Hier die USB-Sticks. Da die verschlüsselten Festplatten. Im Gepäck die streng geheimen, gestohlenen Powerpoint-Präsentationen der NSA. Und die Kamera läuft. Er hatte sich so gut vorbereitet: Als Edward Snowden im Juni 2013 den NSA-Enthüllungen in Hongkong ein Gesicht und einen Namen gab, ließ er im Interview kein Detail aus – und fiel danach erschöpft ins Bett. Nur an eine Kleinigkeit hatte er nicht gedacht: Dass es auf der ganzen Welt keinen sicheren Ort mehr für ihn geben würde, nachdem die Bombe geplatzt war.
Das Gesicht des Whistleblowers flimmerte bereits millionenfach über die Bildschirme des Globus, da klingelte beim Menschenrechtsanwalt Robert Tibbo das Telefon. Edward Snowden, der Mann auf allen Kanälen, saß in seinem Hotel in Hongkong fest, von allen gejagt. Es begann ein Wettlauf gegen die Zeit und ein echter Spionagekrimi. Tibbo überlegte nicht lang: Es gab nur einen Ort, an dem er seinen bisher ungewöhnlichsten Mandanten verstecken konnte.
Videos by VICE
Snowden floh mit Tibbos Hilfe unbemerkt aus dem Luxushotel Mira in die provisorischen Baracken der Hongkonger Slums, wo ein Großteil seiner Klienten hauste. Knapp zwei Wochen würde Snowden nun ganz unten leben. Sein Versteck verließ er erst wieder, um in einer Nacht- und Nebelaktion ein Flugzeug Richtung Moskau zu besteigen, wo er bis heute gestrandet ist.
Über Jahre wusste so gut wie niemand, wo sich Snowden in diesen zwei Wochen befand. Zu den wenigen Insidern zählten neben dem kanadischen Anwalt Robert Tibbo vier weitere Menschen. Sie heißen Ajith, Vanessa, Supun und Nadeeka. Ohne sie hätte der Whistleblower in jenen dramatischen Junitagen im Jahr 2013 vielleicht nicht überlebt. Als die Welt noch damit beschäftigt war, ihn für seinen Mut als Whistleblower zu bewundern, versteckten und versorgten Ajith, Vanessa, Supun und Nadeeka ihn selbstverständlich in ihren winzigen Behausungen. Die Menschen, die ihm Obdach gaben, verstanden seine Situation sofort, denn schließlich sind sie alle selbst Flüchtlinge.
Doch obwohl tausende Menschen weltweit Anteil an der unglaublichen Geschichte nahmen, hat sich die Welt für die „Hong Kong Four” nicht weitergedreht. Seit langer Zeit machen die Behörden in Hongkong den vier Erwachsenen und ihren drei Kindern das Leben auf vielfache Weise zur Hölle. Die stillen, großen Verlierer der Snowden-Enthüllungen sind ausgerechnet die Menschen, die ihm in großer Solidarität halfen, obwohl sie selbst fast nichts mehr zu verlieren haben.
„Ich hatte Angst, sie mit mir runterzuziehen“, gab Snowden in einem Interview mit der kanadischen Zeitung National Post im vergangenen Jahr zu. Wie sich nun herausstellte, war diese Angst nicht unbegründet. In den vergangenen Wochen haben wir mit Snowdens Rettern sowie ihrem gemeinsamen Anwalt Robert Tibbo mehrmals gesprochen, um herauszufinden, wie es ihnen heute geht, seit die Flüchtlinge im Sommer 2016 durch eine Recherche des Handelsblatts und der kanadischen National Post ein Gesicht bekamen. Die Antwort ist eindeutig – und sie ist schwer zu ertragen: Ihre Lage hat sich massiv verschlechtert.
Die Geschichten von Vanessa, Supun, Nadeeka und Ajith geben einen Einblick in die oftmals vergessenen Abgründe globaler Flüchtlingspolitik: Über 300 Seiten aus Motherboard vorliegenden Dokumenten beweisen, wie menschenverachtend Hongkong mit Schutzsuchenden und Folteropfern umgeht, wenn die Welt nicht hinsieht. Der Stadtstaat hat die wichtigsten internationalen Flüchtlingsabkommen nicht ratifiziert und die Versorgung von Schutzsuchenden an eine lokale Organisation mit Hauptsitz in Genf ausgelagert. Der Name der lokalen Zweigstelle: International Social Service Hong Kong Branch (ISSHK). Sie entscheidet über das Wohl der Flüchtlinge und ist gleichzeitig der Handlanger der Regierung. ISSHK weist die Vorwürfe, Flüchtlinge nicht ausreichend unterstützt oder sie wegen „angeblichem Kontakt mit Edward Snowden” zu bestrafen, als „komplett unbegründet” zurück. Interviews mit den Flüchtlingen und Motherboard vorliegende Dokumente zeigen allerdings, dass die Organisation diejenigen, die sie eigentlich unterstützen sollte, massiv gängelt. Edward Snowden selbst bezeichnet die Behandlung von Flüchtlingen in Hong Kong schlicht als „kriminell”.
Snowdens Geschichte ist wichtig, aber auch schon tausendfach erzählt und besprochen worden. Hier möchten wir diejenigen zu Wort kommen lassen, die keine Lobby haben, deren Rechte permanent beschnitten werden, und die doch mehr Mut gezeigt haben, als die meisten von uns je in ihrem Leben behaupten könnten.
Die Erstaufnahme: Supun Thilina Kellapatha und Nadeeka Dilrukhsi Nonis
Supuns Schulweg war gepflastert mit enthaupteten Schülern, die die Polizei zur Abschreckung gegen Aufrührer an die Zäune hing. Eigentlich war er ein erfolgreicher Cricketspieler, doch dann musste der heute 32-Jährige inmitten des blutigen Bürgerkriegs aus seiner Heimat Sri Lanka fliehen. Der banale Grund: Seine Familie unterstützte die „falsche” Partei. Seit zwölf Jahren ist er jetzt in Hongkong und versucht, Asyl zu beantragen.
Auch seine Freundin Nadeeka stammt aus Sri Lanka. Seit ihrem 18. Lebensjahr nähte sie dort sechs Tage pro Woche Babykleidung für Nike und Marks & Spencer. Die Geschichte, die sie zur Flucht zwang, ist in einem Satz zusammengefasst und doch nur schwer zu ertragen: Ein einflußreicher Regierungsbeamter wurde in ihrem Heimatland erst zu einem unnachgiebigen Stalker und dann wiederholt zu ihrem Vergewaltiger.
In Hongkong lernte Nadeeka Supun kennen. Die beiden wurden ein Paar. Weil sie in der Finanzmetropole geboren sind, sind ihre zwei kleinen Kinder im Alter von acht Monaten und fünf Jahren beide staatenlos. Es war die enge Wohnung der jungen Familie, in der Snowden zuerst Unterschlupf fand. Als der übernächtigte Whistleblower bei ihnen auftauchte, ließen sie ihn in dem einzigen Bett schlafen, das sie haben.
Doch auch ihre Situation hat sich inzwischen noch einmal zugespitzt: Anfang Januar musste die kleine Familie ihr Zuhause überstürzt verlassen – nachdem Ermittler der berüchtigten Polizeieinheit CID aus Sri Lanka versucht hatten, die beiden Migranten in Hongkong aufzuspüren (Eine Behauptung, die Sri Lanka trotz anderslautender BBC-Berichte abstreitet).
Wir erreichen Supun per Skype in einem Safehouse, in das der Anwalt die Familie gebracht hat.
Motherboard: Wie geht es euch gerade?
Supun: Ich fühle mich nicht sicher. Wir müssen von Tag zu Tag sehen, wie wir klarkommen. Meine Freundin Nadeeka hat große Angst. Wir wurden bedroht und unser Anwalt hat uns gesagt, dass wir unser Zuhause sofort verlassen müssten. Jetzt ziehen wir von Ort zu Ort. Meine Tochter fragt, wann wir endlich nach Hause können, und sie fürchtet sich. Außerdem versteht sie nicht, warum sie nicht in die Schule gehen darf. Sie sieht andere Kinder in Schuluniform auf der Straße und möchte auch gern dabei sein.
Wie war es für euch, einen Whistleblower zu verstecken?
Er hat uns alle sehr beeindruckt – meine Tochter fragt immer noch nach ihm. Ich wusste schon bei unserem ersten Treffen, dass er das Zeug zum Helden hatte, er schien mir einfach ein aufrichtiger Mensch zu sein. Mir wurde aber währenddessen auch klar, dass sein Besuch bei uns nicht nur ein Risiko, sondern auch eine einmalige Chance für uns sein kann. Ansonsten würden wir nie gehört werden. Daher haben wir versucht, nicht an die Konsequenzen zu denken.
Hast du dich jemals jemandem anvertraut?
Nein. Dass wir ihm geholfen haben, ist ein Geheimnis, das wir alle über drei Jahre für uns bewahren mussten – selbst vor der eigenen Familie. Das war hart. Meine Eltern wussten, dass er in Hongkong ist, meine Brüder haben beim Telefonieren über ihn gesprochen, im Bus redeten die Leute über Snowden, weil sein Gesicht überall war. Und ich konnte niemandem erzählen, dass dieser Typ gerade bei mir zu Hause wohnt.
Gibt es Veränderungen für dich und Nadeeka, seitdem ihr Snowden beherbergt habt?
Snowden hat unser Leben verändert. Bevor ich ihn getroffen habe, hatte ich mich fast aufgegeben. Man kann viel von ihm lernen: Er ist kein Selbstdarsteller, er hat keine Armee hinter sich, er ist ein einzelner, leiser Typ. Aber er hat nie aufgegeben und einfach erzählt, was alle wissen sollten. Es war gefährlich, was er gemacht hat, und er ist auf heftige Widerstände gestoßen. Trotzdem war er so geduldig und mutig, weil er wusste, dass er das Richtige tut. Und heute ist das vielen Menschen klar, es wurde sogar ein Film über ihn gedreht. Ein bisschen wie Phoenix aus der Asche. So möchte ich auch sein. Ich will einfach weitermachen, auch für meine Familie.
Es ist also zweischneidig: Einerseits fürchten wir aktuell um unsere Sicherheit und Zukunft. Andererseits hat uns diese Begegnung unsere Träume und Hoffnung zurückgegeben.
Was denkst du darüber, dass Snowden in relativer Sicherheit ist und du nicht?
Ich habe ihn zum Abschied gebeten: Bitte, rede über unser Schicksal, wenn du in Sicherheit bist, ich will eine Zukunft haben. Er sagte: „Ja Mann, mache ich auf jeden Fall.” Das hat er auch, also hat er mir geholfen. In den letzten drei Jahren war er still, weil er dachte, dass sich unsere Situation längst verändert hätte. Hat sie aber nicht. Wir sind immer noch hier.
Was kann denn getan werden, um deine Situation zu verbessern?
Die Behörden haben keinen Respekt vor Menschen aus dem Slum. Erst nach dem Film-Release verstanden sie, dass die Welt nun kurz auf uns schaut – und damit auch auf sie. Natürlich habe ich Angst, dass man uns etwas anhängt und dass unser Antrag abgelehnt wird. Aber ich bin ein Mensch und ich habe Rechte – das hab ich von Snowden und meinem Anwalt gelernt. Ich kämpfe nie mit meinen Händen, sondern mit meinen Worten.
Ich bin aber auch dankbar – ich hätte überhaupt nichts zu essen, wenn es ISSHK nicht gäbe. Ich möchte nicht undankbar wirken. Wegen ihnen konnte ich zwölf Jahre hier überleben.
Ich möchte auch, dass andere Flüchtlinge nicht denken, dass wir uns in den Vordergrund spielen. Wir möchten, dass allen geholfen wird. Es wäre schön, wenn wir allen Flüchtlingen das sagen können, auch denen, die kein Englisch oder Chinesisch sprechen. Ich möchte, dass wir zusammenhalten und keine Feindschaft unter uns entsteht. Wir kämpfen für die Rechte von Flüchtlingen weltweit. Ich will, dass alle eine gute Zukunft haben und nicht nur wir.
Wie sieht deine ideale Zukunft aus?
Ich weiß ziemlich genau, was ich will: Studieren. Irgendwann auf eigenen Beinen stehen. Ich weiß nicht, ob das in Hongkong möglich ist. Aber ich habe keinen Ort, an den ich gehen kann.
Warum es Flüchtlingen im reichen Hongkong besonders schlecht geht
Hongkong hat eine lausige Bilanz vorzuweisen, wenn es um die Anerkennung von Flüchtlingen geht, die vor Folter in ihrer Heimat fliehen und um Asyl bitten: Sie lag für 2014 und 2015 bei unglaublichen 0.56 Prozent. Zum Vergleich: Im Durchschnitt liegt die Akzeptanzquote in Industriestaaten bei rund 43 Prozent, in anderen Ländern sogar noch höher. „Das System ist unvorstellbar ungerecht”, klagt der Menschenrechtsanwalt Robert Tibbo. Das Urteil über Asylgesuche fällt häufig erst nach einem Jahrzehnt.
Hongkong „stellt von vornherein alle Schutzsuchenden als Ausbeuter des Systems dar”, heißt es im jüngsten Bericht des UN-Komitees gegen Folter.
Bis dahin müssen die Flüchtlinge nicht nur täglich ums nackte Überleben kämpfen, sondern werden auch in den lokalen Medien regelmäßig als Wurzel allen Übels dargestellt. Das gern verbreitete Bild vom “bogus refugee” – dem Wirtschaftsflüchtling aus Südostasien, der sich eine schlimme Geschichte ausdenkt, um in Hongkong bleiben zu können – glaubt ein großer Teil der Einwohner tatsächlich. Vielen Verantwortlichen in der Finanzmetropole ist das Schicksal von Einwanderern auch einfach egal.
In der wohlhabenden chinesischen Sonderverwaltungszone kümmert sich die Regierung nicht selbst um humanitäre Hilfe für die Schwächsten – diese Aufgabe hat sie gegen etwas Geld ausgelagert. Die humanitäre Versorgung der rund 12.000 Schutzsuchenden soll ein Vertragspartner übernehmen: die International Social Service Hong Kong Branch (ISSHK).
Die Dokumente, die Motherboard zugespielt wurden, zeugen von Schikanen und einem zermürbenden und degradierenden Kleinkrieg zwischen der gesetzlichen Vertretung der Asylbewerber und dem Vertragspartner der Regierung, der ihnen in vielen Fällen selbst die grundlegendsten lebensnotwendigen Leistungen vorenthält: Da wird unangemeldet der Strom abgestellt, die finanzielle und materielle Unterstützung komplett gestrichen, oder es gibt einfach mal nichts zu essen oder einen Monat lang nur Reis und ein abgelaufenes Tiefkühlhähnchen von einer Essensausgabe am anderen Ende der Stadt. Jeden Monat muss die Beihilfe durch persönliche Vorsprache neu verhandelt werden – obwohl niemand Geld verdienen darf. Die Behausungen, in die Hongkong einige der Flüchtlinge zum Leben schickt, während ihr Antrag jahrzehntelang ignoriert wird, spotten jeder Beschreibung: undichte Dächer, Ungeziefer, keine abschließbaren Türen, keine Privatsphäre und kein Platz, wie von der Hilfsorganisation Vision First hochgeladene Bilder zeigen.
Flüchtlinge in Hongkong leben auf Schweinefarmen, in Baracken oder auf Mülldeponien – sanktioniert von der Regierung.
Für Snowden jedoch war die ausweglose Situation der Flüchtlinge eine Chance: Weil sich niemand für ihr Schicksal interessiert, boten ihre gedrängten Slum-Unterkünfte das beste Versteck für einen gejagten Whistleblower. „Mitten in der Stadt, wo niemand suchen würde”, fasst es Robert Tibbo zusammen. „Flüchtlinge sind derart ausgegrenzt, dass sie Hongkongs ganz eigene Version der Unantastbaren sind”, berichtet der Anwalt Tibbo auf dem Hackerkongress 33c3 in Hamburg.
Seit Hongkong als ehemalige britische Kolonie an China zurückgegeben wurde, war die Menschenrechtssituation noch nie so dramatisch schlecht wie heute, wie ein aktueller Bericht von Amnesty International bilanziert. Flüchtlinge leben in Hongkong häufig unter erbärmlichen Bedingungen in Slums neben Mülldeponien, auf Schweinefarmen oder in stickigen Baracken in der Stadt. Arbeiten ist ihnen in Hongkong streng verboten. Wer erwischt wird, dem drohen drakonische Gefängnisstrafen von bis zu zwei Jahren. Gleichzeitig ist Hongkong eine der teuersten Städte der Welt. Zu trauriger Berühmtheit kamen vor einigen Jahren die Hongkonger Cage People: Menschen ohne Papiere und Arbeit, die in winzigen Käfigen für umgerechnet 1500 Euro im Monat hausen.
„Die Behörden haben klar gezeigt, dass es für sie ok ist, wenn Flüchtlinge verhungern.”
Was die ISSHK den Flüchtlingen an Hilfen zusichert, mag sie ungern herausrücken. Unsere Anfragen nach den genauen Vertragsbedingungen zwischen der ISSHK und der Regierung blieben unbeantwortet. Stattdessen verweist die Organisation auf die eigene Website, wo der Umfang der Dienste aufgelistet wird: „Die Leistungen (…) decken die Grundbedürfnisse an Ernährung, Transport und Unterbringung”, heißt es da. Die uns vorliegenden Dokumente zeigen, dass das längst nicht in allen Fällen funktioniert. Das erklärte Ziel der ISSHK-Arbeit wirkt angesichts der Lage, in der sich Snowdens Gastgeber befinden, geradezu zynisch: „Die Vermeidung der Verelendung.”
Motherboard hat ISSHK und der Genfer Zentrale mehrere detaillierte Fragen zu den Vorwürfen von Vanessa, Supun, Nadeeka und Ajith geschickt. In einer Antwort schreibt ISSHK, dass „Einzelfälle nicht kommentiert [werden], um den Schutz der Privatsphäre zu gewährleisten.” Allgemein betont man, keine „Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen gebrochen zu haben.” Die Versorgung der Asylsuchenden passiere im Übrigen„auf der Grundlage der Verträge mit der Hongkonger Sozialbehörde”, erklärt ISSHK außerdem in dem E-Mail-Statement. „Wenn Klienten dringend Unterstützung benötigen, können sie sich jederzeit gern an ihren Fallmanager wenden. Notfallnahrung und Notfallunterkünfte können für dringend Bedürftige arrangiert werden.”
Der Anwalt Robert Tibbo, der hunderte Fälle von Geflüchteten betreut hat und sich auch in einer NGO für ihre Rechte einsetzt, zieht eine andere Bilanz: „Die ISSHK ist verpflichtet, die Grundbedürfnisse der Asylsuchenden zu decken. Aber die Behörden haben klar gezeigt, dass es für sie ok ist, wenn Flüchtlinge verhungern.”
Der Regulator: Debagma Kankanalamage Ajith Pushpa
Ajith hatte Glück, Sri Lanka überlebt zu haben. In seiner Heimat wurde er in der Armee von seinem Vorgesetzten systematisch sexuell belästigt und bedroht. Als er zu fliehen versucht, wird er von der Militärpolizei eingesperrt und gefoltert. Schwer verletzt schaffte er es dennoch, zu entkommen. Doch das sollte erst der Beginn seiner Odyssee sein, die bis heute kein gutes Ende gefunden hat. Das Ziel seiner Flucht aus Sri Lanka war Kanada, doch sein Schlepper ließ ihn auf halbem Weg hängen. Inzwischen steckt er seit zwölf Jahren in Hongkong in einem fensterlosen Zimmer fest und wartet auf seine Asylentscheidung.
Seine Erfahrung als ehemaliger Soldat machte ihn in jenen Wochen im Juni 2013 zu Snowdens Bodyguard. Er war es, der ihn vom UN-Flüchtlingswerk abholte, wo Snowden hastig einen Antrag gestellt hatte, nachdem er sich heimlich aus seinem Hotel verdrückt hatte. Auf der Flucht brachte er Snowden in Hongkong von Versteck zu Versteck. Ajith merkt genau, wenn ihn jemand beobachtet. Eine Fähigkeit, die er nun wohl selbst gut gebrauchen konnte: Nachdem seine Identität bekannt wurde, stellten ihm – genau wie Nadeeka und Supun – unbekannte Landsleute auf der Straße nach, berichtet die South China Morning Post unter Berufung auf den Anwalt der Flüchtlinge.
Außerdem habe man sich mit einem Foto in der Hand bei Nachbarn nach ihm erkundigt. Schließlich musste Ajith überstürzt seine Bleibe verlassen. „Jetzt fühl ich mich auch ein bisschen wie Snowden”, sagt er und lächelt gequält.
Motherboard: Hast du Probleme mit den Behörden bekommen, nachdem bekannt wurde, dass du Snowden aufgenommen hast?
Ajith: Oh ja, leider.
Vor kurzem habe ich mein Portemonnaie verloren. Darin war meine Karte, auf der mein monatliches Lebensmittel-Guthaben gespeichert ist. Ich bin sofort zur Polizei gegangen und hab einen Verlustbericht zu ISSHK mitgenommen. Mein Fallmanager, der mich zuvor so komisch überschwänglich für meine Hilfe an Snowden gelobt hat, war plötzlich eiskalt.
Er sagte mir, dass er die Karte nicht erstatten würde, nicht jetzt und nicht in Zukunft, ich hätte eben besser aufpassen sollen.
„Wieviele Tage soll ich denn ohne auskommen? Wie soll ich überhaupt etwas essen?”, habe ich gefragt. Er hat mir ein paar Dosen Notfallessen angeboten, aber das ist für die Neuankömmlinge bestimmt, wenn sie extrem unterernährt sind. Ich hab es nicht angenommen. Es wäre eh nur Nahrung für zwei Tage gewesen.
Welche Mittel hast du, um dich gegen so eine Behandlung zu wehren?
Für einen Flüchtling ist es sehr schwierig, irgendwelche Ansprüche geltend zu machen oder überhaupt gehört zu werden. Von früheren Problemen wusste ich schon, dass ich noch am selben Tag eine formelle Beschwerde einlegen muss, damit sie überhaupt berücksichtigt wird. Also habe ich sofort eine geschrieben. Die ISSHK hat sie aber nicht mal angenommen, als ich sie abgeben wollte (die datierte Beschwerde liegt Motherboard vor, d. Red.).
Wieso nicht?
Sie war in meiner Muttersprache Singhalesich verfasst. Mein Englisch ist nämlich nicht so gut. Sie schickten mich weg mit der Begründung, ich müsste schon einen Übersetzer anheuern, sonst könnte ich mein Anliegen gleich vergessen. Diesen Übersetzer sollte ich natürlich auch selbst bezahlen. Das kann ich aber nicht. Ich habe nicht einmal genug Geld für eine Kopie.
Was passierte dann?
Drei Wochen später haben sie mir dank meines Anwalts und einiger Medienberichte doch eine neue Karte ausgestellt. Sie haben sich wohl unter Druck gesetzt gefühlt, mir aber ein Schreiben mitgegeben, in dem ein von ISSHK beauftragtes Anwaltskonsortium damit droht, dass man mir bei einem weiteren Verlust nie wieder eine Karte ausstellen würde (der Brief liegt Motherboard ebenfalls vor, d. Red.).
Ajits Anwalt kann nur mit dem Kopf schütteln, als Motherboard ihn zu dem Fall befragt. „Ich verstehe das nicht”, sagt Robert Tibbo. „Wieso kämpft man als angeblich nicht profitorientierte Organisation mit 20 Anwälten gegen einen schutzlosen Flüchtling und verweigert ihm mit einem solchen Aufwand das Wenige zum Überleben, zu dem man vertraglich verpflichtet wurde?” Es ist tatsächlich eine gute Frage, auf die ISSHK trotz konkreter Nachfrage von Motherboard keine Antwort liefert. „Zu Einzelfällen geben wir keine Auskunft.”, schreibt uns ISSHK. Der gesamte Prozess der Flüchtlingsversorgung ist, wie die Einzelfälle zeigen, unendlich intransparent – und so bleibt die Behandlung eine Frage der Willkür.
Währenddessen muss Ajith weiter um seine Grundrechte kämpfen. Beim folgenden Termin teilte sein Sachbearbeiter mit, er müsse ab sofort jeden Monat die Belege für alle gekauften Lebensmittel aufheben. Wenn er die Quittungen nicht vorlege, würde man ihm die Karte sperren. „Das machst du auf keinen Fall!”, schimpft Tibbo während unseres Skype-Interviews sichtlich verärgert von der Seite herein. „Es geht sie doch nichts an, was du isst!”
„Aber ich habe Angst”, sagt Ajith leise.
Der Anwalt
Doch nicht nur die Flüchtlinge werden ins Visier genommen; auch ihrem Anwalt wird das Leben enorm schwer gemacht. „Meine Frau sagt, die würden mich gern tot sehen”, so Tibbo. Ob das bildlich oder ernst gemeint ist, wird nicht vollkommen klar. Fest steht jedenfalls, dass die Regierung versucht, den Anwalt in Arbeit zu ertränken, damit er Fehler macht.
Aus Dokumenten, die Motherboard vorliegen, geht hervor, dass die Regierung zwischen September und Oktober 2014 ganze 30 seiner seit Jahren ruhenden Asylfälle auf einmal reaktiviert hat. „Und zwar alle genau zu dem Zeitpunkt, als ich kurz das Land für einen Urlaub verlassen habe”, erzählt Tibbo Motherboard bei einem Treffen in Hamburg.
Urplötzlich forderte die sonst so lethargische Regierung an allen Fronten eine unmittelbare Reaktion von dem Anwalt ein: Dokumente mussten eingereicht, Briefe verfasst, Akten gelesen, Termine wahrgenommen und Fristen eingehalten werden. Ansonsten drohte seinen Mandanten die sofortige Deportation.
Als bräuchte die Unverhältnismäßigkeit der Geschichte noch eine Bestätigung, passiert tatsächlich unmittelbar nach unserem Treffen in Hamburg zwischen Weihnachten und Neujahr 2016 etwas ganz Ähnliches: „Als ich aus Deutschland zurückkam, habe ich einen Brief vorgefunden”, erzählt uns ein müde wirkender Tibbo über Skype nach seinem Rückflug aus der Hansestadt. „Es ging um Supun und Nadeeka, und das Schreiben drohte beiden direkt mit der Deportation, sollte ich nicht umfangreiche Dokumente einreichen. Mit einer Frist von einem Tag.”
Alleinerziehend neben dem Bordell: Vanessa Mae Rodel
Vanessa stammt von den Philippinen und hat längere Zeit in Hongkong als Dienstmädchen gearbeitet. Als sie in ihre Heimat zurückreiste, wurde sie verschleppt und vergewaltigt. Erst Jahre später gelang ihr die Flucht zurück nach Hongkong. Das Problem: In der Zwischenzeit hatte sie längst ihre Arbeit verloren. Inzwischen wartet sie seit 14 Jahren zusammen mit ihrer fünfjährigen Tochter Keana und ihrer Mutter in ihrer kleinen Wohnung in Hongkong auf Asyl.
Mal eben einen Whistleblower beherbergen? „Ich habe keine Sekunde gezögert”, erzählt Vanessa per Skype – obwohl sie keine Ahnung hatte, wen ihr Anwalt da im Schlepptau hatte, als er mit einem nervösen jungen Mann plötzlich vor ihrer Tür stand. „Als er mich bat, ihm am nächsten Morgen eine Zeitung zu kaufen, wurde es mir dann klar. Oh Gott, dachte ich, der meistgesuchte Mann der Welt ist in meiner Wohnung! Aber ich würde es nochmal machen.”
Motherboard: Kannst du mir erzählen, wie es dir geht?
Vanessa: Nicht so gut, ich bin zu Hause nicht sicher. Direkt neben meiner Wohnung ist jetzt ein Bordell. Meine Tochter ist fünf und kriegt das alles durch die dünnen Wände mit, außerdem kommen hier Tag und Nacht irgendwelche fremden Typen hoch und machen Geschäfte. Außerdem fordert ein Stromversorger 7.000 Hong Kong Dollar (entspricht 850 Euro, Anm. d. Red.) von mir ein, die ich nicht bezahlen kann (diese Forderung liegt Motherboard in Kopie vor).
Wie kam es dazu?
Mein früherer Vermieter sagt, er habe das Geld von ISSHK für die Miete nicht bekommen (Dokumente, die das belegen, liegen Motherboard vor). Meine Sachbearbeiterin behandelt mich sehr schlecht, seitdem sie erfahren hat, dass ich Snowden geholfen habe. Sie haben mir die komplette Unterstützung gestrichen, mit der ich, meine kleine Tochter und meine Mutter überleben können.
Wieso glaubst du, dass da ein Zusammenhang besteht?
Nachdem die Artikel erschienen sind, wurde ich bei ISSHK vorgeladen. Meine Fallmanagerin verhörte mich regelrecht. Sie fragte: „Wie lange hast du Snowden versteckt?” Ich antwortete, dass ich ihr das leider nicht sagen könnte und dass sie bitte meinen Anwalt kontaktieren solle. Seitdem bekomme ich unter verschiedenen Vorwänden keinen Cent mehr.
Ich habe die ISSHK um Hilfe beim Umzug gebeten, weil ich unbedingt aus der Wohnung raus will. Nicht nur ist da dieser Puff, sondern es haben auch Journalisten rausgekriegt, wo ich wohne. Die können äußerst aufdringlich und respektlos sein, und stehen manchmal einfach in unserer Küche. Ich fühle mich da wirklich nicht mehr sicher.
Was haben die Behörden gesagt?
Meine Sachbearbeiterin hat gesehen, dass andere Menschen einen Spendenaufruf im Internet für uns gestartet haben. Da meinte sie: „Du hast doch deine GoFundMe-Seite. Du bist doch berühmt! Uns brauchst du da doch gar nicht mehr.” Jetzt bekomme ich kein Geld mehr für mich und meine Tochter, habe Schulden, und arbeiten kann ich auch nicht. Zurückgehen in die Heimat kann ich auf gar keinen Fall. Unser Leben steht auf dem Spiel. Ich weiß wirklich nicht, wie es weitergehen soll.
(ISSHK hat auf unsere Rückfrage, warum ein Spendenanruf verhindert, dass Vanessa Geld bekommt, nicht direkt geantwortet, wohl aber das Vorgehen ihrer Fallmitarbeiter verteidigt: „Alle Fragen, die von unseren Fallmanagern gestellt werden, stehen in direkter Verbindung mit den Standardvoraussetzungen, die zur Einstufung der Bedürfnisse unserer Klienten dienen”. Auf Vanessas weitere Anschuldigungen, die zum Teil anwaltlich verhandelt werden, wollte die Organisation nicht eingehen.)
Wie geht es weiter im Jahr 4 nach Snowden?
Die Geschichten der drei Flüchtlingsfamilien sind keine Einzelfälle, sondern stereotypisch für die unmenschliche Behandlung, die Schutzsuchenden in Hongkong widerfährt. Auch die Vereinten Nationen verurteilen die Menschenrechtsverletzungen auf der Insel scharf: Hongkong „stellt von vornherein alle Schutzsuchenden als Ausbeuter des Systems dar”, heißt es im jüngsten Bericht des UN-Komitees gegen Folter, der Motherboard vorliegt.
„Das Komitee stellt mit Sorge fest (…) dass Flüchtlingen der Zugang zu legaler Arbeit verweigert wird, was sie dazu zwingt, für lange Zeiträume unter der Armutsgrenze von bloßen Almosen zu leben”.
Tibbos Klienten haben sich übrigens trotz ihres Einsatzes nicht strafbar gemacht, indem sie Snowden geholfen haben: „Die Vereinigten Staaten haben zwar seinen Pass widerrufen, aber nie ein Verhaftungs- oder Auslieferungsgesuch gestellt, was Snowden unter Hongkonger Gesetzen zu einem flüchtigen Verbrecher machen würde”, erklärt ihr Anwalt gegenüber Motherboard. Trotzdem: Ihre Chancen auf ein Leben ohne Gängeleien, mit gleichen Rechten wie alle anderen Bürger von Hongkong, stehen schlecht.
Für die drei Familien könnte sich trotzdem ein Ausweg auftun: Eine Gruppe Anwälte will versuchen, sie nach Kanada zu bringen. Dort hätten die Flüchtlinge zumindest bessere Chancen als in Hongkong, als Flüchtlinge anerkannt zu werden. Schließlich ist der amtierende Einwanderungsminister in Präsident Trudeaus linksliberalem Kabinett selbst einmal aus Somalia geflohen.
Ansonsten könnten sich die Flüchtlinge auch vorstellen, in Deutschland ihr Glück zu versuchen. Tibbo ist hoffnungsvoll. „Deutschland hat fast eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Sieben weitere dürften doch kein Problem sein?”
Update 5.3.: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, dass sich in Vanessas ISSHK-Akte Artikel über Edward Snowden befunden haben sollen und sie zu diesen befragt wurde. Tatsächlich sollen sich diese Artikel laut den Flüchtlingen in Supuns Akte befunden haben, der bei einem Gespräch mit ISSHK mit ihnen konfrontiert wurde. Des Weiteren hies es in einer früheren Version, dass Ajith in der Armee vergewaltigt worden sei, tatsächlich wurde er sexuell belästigt und angegriffen. Wir bedauern diese Ungenauigkeiten und haben die Fehler korrigiert. Außerdem haben wir den Namen der Ermittlungseinheit aus Sri Lanka, die die Flüchtlinge in Hong Kong aufspüren wollte, mit in den Text aufgenommen.