Was ich von der Arbeit bei IKEA über Menschen gelernt habe

Ich habe unzählige Samstage während meines Psychologiestudiums in einer Schweizer Ikea-Filiale gearbeitet. Die Erfahrungen dort haben mich tiefer in die Abgründe des menschlichen Wesens blicken lassen als manche Verhaltenspsychologievorlesung.

Wer schon mal die Entscheidung getroffen hat, einen verregneten Tag im grossen schwedischen Möbelhaus zu verbringen, weiss, wie sich die Apokalypse anfühlt. Bevor man Kötbullar sagen kann, befindet man sich in einem Glück-verschlingenden Monster, das WGs entzweit und Scheidungsanwälte mit Arbeit versorgt.

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Wenn ich an die samstägliche Menschenmasse zurückdenke, erinnere ich mich gerne an die weisen Worte eines ehemaligen Kollegen: “Weisst du, ich würde echt gern hier arbeiten. Wenn nur die Kunden nicht wären.” Während einer Schicht bist du ihnen knappe 30.000 Sekunden ausgesetzt, in denen sie dich mit hunderten Fragen bombardieren. Und egal was dein Grundschullehrer behauptet hat, dumme Fragen existieren. Menschen, die dem widersprechen, haben keine Sekunde ihres Lebens im Verkauf gearbeitet. Ich habe die Top-8 der Fragen aufgelistet, die man mir über die Jahre hinweg so gut wie jeden Samstag immer wieder gestellt hat:

  1. “Passt das in meinen Smart?” (Kunde zeigt auf ein 240 Zentimeter langes Paket)
  2. “Verkaufen Sie auch Goldfische?”
  3. “Muss ich den Kleiderständer da drin noch montieren?” (Kunde zeigt auf ein Mini-Paket)
  4. “Wenn die Lieferpauschale immer pauschal 15 Prozent ist, weshalb behaupten Sie denn jetzt, dass das immer teurer wird, je grösser der Betrag?”
  5. “Haben sie diese hübschen Mitarbeiter-Shirts eigentlich auch im Sortiment?”
  6. “Muss ich das jetzt echt selber zusammensuchen?”
  7. “Wenn hier Regal 5 steht, muss ich dann da vorne ins Regal 5?”
  8. “Höhö, du juu schpiik Tschörmen?” (Ich trage ein Namensschild mit der englischen Flagge)

Und jetzt alles zusammenbauen | Foto von Tzuhsun Hsu | Flickr | CC BY-SA 2.0

Die bewährte Coping-Strategie als Mitarbeiter? Man antwortet freundlich und schreit innerlich “Nein, du Depp, das ist physikalisch nicht möglich!” oder “Nein, du Vollhorst, der Kleiderständer hüpft nicht einfach so aus dem viel zu kleinen Karton heraus!”.

Zugegeben, ohne Stresssituation, tun diese Fragen keinem weh. Wenn aber zum gefühlt hundertsten Mal ein “Ich war zuerst da”-Kleinkrieg zwischen Kunden in der Warteschlange ausbricht, dir von links und rechts je ein Kleinkind ins Ohr brüllt und dein Chef dir mitteilt, dass du schon seit 40 Minuten in der Pause sein solltest, wird die Fragerei zur Tortur.

Hinzu kommt, dass einige Kunden eine schier unfassbare Respektlosigkeit an den Tag legen. Ich kann gar nicht aufzählen, wie oft ich direkt als dumm oder unfähig bezeichnet worden bin. Ich kann nicht sagen, wie oft ich angebrüllt wurde, wie oft mir ältere Typen auf die Brüste glotzten, obwohl ihre Ehefrau keine 10 Zentimeter neben ihnen stand.

Der Glückrausch | Foto von Andrew Wilkinson | Flickr | CC BY-SA 2.0

Zu oft habe ich aus der Ferne ein lautes, energisches Schnippen oder ein “He, komm her!” von Kunden gehört, denen es zu blöd war, sich in meine Richtung zu bewegen. Den Höhepunkt aller Respektlosigkeit erlebte ich, als eine Mutter ihrer Tochter schön laut sagte, dass sie doch immer schön brav Hausaufgaben machen und in der Schule gut aufpassen soll, sonst ende sie dann auch mal als Ikea-Mitarbeiterin.

Ich habe es mit gutwilligen Ansätzen wie Überzeugungskraft oder Extraversion versucht und bin gescheitert. Mit der Zeit setzte sich eine ernüchternde Erkenntnis durch—der gute Möbelhausverkäufer beherrscht vor allem eines: emotionale und kognitive Impulskontrolle.

Fällt ein Kind vor mir auf die Nase, denke ich mir hinter meinem steinernen Verkäuferinnenlächeln: “Meh, das stärkt den Charakter.” Sehe ich drei Typen, die ein offensichtlich abmontiertes Ausstellungsstück auf dem Buckel Richtung Kasse schleppen: “Meh, das stärkt ihre Muskeln.”

Die wahre Kunst ist aber, nicht nur negative Emotionen zu unterdrücken, sondern auch positive. Um den Kunden ein gutes Einkaufsgefühl zu vermitteln, wurde mir eingebläut, dass ich niemals laut loslachen darf, egal wie dämlich sie sich benehmen. Vor allem wenn es um Sonderangebote geht, scheinen bei einigen Shoppern die Sicherungen durchzubrennen. Einmal hatten wir schon halb-vertrocknete Orchideen für 1.95 Franken im Angebot. Zwei Frauen stritten sich um die letzte Pflanze. Die eine riss der anderen den Blumentopf aus der Hand, daraufhin wurde sie kurzerhand von einer anderen Frau mit einer handvoll Erde beschmissen. Häufig sehe ich auch aufgestylte Frauen in Highheels, die versuchen, ihre Pakete in den Einkaufswagen zu hieven und die dabei so sehr schwitzen, dass ihr ganzes Make-up verläuft.

Ich sollte natürlich auch nicht lachen, wenn ich über die Lautsprecher höre, dass eines der Kinder im Böllelli-Pool den Durchfall des Jahrtausends hatte und jetzt das ganze Kinderparadies evakuiert werden muss. Aber manchmal kann man einfach nicht anders.

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Titelfoto von rarye | Flickr | CC BY-SA 2.0