Die Produktion von Beauty-Vlog-Inhalten ist mit Sicherheit kein leichter Job und der Quell der Kreativität ist auch nicht unerschöpflich. Ist es überhaupt möglich, ein Review von Kylie Jenners neuem Lipkit zu machen, das sich von den anderen 200 bereits existierenden Reviews abhebt? Und warum ist gerade die eigene Lush-Ausbeute an verschiedenen Badebomben und Waschkneten so besonders? In diesem ganzen Geltungsgewirr muss man sich als Content-Creator aber eigentlich nur eine Frage stellen: Was haben die Zuschauer noch nicht gesehen?
Vor einem Monat haben die YouTuber dann eine Antwort auf diese Frage gefunden, denn sie überlegten, was passieren würde, wenn man sich ganz normal Make-up aufträgt und einfach nicht damit aufhört, bis alle Tuben und Dosen leer sind. Ja, was passiert dann eigentlich? Im Grunde hat allerdings kein Mensch genügend Zeit und genügend Geld, um ein solches Experiment durchzuführen. Da verschiedene Kosmetikfirmen Beauty-Vlogger mit ihren Artikeln jedoch schier überschütten, war der 100-Schichten-Trend schnell geboren.
Videos by VICE
In den dazugehörigen Videos sieht man nun, wie YouTuber vor ihren Rechnern sitzen und 100 Schichten an Lippenstift, Mascara oder Selbstbräuner auftragen. Und auch richtige Berge an Nagellack hat es schon gegeben. Jeely ist eine erfolgreiche YouTuberin, sie beschreibt sich selbst als “unglaublich weird” und man kann sie—trotz Underdog-Status im Beauty-Geschäft—als die Pionierin dieser Bewegung ansehen. Ein vor zwei Wochen hochgeladenes Video, in dem sie sich 100 Schichten Foundation ins Gesicht klatscht, hat schon über 7,5 Millionen Views angehäuft. Und auch die berühmte YouTube-Komikerin Jenna Marbles hat vergangenes Wochenende ein solches Video gedreht, das die User schon über 8 Millionen Mal angeklickt haben.
Die Reaktionen lassen sich im Grunde in zwei Kategorien einordnen, nämlich “Weiße sind verrückt” und “WARUM SCHAUE ICH MIR SOWAS IMMER WIEDER AN?”—und beides ist irgendwie berechtigt. Mich interessiert jedoch auch, warum sich die Beauty-Vlogger überhaupt solch ausufernden Herausforderungen stellen und warum die Faszination der Zuschauer niemals abzureißen scheint.
Da ich eines Nachmittags absolut nichts zu tun hatte, entschied ich mich dazu, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Also besorgte ich mir in der Drogerie um die Ecke das billigste Make-up sowie einen ganzen Haufen Feuchttücher, Jeely sagt in ihrem Video nämlich auch, dass das Ganze eine richtige Sauerei ist.
Ich began mit einem ungeschminkten Gesicht und fügte eine Schicht nach der anderen hinzu. Beauty-Vlogger benutzen dafür eigentlich immer kleine Schwämmchen, die auch mir die Sache sicher erheblich erleichtert hätten. Aber das sind ja Profis. Ich nahm stattdessen einfach nur meine Finger zu Hilfe. Und ich musste auch sehr schnell feststellen, dass die ganze Aktion meine bereits ziemlich unreine Haut nur noch weiter verschlimmern würde. Ich hätte zwar gerne darauf verzichtet, meine Akne unnötig zu reizen, aber nach fünf Schichten hielt dann auch der Ehrgeiz Einzug. Meine Haut sollte die getönte Feuchtigkeitscreme aber schon bald abstoßen. Es war fast so, als würde sie sagen: “Ich lasse jetzt keine billigen Giftstoffe mehr durch.” Stattdessen trocknete und zerbröckelte die Tinktur einfach nur.
Ich kam jedoch immer mehr in meinen Rhythmus: Erst die Feuchtigkeitscreme auftragen, dann meine Hände mit einem Feuchttuch säubern, anschließend Augenbrauen aufmalen, dann zu den Lippen übergehen und mich schließlich noch mit dem Mascara ans Werk machen. Check, ein weiterer Strich auf meiner Mitzählliste. Die Zeit verwandelte sich in ein nicht mehr greifbares Konzept, die sich immer wiederholenden Bewegungen entwickelten sich zu einer Art Meditation und das Aktivitätenlevel in meinem Kopf ging zurück. Ein angenehmes Gefühl der Ruhe überkam mich, so als ob ich einem Entspannungskurs beiwohnen würde.
Nach Schicht Nummer 24 waren meine Lippen schließlich so schwer, dass sie schon herunterhingen. Und ein paar Schichten später klebten sie schließlich so fest zusammen, dass ich meinen Mund von da an lieber offen ließ, weil ich befürchtete, meine Lippen sonst nie wieder auseinander zu bekommen. Nach Schicht 35 war schon ein großer Batzen Wimpern flöten gegangen. Einer meiner Kollegen kam während meiner Schminkeskapade auch immer wieder ins Zimmer, um mir mitzuteilen, wie hässlich ich sei. Mir kam es schon fast so vor, als hätte er nur auf diese Möglichkeit gewartet.
Nach der Hälfte fühlte es sich so an, als würde ich Lotion auf einem schlimmen und sich schälenden Sonnenbrand verteilen. Es bildeten sich auch schon geronnene Klumpen, die abfielen oder in meinen Mund gerieten, wenn ich mich zu ungeschickt anstellte. Gleichzeitig war das Ganze aber auch irgendwie angenehm. Meine Stirn war so geschmeidig und dick eingecremt, dass ich mir wie in der berühmten Szene des Films Ghost – Nachricht von Sam vorkam. Meine Finger glitten eben nur nicht durch feuchten Lehm, sondern durch billiges Make-up. Und da mich auch kein Patrick Swayze umarmte, verlor ich mich im ultimativen Akt der Selbstliebe.
Nach 70 Schichten konnte ich kaum mehr atmen. Meine Nase füllte sich mit Foundation. Mein Gesicht wurde richtig heiß und mich überkam ein schwaches Gefühl der Übelkeit. Erstickte ich hier etwa langsam und qualvoll? Oder brachten mich die ganzen Giftstoffe des Make-ups ins Grab? Dazu kamen dann noch die fortlaufenden Kommentare meiner Kollegen—”Kobold” und “hässliche Wachsfigur” sind nur zwei Beispiele. Aufgrund meiner ganzen Mühen und auch wegen des investierten Gelds gefiel mir mein neues Gesicht jedoch. Das geht auf deine Kappe, Kapitalismus! Und auch du, liebes Patriarchat, solltest dir mal die Folgen deiner Existenz vor Augen führen! Ist es das, was du wolltest?
Es hatte den Anschein, als könnte es nicht mehr schlimmer werden. Dann bemerkte ich jedoch, dass sich meine Wimpern beidseitig in jeweils nur noch drei oder vier Klumpen verwandelt hatten. Sollte ich vielleicht schon bald stolze Besitzerin von Monowimpern sein? Und meine Finger waren aufgrund der Feuchtigkeit der Foundation und des inzwischen schon vier Stunden andauernden Auftragens ganz verschrumpelt.
Nach der finalen Schicht sah ich blendend aus und hatte einen ganzen Nachmittag verschwendet. Ein Sieg auf ganze Linie. Auch für die YouTuber, die sich so ihre Klicks holen. Zusammen hatten wir etwas Besonderes erschaffen. Ich kam mir vor wie ein lebendes (und nicht so gutes) Werk von Picasso. Kann man so etwas schon als Performance-Kunst bezeichnen? Wahrscheinlich schon.
Wenn ich eine Sache aus dieser ganzen Aktion gelernt habe, dann folgende: Wenn man sich etwas einfallen lässt, dann sollte man es auch in die Tat umsetzen—und zwar bis zum Schluss. Stellt euch doch nur mal vor, man hätte Gedanken wie etwa “Was passiert, wenn man diese quadratischen Dinger rundschleift und etwas damit bewegt?” oder “Was passiert, wenn man bei einem Haus ein Stockwerk auf das andere baut?” nie weitergedacht? Viele revolutionäre Ideen haben mit einer verrückten “Was wäre wenn”-Überlegung von wagemutigen Träumern angefangen. Und genau diese Träumer brauchen wir, um neue und gute Inhalte zu produzieren.
Zyniker sehen diesen Trend womöglich als ein Anzeichen dafür, dass die YouTuber nun ihr eigenes Handwerk bis zu Unkenntlichkeit durch den Kakao ziehen. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Internet-Stars haben einfach nur erkannt, dass nach der vierten Badebombe jeder gelangweilt abschaltet. Die unbarmherzige und überfüllte Welt der Beauty-Videos befand sich schon auf dem absteigenden Ast, aber die Vlogger haben aus diesem Grund einfach den idiotischsten Weg eingeschlagen. Und genau deswegen sind sie wieder auf der Siegerseite gelandet.