Was ihr über Gewalt gegen Frauen in Deutschland wissen solltet

Manche Themen sind so schwierig oder belastend, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Eines davon ist Gewalt gegen Frauen, sei sie nun physischer, emotionaler oder sexualisierter Natur. Gewalt kennt keine Länder- oder Einkommensgrenzen, dafür aber viele Ausprägungen und alle sind auf ihre Art schlimm. Doch wo genau fängt Gewalt an und wie kann Opfern wirklich geholfen werden? Seit #aufschrei und spätestens der #MeToo-Debatte ist das Thema in Deutschland zwar gefühlt dauerpräsent, wirklich fundiertes Wissen ist jedoch häufig noch Mangelware.

Wir haben die wichtigsten Begriffe und Fakten zu Gewalt gegen Frauen gesammelt und kompakt zusammengefasst. Damit ihr für die nächste Diskussion im Familien- und Freundeskreis oder Facebook gewappnet seid.

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Abhängigkeitsverhältnis

Insbesondere die aktuelle #MeToo-Debatte macht klar: Gewalt gegen Frauen findet häufig in Abhängigkeitsverhältnissen statt. Verschiedene Betroffene schilderten, wie Filmmogul Harvey Weinstein seine Position ausnutzte, um Schauspielerinnen dazu zu zwingen, mit ihm intim zu werden – oder sie zumindest dazu zu bringen, den Mund zu halten. Wenn nicht, hätte er schließlich die Macht gehabt, ihre Karrieren zu beenden. Deswegen sind Im Berufsleben Vorgesetzte, die Frauen gegenüber Gewalt ausüben, nur schwer zur Rechenschaft zu ziehen. Viele Opfer schweigen, aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Sie sind vom Täter – oder seinem Ruf – buchstäblich abhängig.

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Doch auch im privaten Umfeld kann es andere Abhängigkeitsverhältnisse geben. Ein Mann, der die Familie ernährt, die Frau gegebenfalls zur Aufgabe des Jobs drängt und dann finanziell alle Fäden in der Hand hält, schafft ebenso ein Abhängigkeitsverhältnis wie Verwandte, in deren Haus man lebt oder auf deren Mobilität man im Alltag angewiesen ist. Frauen können auf vielfältige Art von ihren Tätern abhängig sein und deswegen nur schwer einen Schlussstrich ziehen. Ein Grund mehr, warum strukturelle Gewalt gegen Frauen so komplex und schwierig zu bekämpfen ist.

Emotionale Gewalt

Wenn über Gewalt gegen Frauen gesprochen wird, geht es häufig um körperliche oder sexualisierte Gewalt. Emotionale Gewalt ist jedoch gerade in partnerschaftlichen Beziehungen ein großer Faktor – und wesentlich schwieriger zu erkennen. Die Grenzen zwischen einem kleinen Eifersuchtsanfall und paranoider Kontrollsucht sind manchmal fließend und nicht immer direkt klar. Auch, weil uns Serien und Filme immer wieder vermitteln, dass es nicht übergriffig sondern “romantisch” ist, wenn ein Mann eine Frau trotz Abweisung immer wieder kontaktiert, mögliche Nebenbuhler bedroht oder ganz allgemein ihre Entscheidungen einschränkt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Beziehung von Christian Grey und Anastasia Steele in Fifty Shades of Grey.

Kreisläufe emotionaler Gewalt haben viele Gesichter und sind schwer zu durchbrechen, was sie umso gefährlicher macht. Eines haben sie jedoch gemeinsam: Sie geben dem Opfer das Gefühl, weniger wert und niemals im Recht zu sein Durch sogenanntes Gaslighting verdreht der Täter die Tatsachen und Aussagen immer und immer wieder, bis das Opfer den Sinn für die Realität verliert und sich blind auf die Aussagen des Täters verlassen muss. Da der Täter dem Opfer sagt, er würde nur sein bestes wollen und es lieben – es gleichzeitig aber auch verbal angreift – verstrickt sich das Opfer schnell in einem Netz aus Nähe und Gewalt. Dass das eben auch eine Form von Gewalt ist, merken viele nicht. Schließlich bleiben keine blauen Flecken.

Häusliche Gewalt

Als 2009 Fotos von Rihanna in die Öffentlichkeit gelangten, die sie nach einer Prügelattacke ihres damaligen Freundes Chris Brown zeigten, war das ein gefundenes Fressen für die Klatschpresse. Der Fall zeigte allerdings auch: Häusliche Gewalt kann jede treffen, egal ob reich oder arm, Popstar oder Kassiererin. In Deutschland sind 80 Prozent der Opfer von Gewalt in der Partnerschaft Frauen, das zeigt eine Erhebung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Über die Hälfte von ihnen lebten zum Tatzeitpunkt mit dem Partner zusammen, was uns erneut zum Thema Abhängigkeit bringt. Schließlich ist es schwieriger, sich von seinem Angreifer zu lösen, wenn man einen Haushalt und vielleicht sogar Kinder teilt.

Laut der polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes wurden 2016 fast 109.000 versuchte oder vollendete Taten gegen Frauen erfasst. Darunter fallen knapp 70.000 Fälle von vorsätzlicher, einfacher Körperverletzung, rund 17.000 Fälle von Bedrohung, fast 12.000 Fälle von gefährlicher Körperverletzung, über 7.600 Fälle von Stalking und 357 Fälle von Mord und Totschlag. Dem BMFSFJ zufolge lässt sich seit 2012 ein kontinuierlicher Anstieg der Opferzahlen feststellen. Umso wichtiger, dass Deutschland im vergangenen Jahr die Istanbuler Konvention des Europarats unterzeichnet hat. Diese tritt am 1. Februar 2018 in Kraft und enthält laut dem Ministerium “umfassende Verpflichtungen zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, zum Schutz der Opfer und zur Bestrafung der Täter”. Wie sich das ganz konkret auf Frauen auswirkt, die sich in missbräuchlichen Beziehungen befinden, wird sich allerdings noch zeigen.


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Sexuelle vs. sexualisierte Gewalt

Vielen Aktivistinnen und Medien ist es wichtig, immer wieder zu betonen, dass es sich bei Vergewaltigungen nicht um sexuelle, sondern um sexualisierte Gewalt handelt. Auch wenn der Unterschied klein scheint, drücken die beiden Wörter vollkommen andere Konzepte aus. “Sexuell” ist das zugehörige Eigenschaftswort zu Sexualität, die in erster Linie etwas sehr Schönes ist. Vergewaltigungen hingegen sind kein sexueller Akt, sie sind Gewalt, die in sexualisierter Form ausgeübt wird. Bei sexualisierten Übergriffen geht es um eine Form der Machtausübung, der Kontrolle, die sich durch erzwungene Sexualakten ausdrücken kann. Sprache beeinflusst, wie wir über bestimmte Themen denken. Deswegen ist es wichtig, auch sprachlich eine Grenze zwischen einem einvernehmlichen Akt und einer Gewalttat zu ziehen.

Gegenwehr

“Warum hast du dich denn nicht gewehrt?”, die Frage wird Opfern von Gewalt häufig noch immer gestellt. Früher wurden Selbstverteidigungskurse gar als Allheilmittel gegen Übergriffe gepriesen. Dabei gibt es für die fehlende Gegenwehr sogar wissenschaftlich fundierte Erklärungen: Das von vielen Frauen geäußerte Phänomen des Einfrierens, Tonische Immobilität genannt, ist laut einer Studie ein “unterbewusster, vorübergehender Zustand motorischer Lähmung in Reaktion auf eine Situation, die starke Angst hervorruft”. Diese Lähmung ist eine Überlebensstrategie. Denn sich zu wehren kann im schlimmsten Falle das Ausmaß der Gewalt noch steigern, etwa, wenn der Täter sich provoziert fühlt oder ein Stalker so die erwünschte Aufmerksamkeit erlangt. Gleichzeitig werden Frauen seit jeher zur Deeskalation erzogen.

Rat, wie man sich gegen andauernde Partnerschaftsgewalt wehren und im Nachgang mit einer Tat umgehen kann, bieten verschiedene Beratungsstellen, so zum Beispiel das Hilfetelefon. Damit die Last der Gegenwehr jedoch nicht allein beim Opfer liegt, fahren viele Initiativen mittlerweile Kampagnen, um die Zivilcourage von uns allen zu stärken. Hinsehen statt wegschauen, gegebenenfalls eingreifen: all das ist wichtig. Beobachtet man, wie eine Frau verbal attackiert wird, kann man sich beispielsweise ruhig zu ihr setzen, mit ihr sprechen und so versuchen, ihr auch ohne körperliches Eingreifen zur Seite zu stehen. Auch den Notruf zu wählen oder sich mit anderen Beistehenden zusammenzutun, sind gute Strategien. Wer sich selbst in Gefahr bringt, hilft dem Opfer nämlich auch nicht.

Dunkelziffer

Darüber zu reden, wie weit verbreitet Gewalt gegen Frauen in Deutschland wirklich ist, ist schwierig. Die Dunkelziffer von Gewalttaten ist hoch, polizeilich registriert wird nur ein Bruchteil. Rund 35 Prozent aller Frauen erleben in ihrem Leben körperliche und/oder sexualisierte Gewalt. Als Opfer erfasst wurden in 2016 jedoch nur 133.000 Personen, die sich bei der Polizei meldeten. Bei sexualisierter Gewalt ist die Dunkelziffer besonders hoch, auch weil die Beweislast so schwierig ist. Eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von 2012 zeigte: Nur bei drei bis vier Prozent der Fälle kommt es zu einer Anzeige und einem Gerichtsverfahren.

Die Gründe dafür, warum die Gewalttaten weder angezeigt noch überhaupt jemandem anvertraut werden, sind vielfältig. Viele Frauen schämen sich oder halten die erlebte Gewalt für zu geringfügig. Andere haben Angst, von ihrem Umfeld dafür geächtet zu werden oder befinden sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Täter. Außerdem kann es Opfer zusätzlich traumatisieren, wenn sie durch medizinische Untersuchungen und Aussagen gegenüber Polizei die Tat immer und immer wieder durchleben müssen. Viele versuchen deswegen lieber, Übergriffe möglichst schnell und ohne großes Aufheben hinter sich zu lassen – und auch diese Entscheidung muss akzeptiert werden.

Täter-Opfer-Umkehr

Egal ob es um eine Ohrfeige geht oder eine Vergewaltigung: Oft hört man das Argument, dass das Opfer den Täter zur Tat provoziert hätte – und das nicht nur von den Leuten, die übergriffig oder gewalttätig geworden sind. In einer Umfrage der Europäischen Kommission gaben 27 Prozent der Befragten beispielsweise an, dass Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein könne. Das Märchen, dass Frauen in kurzen Röcken sich nicht wundern müssen, wenn sie vergewaltigt werden, hält sich auch 2018 noch hartnäckig. Und auch bei anderen Gewaltformen greift das sogenannte Victim Blaming, bei dem dem Opfer die Schuld am Handeln des Täters in die Schuhe geschoben wird.


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Ob sich im Ton vergreifen, etwas Unangemessenes sagen oder einfach nur Widerworte geben – die Rechtfertigungen für eine Eskalation sind so vielfältig wie absurd und führen häufig in eine Spirale der Gewalt, in der die Opfer schon für einen falschen Blick oder einen falschen Satz “bestraft” werden. Sucht sich eine Frau dann Hilfe, heißt es oft, sie hätte das schon viel früher tun sollen. Eine unmittelbare Strafverfolgung habe sie so zumindest teilweise selbst verschleppt und etwaige nachfolgende Gewalt selbst verschuldet. Die Frauen werden zu (Mit-)Schuldigen erklärt und im schlimmsten Falle sogar für weitere Gewalttaten gegenüber anderen Frauen verantwortlich gemacht.

Rape Culture

Der Begriff Rape Culture beschreibt Gesellschaften, in denen sexualisierte Gewalt verbreitet ist, normalisiert und weitgehend toleriert wird. Die sogenannte “Vergewaltigungskultur” ist ein globales Problem, ob in den USA, im Iran, in Indien, oder Deutschland, und zeigt sich in der Nutzung frauenfeindlicher Sprache, der Objektifizierung des weiblichen Körpers oder der Verherrlichung sexualisierter Gewalt. Und die gibt es eben nach wie vor. So ist erst seit 1997 eine Vergewaltigung in der Ehe auch als solche strafbar. Als Grünen-Politikerin Petra Kelly das Thema 1983 im Bundestag ansprach, wurde sie ausgelacht. Auch heute noch werden Gewalttaten bagatellisiert und als “Ehedramen” kleingeredet – sowohl in Deutschland, als auch in anderen Teilen der Welt. Magazin- und Zeitungscover sprechen von “Sex-Banden”, “Sex-Attacken” oder einem “Sex-Mob”, anstatt die Straftaten als Vergewaltigungen zu bezeichnen.

Doch Rape Culture fängt schon viel früher an. Wenn im Radio mal wieder “Blurred Lines” von Robin Thicke dudelt, zum Beispiel. In dem Song wird minutenlang besungen, wie Thicke sich an eine Frau ranmacht, von der er angeblich weiß, dass sie es auch “will”. Sie zeigt es ihm nur eben nicht, weil sie ein “gutes Mädchen” ist. Grenzüberschreitungen werden als selbstverständlich dargestellt, Übergriffigkeit verharmlost und am Schluss kann jeder mitsingen, weil der Refrain so eingängig ist. Das alles mag im ersten Moment harmlos klingen, schließlich ist es nur ein Popsong mit Ohrwurmpotenzial. Der Gedanke dahinter bleibt aber gefährlich: Männer wissen besser als Frauen, was Frauen wollen, Consent ist optional.

“Opferabo”

“Das ist das Opfer-Abo, das Frauen haben. Frauen sind immer Opfer, selbst wenn sie Täterinnen wurden”, sagte Jörg Kachelmann in einem Spiegel-Interview nach dem Prozess gegen seine Ex-Geliebte, die ihm (fälschlicherweise) vorgeworfen hatte, sie vergewaltigt zu haben. Der 2012 zum “Unwort des Jahres” gekürte Begriff suggerierte, dass Frauen ihr “Opfer-Sein” ausspielen würden. Mehr noch: Hinter der Aussage steckt der Vorwurf, dass Frauen systematisch falsch beschuldigen würden, weil ihnen bei der Schilderung von (sexualisierter) Gewalt immer geglaubt werde. Expertinnen zufolge werden Falschbeschuldigungen als Phänomen jedoch häufig überbewertet.

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Der Begriff “Opferabo” suggeriert, mit dem weiblichen Geschlecht und des dadurch höheren Risikos, Gewalt zu erleben, erhielten Frauen eine Art Privileg. Das ist natürlich Unsinn. Opfer einer Gewalttat zu werden, hat negative emotionale und körperliche Folgen, häufig ziehen sie auch finanzielle Einschnitte oder Probleme mit der Wohnsituation nach sich – sei es durch Anwaltskosten, Verdienstausfälle, dem Verlust des Arbeitsplatzes oder weil man aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen muss. Eine Traumatisierung kann jahrelange Spätfolgen bedeuten. Immer noch ist das Stigma sehr groß, “Opfer” geworden zu sein, es kommt schließlich nicht von Ungefähr, dass “Opfer” immer noch ein beliebtes Schimpfwort ist. Der Begriff des “Operabos” zieht diesen Schmerz ins Lächerliche – und somit auch alle Menschen, die jemals Opfer werden mussten.

Opferschutz

Es gibt verschiedene Gründe, aus denen es für Opfer schwierig ist, sich Hilfe zu suchen. Sei es nun, weil sie ihren Angreifer persönlich kennen – oder den Fremden nicht beschreiben können –, weil sie glauben, selbst Schuld an der Gewalt zu sein (siehe: Victim Blaming), weil sie nicht wissen, wohin sie flüchten sollen, oder weil sie Angst davor haben, nicht ernstgenommen zu werden. Dabei sollte niemand mit seinem Trauma alleine gelassen werden. Beratung und Hilfestellung gibt es beispielsweise beim Weißen Ring oder dem Hilfetelefon. Die Frauen gegen Gewalt e.V. bietet eine Datenbank mit Hilfsorganisationen, und neben vielen weiteren Angeboten gibt es auch einen anonymen Chat auf gewaltlos.de.

Weitere Beratungsangebote, auch in verschiedenen Fremdsprachen und in leichter Sprache, findet ihr hier. Für Frauen, die ihre Täter vor Gericht bringen, gibt es seit dem 1. Januar 2017 den Anspruch auf eine psychosoziale Prozessbegleitung, die Frauen auf den Prozess vorbereitet und auch konkret vor Ort unterstützen kann. Trotzdem: Bisher nutzen nur etwa 20 Prozent der Frauen, die Gewalt erfahren, die Hilfsangebote. Gleichzeitig kamen allein in Berlin 2014 rund 827 Frauen und 1042 Kinder auf die Wartelisten von Frauenhäusern. Es bleibt also viel zu tun.

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