Im faschistischen Italien verschwanden Tausende Menschen in psychiatrischen Heimen und Anstalten, weil sie nicht den Moralvorstellungen des Mussolini-Regimes entsprachen. Vor allem Frauen, die als psychisch krank oder zu liberal und “moralisch entartet” galten, wurden Opfer dieser Praxis. Die Wissenschaftler Annacarla Valeriano und Constantino Di Sante von der Universität von Teramo haben sich mehrere Jahre mit Krankenakten, Briefen und Berichten von Patientinnen aus der Zeit zwischen 1922 und 1943 beschäftigt und ihre Ergebnisse zu einer Ausstellung zusammengefasst, die momentan durch Italien tourt.
Wir haben mit Annacarla Valeriano darüber gesprochen, was den “ungehorsamen” Frauen damals widerfahren ist.
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VICE: Im faschistischen Italien wurden viele Frauen in Anstalten eingesperrt. Aber wurden sie auch in irgendeiner Form behandelt?
Annacarla Valeriano: Das Einsperren an sich galt damals schon als eine Art Behandlung. Bis Psychopharmaka und andere Medikamente Mitte des 20. Jahrhunderts eingeführt wurden, stellten Isolation und Überwachung die üblichen Behandlungsmethoden dar. Dazu kam noch, dass man abweichendes Verhalten und psychische Probleme gleichsetzte. Wenn du ein arbeitsunwilliger Mann oder eine ungehorsame Frau warst, wurde dir ein “unsittliches Wesen” attestiert.
Welche Behandlungsformen gab es neben dem Einsperren noch?
Anfang des 20. Jahrhunderts führte man psychische Problem auf ein organisches Ungleichgewicht zurück. Behandlungsmethoden dafür waren Wechselbäder mit heißem und kaltem Wasser und die sogenannte “Liegekur”, bei der Patienten für lange Zeitspannen an ihr Bett gefesselt waren. Während des Faschismus experimentierten Ärzte mit Insulinschocktherapien, Elektroschocktherapien und sogar der Malariatherapie. Durch eine absichtliche Ansteckung mit Malaria wollte man die Körpertemperatur der Patienten extrem erhöhen, um sie mit einem “Schockerwachen” aus ihrem katatonischen – also angespannten – Zustand zu holen. Solche Experimente waren extrem gefährlich.
Wie sind Sie auf das Thema aufmerksam geworden und wie ist das Projekt entstanden?
2010 haben wir angefangen, die Archive der Sant Antonio Abate-Anstalt in Teramo zu sichten. Sie wurde 1881 eröffnet und 1998 geschlossen. Im Rahmen einer Forschungsarbeit habe ich die medizinischen Akten von 7.000 der 22.000 Männer und Frauen analysiert, die dort zwischen 1881 und 1945 eingesperrt waren. Ein Teil dieser Nachforschungen ist in mein Buch über die Geschichte der Psychiatrie von Teramo eingeflossen. Nach der Veröffentlichung wollte ich mich noch einmal im Detail mit den Frauen beschäftigen, die dort in den 20 Jahren faschistischer Herrschaft eingesperrt waren.
Was hat Sie gerade an ihnen so interessiert?
In der Zeit des Faschismus sind nach und nach Porträtfotos in den Krankenakten der Frauen aufgetaucht. Gleichzeitig wurden auch immer mehr Frauen aufgrund von “Devianz” in die Anstalten eingesperrt – also weil sie von der Norm abweichten. Mich hat insbesondere das Konzept der “weiblichen Devianz” interessiert, also habe ich weiter recherchiert.
Was war an diesen Porträtfotos so besonders?
Nach damals populären Theorien wie der Physiognomik und der Phrenologie glaubte man, anhand von Schädelmaßen, der Beschaffenheit der Wangenknochen oder der Position der Augen sagen zu können, ob jemand kriminell oder psychisch krank ist. Diese Fotos erfüllten außerdem einen praktischen Zweck: Man konnte die Patientinnen schnell identifizieren, wenn sie ausgebrochen waren.
Was wurde bei diesen Frauen in der Regel diagnostiziert?
“Devianz”. Die Ideologie des Staates hatte allerdings auch viele Formen der Devianz erschaffen. In einer berühmten Rede sagte Mussolini 1925, dass es die einzige Aufgabe einer anständigen Frau sei, eine gute Mutter zu sein. Den meisten Frauen, die eingeliefert wurden, wurde vorgeworfen “degenerierte Mütter” zu sein.
Waren Frauen bestimmter Schichten besonders davon betroffen?
Die meisten waren Frauen aus der Arbeiterschicht, die in massiver Armut lebten. Sie arbeiteten draußen auf den Feldern, hatten zehn, zwölf oder vierzehn Kinder und litten Hunger. Wenn sie irgendwann von allem überfordert waren und sich nicht mehr um ihre Familien kümmern konnten, wie es der Staat für angemessen hielt, wurden sie als “degenerierte Mütter” bezeichnet. Gleiches galt für Frauen, die unter Postnatalen Depressionen litten oder sich weigerten, weitere Kinder zu bekommen. Sie passten nicht in Mussolinis Bild der perfekten Hausfrau.
Und was war mit sexueller Devianz? Die faschistische Regierung führte Staatsbordelle ein. Mit Prostitution hatte man also keine Probleme. Wurden nicht trotzdem viele Frauen aus sexuellen Gründen eingewiesen?
Ja, wir haben Akten von ein paar Sexarbeiterinnen gefunden. Ihr Beruf war allerdings nicht das Problem. Oft wurden sie eingeliefert, weil sie sich mit einer sexuell übertragbaren Krankheit angesteckt hatten. Das Regime hatte aber viel größere Probleme mit Frauen und Mädchen, die sich weigerten, sich sexuell dem Willen ihrer Partner zu unterwerfen. Sie wurden als Rebellinnen wahrgenommen und mussten umerzogen werden.
Hat Sie eine bestimmte Geschichte besonders berührt?
Mich haben sehr viele dieser Geschichten berührt. Wenn du das alles liest, kannst du gar nicht anders, als ein emotionales Verhältnis zu diesen Frauen aufzubauen. Ihre Briefe haben mich am meisten berührt, in vielen schildern sie ihre persönlichen Erlebnisse. Sie waren oft an ihre Familien adressiert, haben die Anstalt aber nie verlassen. Stattdessen wurden sie einfach den Krankenakten beigelegt. In den meisten Briefen baten sie ihre Familien eindringlich darum, sie zurückzunehmen. In manchen flehen sie auch die Klinikangestellten an, sie freizulassen. In einigen beschrieben sie ihren Alltag, der von Misshandlungen, Kontrolle, unmenschlichen Lebensumständen und Hunger geprägt war.
Wurden die Menschen überhaupt jemals aus den Anstalten entlassen?
Ja. Ich habe viele Fälle gefunden, in denen Menschen eingesperrt, freigelassen und dann wieder eingesperrt worden waren – das oft mehrere Male. Das betraf vor allem Frauen, die keine Familie hatten, zu der sie zurückkehren konnte. Wenn Menschen in den Anstalten gestorben sind oder 50 Jahre eingesperrt waren, dann lag das daran, dass ihre Angehörigen sich weigerten, sie zurückzunehmen. Sobald du eingewiesen wurdest, warst du keine Person mehr. Man nahm dir deine Rechte und stempelte dich als kriminell ab. Es war eine große Schande, Familienangehörige in einer psychiatrischen Anstalt zu haben.
Der Umgang mit psychischen Problemen und psychisch Kranken hat sich ohne Frage verbessert. Aber wo sehen Sie weiterhin Raum für Verbesserungen?
Wir müssen weiterhin Stigmata durchbrechen, die mit psychischen Problemen einhergehen. Nach einem Mord hört man immer noch oft, dass der Mörder “ein Psycho” oder psychisch labil gewesen sei – als würde das alles erklären. Und in manchen Einrichtungen gibt es immer noch Gewalt und Missbrauch. Das mögen isolierte Einzelfälle sein, aber wir müssen trotzdem mehr tun, um sie zu verhindern.