Vor mir steht eine imposante Gestalt in Leder und Gasmaske, eine Mischung aus Mensch und mutiertem Schwein: der Held Roadhog. Ich habe gerade die Map “Hollywood” in Blizzards Hit-Shooter Overwatch betreten. Der monströse Kämpfer begrüßt mich mit Schrotflinte und Hakenkette. Aber er schießt nicht. Stattdessen flüstert mir über den Voice Chat eine weiche Stimme ins Ohr “I want you”.
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Roadhog bedeutet mir, ihm in die benachbarte Spielhalle zu folgen. Dort angekommen, bekomme ich nur ein forderndes “bend over”, bück dich, zu hören. Ich drehe mich um, drücke den Ducken-Button und gebe per Voice-Line mein Okay. Dann beginnt Roadhog, mich mit seiner Hakenkette auszupeitschen.
Hier treffen sich gezielt Menschen, um mit ihren Avataren digitalen Sex zu haben
Das Spannende an digitalen Kulturgütern ist, dass sie über ihren eigentlichen Zweck hinaus von den Nutzern sehr einfach bearbeitet, manipuliert oder verfremdet werden können. Video- und Computerspiele als vorherrschendes Kulturgut unserer Zeit bleiben davon nicht unberührt. So ergeben sich gerade bei Games durch sogenannte Mods häufig völlig neue Praktiken und Bedeutungen. Oft wird das genutzt, um gesellschaftliche Tabus zu brechen oder sichere Räume zum Austausch von Minderheiten zu erstellen. Je populärer ein Game, desto wahrscheinlicher seine Umdeutung durch Modifikationen oder Subkulturen.
Diese Umdeutungen sind auch in Blizzards beliebtem Online-Shooter Overwatch zu finden. So treffen sich etwa Spieler auf Overwatch-Servern, um sich in kleinen Gruppen Unterricht über die Welt und ihre verschiedenen Maps zu geben. Eine Figur fungiert dabei als Lehrer und berichtet den anderen via Voice Chat über die Geschichte oder die Pflanzenwelt der Gegend. Die Spieler wechseln sich dabei als Lehrer ab.
Neben diesen harmloseren “class room”-Rollenspielen, geht es auch auf den sogenannten Sex Maps nur noch zweitrangig um das Gewinnen von Spielrunden. Stattdessen treffen sich hier gezielt Menschen, um mit ihren Avataren digitalen Sex zu haben. Das funktioniert dabei vor allem auf zwei verschiedene Weisen, wie ich bei meiner persönlichen Entdeckungsreise feststellen durfte.
Overwatch als Sex-Chat: “Hey, you gay? Or bi?”
Bei den Matches, die in der Regel den Ausdruck “sex mic” im Namen tragen, wird erst einmal normal gespielt. Wie üblich schießt man sich gegenseitig ab, je nach Spielmodus wird das gegnerische Team vollständig eliminiert oder etwa eine wichtige Fracht zu einem Zielpunkt eskortiert. Parallel versuchen die Spieler aber über den Voice Chat, sich gegenseitig verbal erotisch aufzuladen – so wie in etwa beim Telefon-Sex. Das kann vom einfachen Flirt bis hin zu tatsächlichen Höhepunkten unter dem Headset führen.
Während ich mit meiner Figur ein Fracht von A nach B begleite, spricht mich eine junge Männerstimme an: “Hey, you gay? Or bi?” Ich gehe darauf ein, und nach anfänglichem harmlosen Smalltalk wird es konkreter.
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Der Spieler beschreibt mir im Voice Chat, wie er sich und mich berührt und streichelt. Ähnliches erlebe ich auch auf einem anderen Server mit einer Frau. In beiden Fällen setzt die Spielmechanik von Overwatch dem Sex per Voice Chat ein jähes Ende: Ein Server-Neustart und das Ende der Runde beenden das erotische Rollenspiel. Ein anderes Mal platzt ein junger Teenager in den Voice Chat und fängt an zu kreischen, woraufhin mein Sex-Partner die Map verlässt.
Treffpunkt Wasserbecken oder Badehaus: Mit Skins und Animationen wird Sex simuliert
In anderen Maps dagegen wird Sex zwischen den Spielfiguren simuliert. Auch hier geben die Servernamen bereits einen Hinweis darauf, wie das Ganze vonstatten geht. “Daddy Reinhardt”, “Gay Tub Roadhog” oder “Sombra Strip” sind nur einige Beispiele für Titel von Sex-Servern. In “Daddy Reinhardt” wird beispielsweise der sogenannte “Daddy Kink” ausgelebt, also wenn sich eine Person von Männern angezogen fühlt, die sich älter benehmen als sie sind oder die einfach älter sind.
Um solche Rollenspiele zu ermöglichen, benutzen die Spieler Skins, also alternatives Aussehen für ihre Spielfiguren. Für den deutschen Riesenritter Reinhardt wird dazu beispielsweise einer der helmfreien Skins genutzt, die den Kämpfer mit Vollbart zeigen. Auf “Gay Tub Roadhog”-Maps wählen alle Roadhog und treffen sich an Wasserbecken oder Badehäusern, um dort schwulen Sex zu simulieren.
Essentiell ist dabei die Möglichkeit, die Spielregeln und Eigenschaften von Overwatch für die Custom Map zu konfigurieren und nach Belieben zu verändern. In “Daddy Reinhardt”-Maps werden zum Beispiel nur ausgewählte Figuren zugelassen. Oder die Verwundbarkeit, die die Helden anderen Figuren mit ihren Pistolen, Bögen oder Schwertern zufügen können, wird auf Null eingestellt. So können sich alle nach Herzenslust gegenseitig abschießen, was als Metapher für sexuelle Penetration gilt.
Scharfschützin Widowmaker setzt sich auf eine Kante: Schusswaffen als Penis-Ersatz
Außerdem werden bestimmte Gesten, Sprüche oder Figurenanimationen genutzt, um Sex zu simulieren. Spieler legen sich etwa auf den Boden oder lassen sich betäuben, um sich dann vom alten Veteranen Soldier 76 durch seine Liegestütz-Animation begatten zu lassen. Oder die französische Scharfschützin Widowmaker setzt sich so auf eine Kante, dass andere Figuren mit ihren Schusswaffen als Penis-Ersatz in ihren Po heineingleiten können. Das ist durch Glitches, Animationsfehler im Spiel, möglich, welche von den Spielern bewusst reproduziert werden können.
Die eingangs beschriebene Szene mit dem peitschenden Roadhog ist ein weiteres Beispiel, wie Sex in Overwatch aussehen kann. Für mich als Person, die weder BDSM-affin ist noch auf Online-Sex steht, wirkte das virtuelle Auspeitschen anfangs ein wenig albern. Aber nach wenigen Sekunden merkte ich, dass ich bei jedem Kettenschlag leicht zusammenzuckte. Ich fühlte mich zwar nicht sexuell stimuliert, aber das Ganze hatte eine gewisse Spannung. Vermutlich trägt die Tatsache, dass es sich bei Overwatch um ein Game aus der Ich-Perspektive handelt, zu einer stärkeren Immersion in die Geschehnisse bei. Nach einer knappen Minute des Auspeitschens bedanke ich mich beim Roadhog für die Erfahrung: “Thank you, master!”. Der Roadhog lässt von mir ab, und wir gehen beide unserer Wege.
Der rüstige Ritter Reinhardt, die mütterliche Heilerin Ana: Welche Figuren das Sex-Meta beherrschen
Überraschend ist vor allem, dass Tracer, das Covergirl des Spiels, in den Sex-Maps von Overwatch keine Rolle spielt. Zwar stand die draufgängerische Pilotin schon öfters inmitten von Debatten über zu übertrieben sexualisierte Figuren in der Community, auf Sex Maps kommt sie aber so gut wie gar nicht vor. Auf der Seite der weiblichen Charaktere sind es vor allem die französische Scharfschützin Widowmaker, die mütterliche Heilerin Ana, die Ärztin Mercy und die brasilianische Hipster-Hackerin Sombra. Bei den männlichen Figuren sind es vor allem ältere Männer, die die Community reizen: Der rüstige Ritter Reinhardt, der bärbeißige Veteran Soldier 76 und der Cowboy McCree kommen besonders häufig vor. Eine große Rolle spielt aber auch der monströse Roadhog.
Im ersten Moment mag der Gedanke, sich erotisch und sexuell mit Hilfe von Spielfiguren aus Overwatch auszuleben, seltsam bis befremdlich wirken. Wirft man jedoch einen genaueren Blick auf die Spieler der Sex Maps, lässt sich der Fetisch nachvollziehen. Erotische Rollenspiele bieten Online-Spielern die Möglichkeit, ihre Sexualität und Geschlechtsidentität offen und vollkommen wertungsfrei auszuleben. Mein Eindruck nach zehn Tagen in den Sex Maps von Overwatch ist, dass die Menschen hinter den Figuren vor allem aus Ländern und Gesellschaften kommen, in denen strikte Tabus und Verbote gelten. Das trifft vor allem Angehörige des LGBTQ-Spektrums. Manchmal bieten die Maps für Gamer auch einen Anfang, um sich und seine Sexualität überhaupt erst zu erkunden. “Ich bin schwul, aber ich traue mich nicht, mich bei meiner Familie und meinen Freunden zu outen”, erzählt mir etwa ein Spieler, der mich vorher über den Voice Chat angeflirtet hat.
‘Overwatch’ vs. ‘World of Warcraft’
Doch selbst ohne diese Barrieren in der analogen Welt gibt es auch einfach einige Spieler, die ihren Sexualtrieb offen auf diesen Servern in Overwatch ausleben. Und warum auch nicht? Erotische Kinks gibt es so viele, wie es Menschen gibt. Innerhalb der Overwatch-Community wird das Thema offen diskutiert, vor allem in offiziellen Foren von Blizzard. Die Aktivitäten in den Sex-Maps sind dabei weitestgehend akzeptiert. Zwar gibt es auch hier die Fraktion der “Lasst Games frei von sexualisiertem Kram”, aber die scheint in der Minderheit zu sein. Sicherlich ist die Frage, ob in einem Spiel, das ab 12 Jahren freigegeben ist, derartiges Nutzerverhalten erlaubt sein sollte, grundsätzlich berechtigt. Da die Sex Maps jedoch gezielt angesteuert werden müssen, in der Regel klar benannt sind und oft auch nur für kurze Zeit bestehen, liegt die Verantwortung wohl eher beim Spielenden selbst – und die Overwatch-Spieler scheinen sich ihrer besonderen Verantwortung bewusst zu sein. Jedenfalls gibt es bisher kaum Berichte über sexuelle Belästigungen von Overwatch-Spielern, die nicht zum Cybersex bereit sind.
Damit unterscheidet sich die Community in Overwatch aktuell deutlich von Blizzards anderem großen Hit, World of Warcraft. Hier hat Motherboard Deutschland aufgezeigt, dass an Orten, die für Cybersex genutzt werden, inzwischen Trolle und sexuelle Belästigung Einzug gehalten haben. Dieses Problem scheint Overwatch nach meinen Beobachtungen nicht zu haben. Zum Einen könnte das daran liegen, dass die Räume dezentral von jedem eröffnet werden können. Auch sind die Räume von der Spieleranzahl begrenzter und damit einfacher zu moderieren. Bei aggressivem Fehlverhalten werden Trolle direkt bestraft. Einige Räume haben sogar “Cop”-Rollen. Hier wird eine Figur, etwa der Schrotflinten schwingende Reaper, damit beauftragt, Verstöße durch schnelle Kills zu ahnden.
Innerhalb der Sex Maps gilt Einvernehmlichkeit unter den Beteiligten als Voraussetzung. Nur wenn die beteiligten Figuren oder Spieler eindeutig zustimmen, kommt es zum ingame Sex. Eine Spielerin stellt sich etwa als D.Va ohne ihren Mech-Roboter-Panzer in eine Ecke und lässt sich von mehreren Teammitgliedern abschießen. Über den voice-Chat gibt sie Stöhnen und Jauchzen von sich. Danach bedankt sie sich bei allen Beteiligten. Auch die eingangs geschilderte Szene mit dem Roadhog passierte nur in dieser Form, weil ich darauf eingegangen bin.
Ein besonderer Nischenplatz für diejenigen, die Gefallen daran haben
Mittlerweile ist es aber gar nicht mehr so einfach, eine derartige Lobby zu finden. Trolle, die Verwirrung stiften wollen, haben das Phänomen längst ins Visier genommen. Oft sollen die Raum-Namen nur Leute anlocken, ohne jedoch tatsächlich das Versprochene zu bieten. Räume mit den Namen “Sex” oder “18+” suggerieren eine Sex Map, tatsächlich wird dort dann doch nur das ursprüngliche Game gespielt. Entwickler und Publisher Blizzard lässt das bunte Treiben derweil gewähren. Ausdrücke und Wörter wie “sex” oder “gay mic” sind als Lobby-Name erlaubt.
Natürlich gibt es auch viele Spieler, die sich aus der ganzen Sache nur einen großen Spaß machen. Sie machen es, weil es eben geht, ohne eigenes erotisches Empfinden. “Ich finde das halt einfach witzig”, erklärt mir eine Person, die auf den Sex Maps unterwegs ist. Eine riesige Szene ist das alles auf jeden Fall nicht. Über 30 Millionen Mal wurde Overwatch verkauft, der Anteil der Gamer, die auf Sex Maps ihren Kink ausleben, ist aber eher klein und wird es wohl auch bleiben. Denn Blizzard gibt bisher keine Anzeichen, dass die Custom Maps wieder eingestampft werden sollen. Und so bleiben diese Maps ein kleiner, besonderer Nischenplatz für diejenigen, die Gefallen daran haben.