bringt, aber sie haben auch Angst—vor allem, da dieselbe Person die Fähigkeit zu haben scheint, sie zu beobachten und über sie zu urteilen.”

Samudio glaubt, dass Kinder die Vorstellung von einem allwissenden Wesen, das sie beurteilt, belastet. „Die mangelnde Kontrolle ist für Kinder nur schwer zu begreifen—inbesondere, weil Kinder noch kein Verständnis für abstrakte Konzepte wie Kontrollüberzeugung und den Unterschied zwischen Realität und Fantasie haben. Das kommt erst, wenn sie älter sind”, sagt sie, „und dann interessieren sich die meisten schon nicht mehr für den Weihnachtsmann.”

Selbst wenn Kinder dem Weihnachtsmann positiv gegenübertreten, können bestimmte Situationen dazu führen, dass sie panisch auf die bärtige Ikone reagieren. „Ich habe immer Kekse und Milch für ihn hingestellt, [aber] wenn es darum ging, ihn persönlich zu treffen, fand ich das ziemlich schlimm”, sagt die 25-jährige Jane, die früher ebenfalls kein Fan des Weihnachtsmanns war. „Ich denke, der Druck war einfach zu groß: die ganze Aufmerksamkeit von den Erwachsenen, dieses ständige Hohoho und Ooooh und alle machen Fotos. Ich denke, das war mir einfach zu viel. Ich war von Haus aus ein ziemlich schüchternes Kind und das war eine Situation, mit der ich einfach nicht umgehen konnte. Ich fing an zu weinen, klammerte mich an meinen Vater und vergrub mich in seinen Schal. Davon haben wir ziemlich viele Fotos!”

„Hey, na?” | Foto: imago | Michael Schick

Das Internet steckt voller Fotostrecken von Kindern, die während ihrem Besuch bei Weihnachtsmann Heulkrämpfe erlitten haben. Samudio denkt, dass Eltern oft unterschätzen, was für eine Angst Kinder schon in jungen Jahren vor Weihnachten entwickeln können. „Die Feiertage sind mit Stress verbunden, weil die meisten Familien versuchen, allen Anforderungen gerecht zu werden: Sie wollen Zeit mit der Familie verbringen, Geschenke kaufen, das Essen vorbereiten und dann sind da noch die Schulferien”, sagt sie. „Familien verbringen zwar mehr Zeit miteinander, der größte Teil davon geht aber für die Vorbereitung drauf. Ich habe den Eindruck, dass der größte Stress durch die gestörte Routine und das Chaos, das die Feiertage mit sich bringt, entsteht. Erwachsene haben oft das Gefühl, dass Kinder die Feiertage und all die Traditionen genießen, ohne sich wirklich die Zeit zu nehmen, um zu sehen, wie das Kind tatsächlich mit dem ganzen Chaos umgeht.”

Folgt Broadly bei Facebook, Twitter und Instagram.

Die Kinder wiederum verbinden den Feiertagsstress mit dem Weihnachtsmann—mit dem alles steht und fällt. Diese Angst bleibt oft auch noch, wenn das Kind älter ist. Der 26-jährige Mike kann sich noch genau daran erinnern, dass er einmal den Kamin seiner Eltern abgestaubt hat, um nach Fingerabdrücken zu suchen, die zeigen sollten, ob der Weihnachtsmann tatsächlich da war. „Ich wusste, dass darüber diskutiert wurde, ob er nun echt ist oder nicht. Ich wollte einen endgültigen Beweis haben”, erinnert er sich. „Meine Mutter meinte, dass das sicher nicht funktionieren würde, aber statt ihrem Hinweis zu folgen, dachte ich mir nur: ‚Also deshalb trägt er die Handschuhe!’”

In Samudios Augen ist ein solches Verhalten bezeichnend für die normale Entwicklung eines Kindes. „Es ist ganz natürlich und ein gutes Zeichen, wenn sich ein Kind nicht einfach irgendetwas erzählem lässt”, sagt sie. „Die Erwachsenen erschaffen all diese schrulligen Geschichten um den Weihnachtsmann—die Rentiere, dass er in einer Nacht um die ganze Welt fliegt, dass er allwissend ist—und dann sagen sie Kindern, dass sie ihn nicht sehen können. Das macht den Weihnachtsmann zu diesem mystischen Wesen, über das man nicht offen reden darf.’”

Mehr lesen: Wie man mit Horrorfilmen seine Angststörungen bekämpft

Doch es gibt gute Neuigkeiten für Eltern von kindlichen Weihnachtsgegnern: Man kann damit umgehen.

„Du kannst dein Kind fragen, was es über den Weihnachtsmann denkt und ob es ihn treffen wollen würde”, sagt Samudio. „Wenn sich dein Kind freut, ihn zu treffen—wunderbar! Lass sie aber auch wissen, dass sie jederzeit ihre Meinung ändern können. Denn wenn es dann soweit ist, bekommen viele von ihnen Angst oder sind aufgeregt. Das Schlimmste, was man tun kann, wenn ein Kind Angst hat, ist zu versuchen, ihm unsere erwachsene Sicht auf die Dinge aufzuerlegen. Es ist wichtig ihnen jederzeit einen Ausweg zu geben. Das gibt Kindern die Kontrolle über das, was mit ihnen geschieht und lässt ihnen den Freiraum, um ihre Angst später mit den Eltern zu besprechen.”

Zweifel gegenüber dem Weihnachtsmann bieten Eltern die Möglichkeit, gesunde, prägende Gespräche mit ihren Kindern zu führen. Samudio ermutigt Eltern deshalb dazu, aufgeschlossen gegenüber den Bedenken ihrer Kinder zu sein und ihre Angst nicht abzutun, nur um den Glauben an den Weihnachtsmann aufrecht zu erhalten.

„Es geht darum, einen sicheren Ort zu schaffen. Das ist wichtiger als die falsche Bewunderung einer Fantasiefigur”, sagt sie. „Es zeigt deinem Kind, dass es neugierig auf seine Umwelt zugehen kann und dass seine Neugier mit Ehrlichkeit belohnt und nicht abgetan wird. Solche Momente bilden das gesunde Fundament, das Kinder wissen lässt, dass sie Fragen stellen und neugierig sein dürfen—und diese Fähigkeit wünscht sich wohl jeder für sein Kind.”


Titelfoto: imago | epd