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Was es mit mir gemacht hat, als meine Nacktfotos geleakt wurden

Die meisten Teenager an meiner Schule haben sich mit 15 darüber Gedanken gemacht, wie sie nach der Hausparty die Kotze aus dem Teppich ihrer Eltern kriegen, oder wie sie ihr erstes Mal erfolgreich hinter sich bringen. Als ich 15 war, habe ich überlegt, wie lange es wohl dauert, bis mein nackter Hintern von den Handys meiner Mitschüler verschwunden ist.

Die Geschichte meiner gestohlenen Nacktbilder beginnt 2007 im Kinderzimmer meines damaligen Freundes zwischen Ronaldo- und Christina-Aguilera-Postern. Ich posiere dort in meinem ersten Reizwäsche-Set: einer Corsage mit Strapsen, einem dazu passenden String und weißen, halterlosen Nylon-Strümpfen. Die verspielten Blümchen auf dem Netz-Stoff und die bonbonrosa-weiße Farbkombination sind aus heutiger Sicht vielleicht ein Indiz dafür, dass ich für diese Art der Sexualisierung noch zu jung war. Doch damals bin ich stolz auf meine Dessous, ich fühle mich damit sinnlich und erwachsen – und so schön, dass ich meinen Freund daran teilhaben lassen will. Bevor er aus der Schule nach Hause kommt, mache ich auf seinem Bett Selfies mit dem Selbstauslöser meines Handys, mal mit gespreizten Beinen, mal mit den Händen auf meinen Brüsten oder meinem Hintern. Als er nach Hause kommt, schicke ich sie ihm per Bluetooth. Doch er will die Fotos nicht haben und löscht sie von seinem Handy: “Nachher landen die noch überall”, sagt er.

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“Die ganze Schule kennt jetzt deinen Arsch.”

Tatsächlich hält mir etwa zwei Wochen später an einem Freitag nach der Schule ein Mädchen ihr Handy unter die Nase – mit einem Foto von mir in Strapsen: “Die ganze Schule kennt jetzt deinen Arsch.”

Im Gegensatz zu meinem Freund habe ich meine Fotos auf dem Handy behalten. Zwei meiner Klassenkameraden bekommen ein paar Tage später mit, wie ich einer Freundin davon erzähle. Die beiden Jungs ziehen in der Pause unbemerkt mein Handy aus meiner Handtasche und schicken sich die Bilder zu. Irgendwann landen sie auf den Handys ihrer Freunde – und derer Freunde, und derer Freunde –, bis sie schließlich an den meisten Schulen im Umkreis verbreitet sind.

Mein Teenager-Körper wurde zum Gemeinschaftsgut. Ein Moment, in dem ich meinen Körper zum ersten Mal in einer Weise sexy fand, die sich nach Erwachsensein anfühlte, der eigentlich selbstermächtigend war und den ich mit meinem Freund teilen wollte, wurde zerstört und öffentlich zur Schau gestellt. Gleichzeitig komme ich mir in dem Moment schrecklich naiv vor – mein Freund hatte schließlich noch gesagt, dass das mit den Fotos keine gute Idee sei. Ich will sofort mit ihm reden und laufe die 800 Meter zu seiner Schule hoch. Den gesamten Weg über mache ich mir Sorgen, dass er sauer auf mich ist.

“Viele Frauen fühlen sich schuldig, die Bilder oder Videos überhaupt gemacht zu haben”, sagt Anna Hartmann, sie ist Referentin für digitale Gewalt beim Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe. Der Verband hat 2017 eine Kampagne gegen digitale Gewalt ins Leben gerufen, um Frauen, denen so etwas wie mir passiert ist, dabei zu helfen, sich zu wehren. “Sich in so einer Situation Unterstützung zu holen, erscheint im ersten Moment kaum möglich.”

Konkrete Zahlen darüber, wie viele Frauen und Männer in solche Situationen geraten, führen weder die Beratungsstellen noch die Polizei. Allerdings melden sich immer mehr Frauen in Beratungsstellen, weil sie digitaler Gewalt ausgesetzt sind, erklärt Anna Hartmann. Eine Sprecherin des Bundeskriminalamts sagt gegenüber VICE, es habe 2016 fast 6.000 Fälle gegeben, bei denen der höchstpersönliche Lebensbereich laut Paragraph 201a StGB verletzt wurde – also Bildmaterial aus intimen Situationen geleakt wurde.

Als meine Fotos geklaut werden, trage ich im Alltag noch Snoopy-Unterwäsche und werde von meinem Vater jeden Morgen zum Bus gefahren. Aber ich mache auch die ersten sexuellen Erfahrungen – wie viele andere Teenager auch. In einer repräsentativen Umfrage aus Österreich im Jahr 2014 gaben 16 Prozent der befragten 14- bis 18-Jährigen an, schon einmal Nacktfotos von sich gemacht zu haben. Gleichzeitig berichtete fast die Hälfte der Jugendlichen, dass sie zumindest jemanden kennen, dessen Bilder verbreitet wurden oder der deswegen erpresst oder gemobbt wurde.

Auf dem Weg zu meinem Freund spiele ich unterschiedliche Szenarien durch, mit denen ich ihm alles erklären will. Doch als ich ihn auf der Mauer vor der Schule sitzen sehe, sage ich einfach: “Die anderen haben meine Fotos.” Er schüttelt den Kopf: Das habe er mir ja gesagt. Wir versuchen beide, die Situation runterzuspielen, ich übe mit ihm Ausreden, so als bereite ich mich auf ein Verhör vor. Wenn mich jemand am Montag fragt, sage ich einfach, es sei nicht mein Hintern. Er schüttelt wieder den Kopf: Übers Wochenende werde mir schon noch etwas Überzeugenderes einfallen.

Sogar Politiker geben Frauen die Schuld daran, wenn ihre Fotos geleakt werden

An meiner Schule war ich die einzige, deren Nacktfotos die Runde machen. Es gibt niemanden mit ähnlichen Erfahrungen, den ich um Rat fragen könnte. Das will ich ohnehin nicht. Es ist mir peinlich, dass gleich bei meinem ersten Nackt-Selfie das Schlimmstmögliche passiert: Ich wollte eine sexy Erwachsene sein und fühle mich nun wie ein dummes Kind.

Tatsächlich werden in so einer Situation auch Frauen verspottet, die deutlich älter sind, als ich es damals war: Als 2014 die Clouds von Rihanna, Jennifer Lawrence und anderen prominenten Frauen gehackt wurden, sagte der spätere EU-Digitalkommissar Günther Oettinger: “Wenn jemand so blöd ist und als Promi ein Nacktfoto von sich selbst macht und ins Netz stellt, hat er doch nicht von uns zu erwarten, dass wir ihn schützen.”


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Aber: Wenn jemand Nacktfotos macht, die offensichtlich nicht für andere gedacht sind, kann er dann nicht wenigstens erwarten, dass andere Menschen diese Privatsphäre respektieren? Erotische Bilder oder Sexting seien nicht das Problem, sondern die Leute, die diese intimen Bilder veröffentlichen, sagt die Kommunikationspsychologin Anna Hartmann: “Viel zu oft wird die Verantwortung den Betroffenen in die Schuhe geschoben.” Man gebe ihnen im Nachhinein Tipps, wie sie die Situation hätten verhindern können – obwohl nicht sie die Straftat begangen haben, sondern die Täter.

Zwei Tage nachdem meine Bilder erstmals in der Schule verbreitet wurden, ruft mich ein Bekannter an: “Ich habe gerade Nacktfotos von dir auf dem Blog deiner Freundin gesehen.” Mit Bauchschmerzen tippe ich die Adresse der Seite auf meinem Sony Ericsson ein.

Als die Seite endlich geladen ist, sehe ich mein Foto von mir in Strapsen – auf dem Blog meiner damals engsten Freundin. Fotos von uns gibt es darauf viele: Mit Gratis-Bildbearbeitungsprogrammen ließen wir unsere Gesichter miteinander verschmelzen, kopierten Rap-Lyrics über unsere Duckface-Schnuten und retouchierten amateurhaft unsere Pickel weg. Aber an dem Tag hatte sie mir nicht gesagt, dass sie ein Foto hochladen würde – und schon gar nicht, dass ich darauf halbnackt bin. Über meinem gestohlenen Foto steht: “Hure. Ich glaube, jeder kennt sie…”

Wie viele Menschen mich damals nackt sehen, weiß ich bis heute nicht. Ich weiß nur: Es sind viele. Ich bekomme Bauchschmerzen, fühle mich gelähmt. Aber dass sich in dem Moment auch noch jemand, dem ich so vertraute und den ich an meiner Seite gebraucht hätte, völlig unerwartet gegen mich stellt und mich damit zusätzlich erniedrigt, reißt mir den Boden unter den Füßen weg. Ich will nie wieder zur Schule gehen: aus Scham über die Fotos, aus Angst darüber, dass niemand mich versteht – und aus Sorge, mit meinen Problemen völlig alleine dazustehen.

Meine Ängste von damals teilen viele andere Frauen in einer solchen Situation, sagt Anna Hartmann. “Inhalte können sich im Netz wahnsinnig schnell verbreiten”, sagt sie, “das ist ein immenser Kontrollverlust.” Die Betroffenen fühlten sich hilflos und fragten sich, was passiere, wenn Familie, Freunde oder Kollegen die Bilder sehen würden: “Potentiell kann sie jede und jeder sehen oder bereits gesehen haben.”

Europaweit sollen strengere Gesetze die Betroffenen schützen

Eine der ersten Regeln des Internets, die ich lernte, war: “Ist etwas einmal im Netz, bleibt es da auch.” Aber gibt es irgendeine Art, solche Bilder verschwinden zu lassen, wenn sie erst einmal da sind?

Im Dezember vergangenen Jahres beschloss das EU-Parlament Maßnahmen, um Betroffene von Revenge Porn und anderen Cybercrimes besser zu schützen. Zu Revenge Porn, oder Rachepornos, zählen unerlaubt veröffentlichte Bilder oder Videos, auf denen jemand Sex hat oder komplett nackt ist, aber auch Material, auf dem Leute angezogen mit sexuellen Absichten posen – wie ich auf meinen Bildern. In Großbritannien trat 2015 ein Gesetz in Kraft, das die Täter und Täterinnen, die solche Bilder unerlaubt verbreiten, mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft. In Deutschland gibt es dafür noch kein gesondertes Gesetz.

Das Kunsturhebergesetz verbietet allerdings, Aufnahmen unerlaubt zu verbreiten, deren Urheber man nicht ist. Darauf stehen hohe Geldstrafen oder sogar Freiheitsentzug. Das Strafgesetzbuch schützt Menschen davor, in privaten Räumen – etwa im Schlafzimmer beim Sex – fotografiert zu werden. Wer trotzdem unerlaubt privates Bildmaterial produziert oder verbreitet und damit den “höchstpersönlichen Lebensbereich” verletzt, kann dafür bis zu zwei Jahre in Haft kommen. Und über allem steht das Grundgesetz und das Recht am eigenen Bild: Jeder darf selbst entscheiden, ob und in welchem Kontext ein Bild von ihm veröffentlicht wird. Zudem hat der Bundesgerichtshof 2015 beschlossen, dass man vom Ex verlangen kann, alle Nacktfotos aus verliebteren Zeiten zu löschen – auch wenn diese unveröffentlicht auf einer Festplatte rumliegen.

Daran, meine Mitschüler anzuzeigen, denke ich nicht. Ich überlege mir absurde Aktionen, wie ich das Geschehene rückgängig machen kann, und frage mich, ob ich die Fotos “zurückklauen” oder die Handys meiner Klassenkameraden mit irgendwelchen Viren infiltrieren kann, damit alle Dateien gelöscht werden. Hätte ich sofort mit einem Erwachsenen gesprochen, hätte der vielleicht gemerkt, dass ich in einem Schockzustand bin und kaum klar denken kann.

Nie wieder habe ich mich so vor meinem Vater geschämt

Als mein Foto im Internet auftaucht, wird mir klar, dass ich ohne Hilfe nicht aus der Situation herauskomme. Ich gehe zu meinem Vater. Nie wieder habe ich mich so vor ihm geschämt wie in dem Moment, als er mich sexy posierend und in Strapsen im Internet sieht. Mein Vater ist aufgeregt: Er ruft sofort den Jungen an, der die Fotos geklaut hat und droht ihm damit, dessen Eltern zu kontaktieren, falls die Fotos nicht vom Blog meiner Freundin verschwinden.

Kurze Zeit später ist das Bild zwar nicht mehr online, das Problem damit aber nicht gelöst. Ich werde nie wissen, wer sich mein Foto in den Stunden, in denen es im Netz war, runtergeladen hat. Wie viele Mitschüler es auf ihren Rechnern haben, ob es Lehrer und Lehrerinnen, die sich unsere Blogs damals regelmäßig durchlesen, gesehen haben – oder ob es sogar in die Hände pädophiler Täter gelangen konnte.

“Im Grunde ist das Mädchen selbst schuld daran, weil sie die Fotos gemacht hat”, sagte meine Französischlehrerin

Am ersten Schultag, nachdem mein Foto im Internet gelandet ist, spricht meine bis dahin beste Freundin mich im Flur auf eine SMS an, die ich ihr am Vorabend in meiner Wut geschickt hatte. Ansprechen bedeutet in dem Fall: Sie schlägt mir ins Gesicht. Ich laufe zurück in den Klassenraum, packe noch vor der ersten Unterrichtsstunde meine Sachen wieder zusammen und flüchte aus der Schule. Auf dem Weg nach draußen sagt ein Mädchen, mit dem ich kaum etwas zu tun habe: “Daran bist du selbst schuld.” Den Rest des Vormittags verbringe ich weinend hinter der Turnhalle. Später erfahre ich, dass währenddessen meine Fotos im Unterricht thematisiert werden. Ein paar Mitschüler fragen die Französischlehrerin, was ein Mädchen machen sollte, wenn Nacktfotos von ihr verbreitet werden. Die Lehrerin, damals etwa Mitte 30, sagt, es sei falsch, solche Bilder unerlaubt zu veröffentlichen. Sie sagt aber auch: “Im Grunde ist das Mädchen selbst schuld daran, weil sie die Fotos gemacht hat.” Ich gehe an dem Tag nicht mehr zur Schule zurück und flüchte zu meinem Freund nach Hause.

“Wie ich mit solchen Erfahrungen umgehen kann, hängt auch davon ab, ob ich Unterstützung von meinem sozialen Umfeld erfahre und ob die Gewalt, die mir widerfahren ist, auch als solche anerkannt wird”, sagt Anna Hartmann. “Die Belastung und Scham kann zu körperlichen und psychischen Beschwerden führen wie Rückenschmerzen, Schlafstörungen oder Depressionen.” Manchmal ergeben sich daraus sogar berufliche Nachteile, so Hartmann: Viele seien noch lange, nachdem die Bilder und Videos auftauchten, mit ihnen konfrontiert. Für einige Betroffene sei das Gefühl der Ohnmacht so schlimm, dass sie sich das Leben nehmen, sagt Hartmann. Letztlich reagiere aber jeder auf so eine Situation unterschiedlich.

Ich schöpfe vor allem daraus Kraft, dass ich mir selbst versuche zu sagen: “Bald interessiert sich niemand mehr für deine Fotos.” Tatsächlich dauert es nicht lange, bis der Vorfall durch anderen Schulhof-Gossip verdrängt wird: das Mädchen, das auf einer Hausparty mit dem Freund ihrer Klassenkameradin ihr erstes Mal hat; die Beziehung zweier 14-Jähriger, die sich in den Pausen vor dem Lehrpersonal die Zunge in den Hals stecken; das Mädchen, das sich ohne elterliche Erlaubnis den Namen ihres Freundes auf den Hals tätowieren lässt. Es dauert fast acht Jahre, bis mir bewusst wird, wie mich dieser Vorfall geprägt hat – und wie lange mich die Folgen tatsächlich begleitet haben.

“Ich wollte dir damals einfach wehtun und dich in ein schlechtes Licht rücken.”

Die ersten Wochen nach dem Vorfall nutze ich wie eine Art Image-Kampagne: Ich will den Leuten, die mich beschimpft haben, zeigen, dass ich meinen Ruf nicht verdient habe. Dafür kleide ich mich so, wie ich denke, dass es “normale” Mädchen tun: Turnschuhe, Jeans, Pullover. Ich schminke mich weniger, gehe – auch Jahre später – nur selten feiern und widme mich hauptsächlich meinem Freund, mit dem ich auch nach der Fotogeschichte noch viele Jahre zusammenbleibe. Wenn ich einen Freund habe, kann mir niemand vorwerfen, dass ich “eine Hure” bin.

Nachdem die Fotos im Internet landen, fängt mein Vater an, morgens meine Outfits zu kontrollieren. Vorher habe ich oft tiefe Ausschnitte getragen, enge Tops und Schuhe mit Absätzen. Indem mich mein Vater kontrolliert, will er mich schützen. Aber er signalisiert mir damit auch, dass ich selbst dafür verantwortlich bin, wie andere mich sehen – und ich meinem Ruf, wenn nötig, mein selbstbestimmtes Leben opfern muss.

Ich gehe noch zwei weitere Jahre mit den beiden Jungs in eine Klasse, allein deshalb normalisiert sich unser Verhältnis. Nachdem mein Vater mit einem von ihnen telefoniert hat, entschuldigen sich beide, und ich glaube ihnen, dass sie selbst nicht damit gerechnet haben, dass alles dermaßen außer Kontrolle gerät. Ich habe keine Energie für tägliche Streitereien mit den beiden, damit schade ich in erster Linie mir selbst, denke ich. Mit meiner ehemaligen Freundin spreche ich allerdings fast zehn Jahre nicht.

Vor Kurzem hat sie mich auf Facebook geaddet, sie hat jetzt eine kleine Tochter. Für diesen Artikel schreibe ich sie an – und einen der beiden Jungs. Ich frage, was sie damals gedacht haben. Sie sagen beide, dass es ihnen Leid tue und sie sich dafür schämen. Ich habe ihnen verziehen, aber ich denke auch, dass sie niemals nachvollziehen können, wie mich die Sache bis heute prägt. “Ich wollte dir damals einfach wehtun und dich in ein schlechtes Licht rücken”, schreibt meine einst beste Freundin. Es mache sie traurig, dass es mich noch heute beschäftigt hat, sagt sie. Allerdings könne sie sich kaum noch an die Geschichte erinnern: “Das zeigt auch, dass ich nicht viel Wert darauf gelegt habe, wie du dich dabei fühlst.”

Noch Jahre danach sprechen mich Fremde auf die Fotos an

Obwohl ich nicht zu Hause sitze und Dartpfeile auf die Gesichter meiner ehemaligen Mitschüler schieße, ist der Vorfall ein Teil von mir. Noch Jahre später sprechen mich Leute in meiner Heimat verschwörerisch darauf an, dass sie mal “Fotos von mir” gesehen hätten. Vollständig überwunden habe ich den Missbrauch meiner privaten Bilder, meines Vertrauens und das anschließende Victim Blaming nie. Wenn mich heute jemand sexistisch beleidigt oder mir sagt, dass ich nicht angemessen angezogen sei, kommen meine Selbstzweifel wieder hoch. Im Prinzip weiß ich, dass ich mich kleiden kann, wie ich möchte. Trotzdem frage ich mich in solchen Momenten: Hat die Person vielleicht doch Recht und es ist unangebracht, wenn ich ein tief ausgeschnittenes Oberteil trage?

Betroffene wie ich brauchen mehr Unterstützung, sagt Anna Hartmann: “‘Revenge Porn’ ist vor allem auch eine Form geschlechtsspezifischer Gewalt”, sagt sie. Hartmann wünscht sich, dass die Gesellschaft und die Politik Sexismus, Rassismus, Homo- oder Transphobie im Internet deutlicher wahrnehmen – und dagegen vorgehen: Polizeibeamte müssten Betroffene ernster nehmen, Mitarbeitende von Beratungsstellen regelmäßig geschult werden, und Plattforminhaber sexualisierte Gewalt konsequenter löschen. Jeder, der im Netz unterwegs sei, sagt Hartmann, trage eine gewisse Verantwortung. “Wer liket, teilt oder einfach nur schweigend zusieht, trägt zur Gewalt bei”, sagt sie.

Der Moment, in dem ich verstehe, dass nicht ich die Schuld an dem trage, was passiert ist, kommt erst, als ich anfange, an der Uni feministische Texte zu lesen. Einer Kommilitonin, der ich bei einem Kaffee davon erzähle, laufen die Tränen übers Gesicht, als ich mit meiner Geschichte fertig bin: “Es ist unglaublich, was soviel Unrecht mit einer jungen Frau macht.”

Hätte mir das mit 15 jemand gesagt, hätte ich vielleicht schon früher erkannt, dass niemand das Recht hat, mich für das, was ich bin, zu verurteilen. Ich war damals zu jung, um die Situation einzuschätzen – und die Erwachsenen um mich herum zu unaufgeklärt, um richtig zu reagieren. Anna Hartmann hat Recht, wenn sie eine neue Diskussionskultur fordert. Vielleicht sind es dann irgendwann nicht mehr die Betroffenen, sondern die Täter, die ihren Ruf wiederherstellen müssen. Vielleicht wird Frauen dann nicht mehr die Schuld gegeben, wenn ihnen Unrecht angetan wird. Und vielleicht haben die Menschen irgendwann von alleine so viel Anstand, dass sie Privatfotos von anderen nicht mehr unerlaubt durch die Welt schicken.

Wenn du selbst von Cybergewalt betroffen bist, kannst du dich an eine der Beratungsstellen oder Organisationen wenden, die der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe hier aufgelistet hat.

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