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Warum uns Virtual Reality zu besseren Menschen machen wird

Ist Virtual Reality wirklich die Zukunft? Werden wir künftig einen Großteil unserer Zeit in einer räumlichen, täuschend echt wirkenden Illusion à la Matrix verbringen? Oder ist das Ganze nur eine weitere Spielerei für 3D-Enthusiasten und Möchtegern-Cyberpunks, die nach immer neuen Möglichkeiten suchen, sich aus der Wirklichkeit auszuklinken? Soviel steht fest: Der Hype um die immersive Technik ist in den letzten Monaten einer gewissen VR-Müdigkeit gewichen. Zu lange haben Oculus Rift und HTC Vive nach vielversprechenden Ankündigungen auf sich warten lassen. Zu teuer ist für viele nach wie vor die Anschaffung.

Und zugegeben: Um sich ein Mini-Holodeck im eigenen Wohnzimmer installieren zu können, muss man derzeit noch tief in die Tasche greifen. Die großen Hersteller hoffen zwar, spätestens mit dem diesjährigen Weihnachtsgeschäft endlich massenhaft VR-Systeme auf den Markt zu bringen. Aber derzeit benötigt man für HTC Vive und Oculus Rift neben VR-Brille und Zubehör wie Kameras und Controller auch noch einen leistungsstarken High-End-PC (in unserem Test ein Gaming-Notebook von MSI). Die finanzielle Hürde für VR-Einsteinger wächst damit auf abschreckende 2.000 Euro an.

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Und auch der Aufbau ist kein Kinderspiel: Nachdem ich die HTC Vive—die derzeit technisch beeindruckendste VR-Brille—den Händen des Paketboten entrissen habe, muss ich mich erst einmal daran machen, samtliche Möbel in meinem Wohnzimmer zur Seite zu rücken und umzustapeln, um in der wirklichen Welt genügend Freiraum für meine Ausflüge in die virtuelle Welt zu schaffen. Im Unterschied zu anderen VR-Systemen, in denen man nur sitzend oder stehend in Parallelwelten eintaucht, kann man sich mit der Vive in VR nämlich—in gewissen Grenzen—vollkommen frei bewegen.

Nach mehreren Soft- und Hardware-Installationen und einer Vermessung des virtuellen Spielfelds mithilfe eines der Vive-Controller ist es aber endlich so weit: Ich setze das Head Mounted Display der Vive auf. Und beginne sofort zu begreifen: Ja, das hier ist tatsächlich etwas Besonderes. Wer das erste Mal in VR einem lebensgroßen Blauwal ins Auge blickt, danach stundenlang durch das Universum fliegt und anschließend mit Licht und Feuer Skulpturen in die Luft malt, kehrt verändert von dieser Erfahrung zurück. Und zwar deshalb:

Willkommen im eigenen Körper

VR-Shoot-’em-up Xortex 26XX: Körpereinsatz statt Knöpfedrücken | Bild: Valve

Virtual Reality gibt uns den Raum—und damit unseren Körper—zurück. Abgesehen von Theater- und Konzertbesuchen verbringen wir heute einen Großteil unseres Medienlebens sitzend vor dem Bildschirm. Egal ob im Büro, in der U-Bahn, im Kino oder daheim vor dem Fernseher: Ständig haben wir hypnotisch leuchtende Flächen vor der Nase—rechteckige, zweidimensionale Fenster, die uns eine Welt zeigen, in die wir uns hineinträumen, -denken und -fühlen. VR ist da anders: Anstatt nur unser Bewusstsein auf Reisen zu schicken und unseren Körper für Stunden am Stück auf dem Sofa oder einem anderen Sitzmöbel zurückzulassen, können wir dank stereoskopischer, raumfüllender VR diese programmierten Scheinwelten nun erstmals betreten.

Besonders im Umgang mit Videospielen macht sich diese neue Körperlichkeit sofort bemerkbar. In dem Fantasy-Rollenspiel Vanishing Realms etwa halte ich statt der beiden Vive-Controller plötzlich Schwert und Schild in den Händen und trete derart gewappnet in den Kampf gegen Gerippe und Geister. Wo ich bisher bloß Knöpfe drücken und Analogsticks kippen durfte, muss ich in VR nun im richtigen Moment zum Schlag ausholen, schützend den Schild hochreißen oder einen Bogen spannen, indem ich die entsprechenden, ganz natürlichen Armbewegungen ausführe. Heransausenden Pfeilen und Feuerbällen weiche ich aus, indem ich schnell einen Schritt zur Seite trete oder hinter einer Polygon-Mauer Deckung suche.

Auch andere klassische Videospielgenres erhalten in Virtual Reality eine ungewohnte Physikalität. Im Shoot ’em up Xortex 26XX, das als Teil der VR-Sammlung The Lab von Publisher Valve veröffentlicht wurde, kann ich ein Raumschiff wie ein Spielzeug in die Hand nehmen und Massen von Geschossen ausweichen, indem ich es unter viel Körpereinsatz um sie herum manövriere. Im Musikspiel Audioshield wiederum bringe ich im Takt des neuen Radiohead-Albums mit meinen Händen Leuchtkugeln zum Platzen. Und in Poly Runner VR steuere ich futuristisches Fluggerät allein mittels Bewegungen meines Oberkörpers an todbringenden Felsen vorbei. Ein gesunder, schweißtreibender Workout ist bei vielen Virtual-Reality-Games bereits inbegriffen.

Gelassenheit, Ekstase und Weisheit

Naturbetrachtung trifft Innenschau in der Tiefseesimulation TheBlu | Bild: Wevr

Aber VR ist auch eine Wohltat für den Geist. Auf einem Kontinuum von Meditation bis Ekstase, von Kontemplation bis Selbstverlust hält Virtual Reality eine Vielzahl bemerkenswerter Bewusstseinszustände bereit. Wenig ist beispielsweise entspannender, als sich in der Unterwasserwelt von TheBlu auf einem Korallenriff niederzulassen, während um einen herum Fischschwärme, leuchtende Quallen und eine Meeresschildkröte friedlich ihre Kreise ziehen. Auch als ich den Blick in dem Postcards betitelten Abschnitt von The Lab über die Weite einer Berglandschaft schweifen lasse und in diesem 3D-Panorama, das sich bis zum Horizont erstreckt, mit einem niedlichen Roboterhund Stöckchen werfe, vergesse ich alle Sorgen und Nöte, die in der realen Welt auf mich warten. Neben klassischen, fordernden Videospielkonzepten sind es ruhigere Erlebnisse wie diese, die einen Großteil der derzeit interessantesten VR-Programme ausmachen.

Am anderen Ende des Erfahrungsspektrums steht Tilt Brush— für mich bisher die Killer-App für VR schlechthin. Der Vive-Controller wird darin zum Pinsel. Und der virtuelle Raum zur dreidimensionalen Leinwand. Während ich die einladende Leere ringsum mit Leuchtzeichen und ineinander verschlungenen Gebilden verziere, steigere ich mich immer mehr in einen wahren Farbrausch hinein. Ich tanze durch geschwungene, pulsierende Konstruktionen, werde eins mit meinem Kunstwerk und glaube in einem Anfall von Synästhesie tatsächlich zu spüren, wie mein eigener Körper von Licht und Farbschichten durchdrungen wird. Seit ich als Kind Fenster mit Fingerfarben und die Planetenoberfläche mit Strassenkreide verschönern durfte, hatte ich nicht mehr so viel Spaß an der Kunstproduktion. Gar keine Frage: VR macht glücklich.

Allein indem ich mir das Head Mounted Display aufsetze und die entsprechende Software starte, hole ich mir auf rein elektronischem Weg Erfahrungen in die eigenen vier Wände, die ich bisher nur vom Urlaub—oder vom Drogentrip—kannte. Darüber hinaus schärft Virtual Reality aber auch das Verständnis für kosmische Maßstäbe und naturgegebene Zusammenhänge, die sich der menschlichen Wahrnehmung prinzipiell entziehen: In der Universe Sandbox 2 vom Entwicklerkollektiv Giant Army etwa schwebe ich durch die Weite des Weltalls und werde Zeuge, wie vor mir eine Supernova geboren wird oder ein Kometensturm das von mir selbst erschaffene Sonnensystem durcheinanderbringt.

In dem Game InMind von NivalVR wiederum unternehme ich eine Reise durch das menschliche Gehirn und rase durch ein Netz von Neuronen, die sich haushoch vor mir auftürmen. Beides, sowohl der Einblick in den Makro- als auch in den Mikrokosmos, erfüllt mich auf ähnliche Weise mit Ehrfurcht.

Die wirkliche Welt neu entdecken

Im Postkarten-Level von The Lab lässt man Blick und Gedanken schweifen | Bild: Valve

Die räumliche Größe, die Virtual Reality erfahrbar macht, gehört zu ihren herausragenden Qualitäten. Dagegen wirken herkömmliche Videospielwelten plötzlich wie Miniaturlandschaften. Und doch: Es muss nicht immer das Gigantische, das Atemberaubende sein, das einen in den Bann zieht. Ein VR-Game wie The Gallery: Call of the Starseed zum Beispiel wählt über weite Strecken einen anderen Weg. In dem Adventure untersuche ich mit den Vive-Controllern, die im Spiel zu Händen werden, verschiedene Gegenstände, um Rätsel zu lösen.

Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich fasziniert die maßstabsgetreue Nachbildung einer Blechbüchse, einen bekritzelten Notizzettel oder einen Kompass ganz nah vor die Augen halte und von allen Seiten betrachte. Und das Schöne daran: Mit diesem Blick schaut man auch dann noch in die Welt, wenn man die VR-Brille längst wieder abgesetzt hat und sich im eigenen Alltag umsieht. Dann staunt man plötzlich über Selbstverständliches und findet das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen.

Die Simulation Universe Sandbox 2 vermittelt ein Gespür für kosmische Größenverhältnisse | Bild: Giant Army

In weiter Ferne, so nah: Die 360°-Dokumentation Waves of Grace nimmt einen mit nach Afrika | Bild: Vrse

Und Virtual Reality birgt noch einen weiteren Anknüpfungspunkt zwischen digitaler und wirklicher Welt: Sie weckt unser Mitgefühl. Stereoskopische 360°-Videos bringen uns an Orte, an die nur wenige von uns je einen Fuß setzen würden: In ein jordanisches Flüchtlingslager zum Beispiel, ins zerbombte Syrien oder das von Ebola gezeichnete Afrika. Dokumentarische Projekte von VR-Studios wie Vrse und Immersivly, von der New York Times und dem US-Sender ABC versuchen, den Zuschauer mitten hinein ins Weltgeschehen zu transportieren, anstatt ihm nur davon zu berichten. Telepräsenz statt Television.

Mehr noch als jede Fotoreportage und jeder Dokumentarfilm schafft der Eindruck, sich dank VR wirklich an einem anderen Ort zu befinden, eine größere Nähe zu anderen Menschen, anderen Kulturen, anderen Leiden. Journalistischer Distanz mag das nicht gerade zuträglich sein. Einem emphatischen, verständnisvollen Miteinander hingegen kann diese neue Technik nur gut tun.

Virtual Reality ist die Zukunft

Längst sind noch nicht alle Kinderkrankheiten von Virtual Reality ausgemerzt. 360°-Reportagen beispielsweise kommen in abweichenden Formaten daher; unterschiedliche VR-Video-Player funktionieren unterschiedlich gut. Auch die Auflösung der Bildschirme, die man sich vor die Augen schnallt, um sie durch optische Linsen vergrößert zu betrachten, könnte gern noch hochauflösender sein. Ein feines Pixelraster ist nämlich derzeit noch bei allen VR-Systemen zu erkennen. Darüber hinaus müssen die VR-Brillen noch bequemer und leichter werden. Auch das Kabel, das bei HTC Vive und Oculus Rift herunterhängt, muss verschwinden. Und das Angebot an Spielen und Anwendungssoftware ist nach wie vor arg begrenzt.

Spätestens jedoch, wenn zum Weihnachtsgeschäft auch Playstation VR auf dem Markt erscheint und die Oculus Rift um jene Controller erweitert wurde, wie sie bei der HTC Vive bereits Standard sind, solltet ihr ernsthaft darüber nachdenken, euch für eines der drei konkurrierenden großen VR-Systeme zu entscheiden. Denn Virtual Reality ist mehr als die Erweiterung des digitalen Spielplatzes um die dritte Dimension. Indem VR den ganzen Körper mit einbezieht, unser Bewusstsein ungeahnte Dinge erleben lässt und uns anderen Menschen näher bringt, wird diese Technik uns dabei helfen, über uns selbst hinauszuwachsen. So paradox es auch klingen mag: In der komplett durchvirtualisierten Welt, in der wir leben, könnte ausgerechnet Virtual Reality dazu beitragen, dass wir zu ganzheitlicher denkenden, glücklicheren Menschen werden.