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Immer dieses Internet!

Was wir von YouTube-Stars lernen können

Warum berichten Leute wie Dagi Bee und Herr Tutorial eigentlich noch nicht aus den Krisenherden dieser Welt?

Habt ihr schonmal von Dagi Bee gehört? Macht nichts, ich bis heute auch nicht, aber ich kann das jetzt schnell erklären: Dagi Bee ist der Name, unter dem ein blondes Teenie-Mädchen Videos auf YouTube hochlädt. In den Videos quasselt sie sehr viel belangloses Zeug und gestikuliert dabei, als wäre sie statt von echten Menschen von Figuren aus Toy Story großgezogen worden. Hier ein typisches Beispiel:

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Wenn ihr jetzt böse auf mich seid, weil ich eure wertvolle Lebenszeit darauf verschwendet habe: Es tut mir leid, aber ich musste das tun! Ihr könnt das im eingebetteten Clip nicht sehen, aber dieses Video wurde über eine Million Mal angeschaut. Damit ist es automatisch relevant—findet jedenfalls Andreas Rickmann, ein Journalist, der darüber einen Blogpost mit dem Titel „Wie wir ignorieren, was junge Menschen bei Facebook, Twitter und Youtube interessiert“ geschrieben hat.

Wer jetzt dachte, dass Rickmann uns darin wirklich eine praktische Anleitung an die Hand gibt, wie wir derartigen Mist möglichst effektiv ignorieren können (Filter für alle Inhalte, die von Menschen unter 18 erstellt werden? Programme, die alle Tweets mit Herzen aussortieren? #YOLO-Blocker?)—weit gefehlt! Es geht Rickmann genau ums Gegenteil: Tief betroffen gibt er zu, „wie wenig ich eigentlich darüber weiß, was ganz offenbar viele junge Menschen bei Twitter und in sozialen Medien interessiert - und wie sehr man digitale Welten ignoriert, die doch eigentlich extrem wichtig für jeden sein sollten, der sich mit Medien beschäftigt.“

Warum? Warum sollte das extrem wichtig sein? Für Rickmann ist das klar: „@dagibeee hat auf Twitter mehr Follower als Focus Online. Über 850.000 Menschen haben ihren Youtube-Kanal abonniert. Ihre Videos dort haben zwischen 300.000 und mehr als 1 Million Klicks.“

Das imponiert Rickmann, der selbst knapp über 3.000 sicher hart erkämpfte Twitter-Follower sein Eigen nennt, offensichtlich sehr. Völlig entgeistert berichtet er, dass Dagi und andere YouTube-Hampelmänner mehr Follower haben „als viele Medienhäuser, TV-Schauspieler oder Bundesliga-Spieler … Sie können mit einem Tweet Trends setzen, was manche Fernseh-Sendungen mit einem Millionen-Publikum nicht schaffen … So [sic] sind dort, wo sich junge Leute aufhalten, sie sprechen junge Leute an, sie begeistern junge Leute.“ Aber was ist ihr Geheimnis? „Sie erstellen die Inhalte, die sich junge Leute wünschen.“

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No shit, Sherlock. Was haben wir gelernt? Sehr viele Teenies schauen sich gerne das seichte Geplapper von einem kleinen Haufen noch narzisstischerer Teenies an, und allesamt verbringen sie viel zu viel Zeit vor dem Computer. Halb so wild, aber wen außer der Marketing-Abteilung vons.Oliver muss das interessieren? Sobald diese Kinder älter werden, werden sie damit aufhören, und die YouTube-Stars von heute werden ihren beeindruckenden Selbstdarstellungsdrang entweder in echte Karrieren übersetzen oder irgendwann sehr viel Geld für Psychotherapeuten ausgeben müssen. Für jeden denkenden Menschen geht die Relevanz dieser Trends trotzdem gleich null.

Aber nicht für Rickmann! „Wer sich weigert, die Bedürfnisse und Lebensräume von jungen Leuten in der digitalen Welt anzuerkennen“, mahnt er, „sich nicht mit nicht ihnen auseinandersetzt, sie ignoriert, weil es am bequemsten ist, der wird in Zukunft ein Problem bekommen.“ Was für ein Problem denn, Rickmann? Dasselbe Problem, das all die Journalisten bekommen haben, die ihre Berichterstattung vor 15 Jahren nicht auf den Geschmack der Pokémon-Fans abgestimmt haben? Das Problem, das all die Korrespondenten hatten, die ihre Nahost-Analysen nicht mit Dragonball-Z-Analogien gespickt haben? Es gab auch mal eine ganze Menge Teenie-Mädchen, die gerne die Wendy gelesen haben—wie konnten die Macher der Tagesschau in den 90ern das so sträflich vernachlässigen? Nach dieser Logik hätten alle Nachrichten seit 2005 in Doge-Sprache verfasst werden müssen—schließlich fanden das auch mal ein paar Millionen Menschen gut. Very relevance, much interesting!

Lesenswert für alle Medienleute MT“@a_rickmann: Wie wir ignorieren, was junge Menschen im #socialmedia interessiert: http://t.co/Gn8y5fwKZV

— Merle Schlesselmann (@MerleSch) 4. August 2014

Ist es nicht, Merle.

Die Vorstellung, wie Rickmann und Kollegen jetzt mit ernster Miene vor den Videos von Dagi, Sami Slimani und Co. sitzen und akribisch versuchen, aus deren Geseier Techniken zu destillieren, mit denen sie ihre Inhalte dann „jungen Menschen“ schmackhaft machen können, ist genauso erheiternd wie deprimierend. Und wie soll das aussehen? Will Rickmann, dass man ab jetzt Schminktipps und Augenroller einbaut, wenn man über den Bürgerkrieg in der Ukraine berichtet? Soll man versuchen, die geballte Macht der #bienchen in eine knallharte Tweet-Kampagne gegen die #Hater von der ISIS umzuleiten?

Gegenvorschlag: Wir machen es einfach wie immer, ignorieren diese Trends so gut wie möglich und danken Gott auf Knien dafür, dass wir keine Kinder in dem Alter haben und uns deshalb nicht mit dem Zeug beschäftigen müssen. Es ist nicht die Schuld der Teenies, dass wir dank Smartphones und Internet jetzt wirklich jeden Mist verfolgen können, den sie sich gegenseitig erzählen. Wir sollten ihnen den Gefallen tun, es zu ignorieren, und sie nie, nie wieder darauf ansprechen.