In ihrer zweiten Nacht am College wurde die damals 19-jährige Aspen Matis in ihrem Zimmer auf dem Campus vergewaltigt. Sie bat ihren Vergewaltiger danach, die Nacht bei ihr zu bleiben. Jahre später erinnerte sie sich für die Modern Love Kolumne der New York Times noch einmal an die Nacht, aber war sich unsicher, ob sie ein gewisses Detail ebenfalls erwähnen sollte. „Ich hatte Angst, dass die Leute sagen würden: ‚Sie wollte doch, dass er bleibt—wie soll das eine Vergewaltigung sein?’” Letztendlich entschloss sich Matis aber dafür, dieses Detail ebenfalls in dem Artikel zu erwähnen. „Es war einfach wahr—es war ein Teil dieser Erfahrung und es zeigte meine Reaktion in ihrer ganzen Komplexität”, erklärt sie mir ihre Entscheidung.
In dieser Kolumne beschreibt Matis vor allem, wie sie mit der Vergewaltigung umgegangen ist—in der Hoffnung, dadurch ihr Trauma zu verarbeiten, entschied sie sich dazu, alleine von Mexiko nach Kanada zu wandern. Im Anschluss an den Artikel bekam sie von einem Verlag einen Vertrag für ein Buch angeboten. Mittlerweile sind sechs Jahre seit dem Vorfall vergangen, Matis ist jetzt 25 und ihre Memoiren, Girl in the Woods, sind gerade erschienen und werden von der Kritik gelobt. Ich treffe mich mit Matis im French Roast, einem New Yorker Café im West Village, wo sie auch einen Teil des Buches geschrieben hat. Sie betritt das Café mit zwei Tüten von Barnes & Nobles, die mit genug Büchern für drei Regalbretter gefüllt sind. Ich hoffe inständig, dass sie es zu meinem Tisch schafft, bevor sich die Buchecken durch das dünne Plastik bohren. (Sie schafft es.) Obendrein balanciert sie noch einen Eisbecher.
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Matis macht einen abgehetzten Eindruck—wahrscheinlich auch weil sie gerade kiloweise Bücher geschleppt hat, aber der ganze Trubel nach der Veröffentlichung eines Buchs, das sich obendrein noch sehr gut macht, ist durchaus nervenaufreibend. Girl in the Woods ist am 8. September erschienen und befand sich zur Zeit des Interviews auf Platz eins in der Amazon-Kategorie Adventure Travel. Ihr Großeinkauf sei auch eine Reaktion auf das ganze Chaos und darauf, dass die letzten beiden Jahre ihre komplette Konzentration nur auf einem Buch, ihrem eigenen, lag. „Ich bin wirklich schlimm”, sagt sie. „Mir graut es schon davor, wieder mein E-Mail-Programm zu öffnen. Ich habe schon eher eine vermeidende Persönlichkeit.”
Seit der Veröffentlichung ihres Essays in der New York Times und ihrer Memoiren hat Matis von Hunderten Mädchen gehört, die, genau wie sie, ihre Vergewaltiger darum gebeten hatten, bei ihnen zu bleiben. Einige dieser Frauen schrieben ihren Vergewaltigern auch Gedichte und Liebeslieder. „Wie es aussieht, ist es eine unglaublich normale Reaktion, dass man von dem Jungen, der einen vergewaltigt hat, danach gut behandelt werden will—als könnte man den Vorfall dadurch nachträglich korrigieren”, sagt sie. „Eine Vergewaltigung eine Vergewaltigung zu nennen—es als das zu bezeichnen, was es ist—, heißt auch, anzuerkennen, dass etwas Furchtbares passiert ist, dass dein Leben für immer verändert hat. Und das ist unglaublich angsteinflößend. Nach einer traumatischen Erfahrung scheint es am sinnvollsten, einfach weiterzumachen, als ob nichts gewesen wäre—als ob man das könnte. Irgendwann merkt man, dass man das eben nicht kann.”
Eine Vergewaltigung eine Vergewaltigung zu nennen—es als das zu bezeichnen, was es ist—, heißt auch, anzuerkennen, dass etwas Furchtbares passiert ist, dass dein Leben für immer verändert hat.
Als Aspen schließlich erkannte, dass sie die Vergewaltigung nicht einfach tief unten in einer dunklen Ecke ihres Unterbewusstseins vergraben und für immer vergessen konnte, brach sie ihr Studium in Colorado ab und begann damit, den Pacific Crest Trail (PCT) entlang zu wandern. Der PCT beginnt an der Grenze zu Mexiko und erstreckt sich 4.279 Kilometer durch die Bundesstaaten Kalifornien, Oregon und Washington bis zur Grenze nach Kanada. Sie fasste die Entscheidung dazu, da die Reaktionen ihres Vertrauensdozenten, ihres Bruders und ihrer eigenen Mutter allesamt enttäuschend ausgefallen waren, nachdem sie ihnen berichtet hatte, was ihr in der zweiten Nacht am College passiert war. Die erste Antwort ihrer Mutter am Telefon sei Stille gewesen. Dann schlug sie vor, mit dem Vertrauensdozenten am College zu reden, und stellte schließlich die ziemlich unangebrachte Frage: „Hattest du denn ein nettes Abendessen?”
Was mich an Matis am meisten überrascht, sind ihre Fähigkeit zu vergeben und ihr großes Verständnis für das Verhalten anderer Menschen. Als ich sie fragte, wie ihre Familie auf das Buch reagiert hat, erwartete ich eine Antwort voller Ressentiments. Stattdessen sagte sie: „Es ist wirklich schwer für meine Mutter, anzuerkennen, dass sie vielleicht etwas getan hat, das mich verletzt hat. Sie liebt mich nämlich so sehr.” Bis heute hat Matis von ihren Brüdern jedoch noch kein Wort zu dem Buch gehört. „Es muss schwer für sie sein”, sagt sie. „Sie haben das Gefühl, dass sie keine Kontrolle mehr über ihr eigenes Image haben.”
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Matis erklärt, dass sie mit jeglichen Details, die ihre Familie in irgendeiner Weise betreffen, besonders vorsichtig umgegangen sei—sie vermeidet es auch, ihre echten Namen zu nennen. Sie ist aber auch sehr eindeutig darin, dass es nicht das Ziel ihres Buches war, ihre Familie als Heilige darzustellen. „Ich bin nicht die PR-Maschine unserer Familie”, sagt sie. Den wahren Sinn darin, dieses Buch zu schreiben, war es für sie, 1 Millionen US-Dollar für die Wohltätigkeitsorganisation RAINN (Rape, Abuse and Incest National Network) zu sammeln. Auf ihrer Webseite hat sie auch einen extra Bereich eingerichtet, wo man direkt an RAINN spenden kann.
Matis spricht außerdem offen über die momentan grassierenden Vergewaltigungen an amerikanischen Colleges. Letztes Jahr wurde sie als Rednerin zum Colorado College eingeladen—der Hochschule, von der sie sich exmatrikulierte, nachdem man dort nicht nur ihren Vergewaltiger nicht bestraft, sondern diesen auch noch in ihr Zimmer im Wohnheim verlegt hatte. „Die Colleges sind so etwas wie Marken”, erklärt sie mir. „Sie würden eher einen Vergewaltiger auf ihrem Campusgelände [dulden] und so die Studierenden dort in Unsicherheit lassen, als zuzugeben, dass es auf ihrem Gelände eine Vergewaltigung gegeben hat.” Nichtsdestotrotz schaut sie optimistisch in die Zukunft. Sie erzählt, dass sie von vielen Frauen kontaktiert wurde, die ihr sagten, dass sie von ihr dazu motiviert worden waren, ihre eigenen Vergewaltigungsfälle zu melden. „Zum ersten Mal nehmen wir [die Colleges] damit in die Verantwortung”, so Matis.
Während ihrer Wanderung traf Matis den Mann, für den sie als 20-Jährige auf den PCT zurückkehren sollte, um ihn dort zu heiraten. Zwei Jahre bevor sie ihr Buch veröffentlichte und nur drei Jahre nach ihrer Hochzeit weckte er sie eines Morgens zärtlich mit Küssen, bevor er sich zu der Beerdigung eines gemeinsamen Freundes aufmachte—Matis hatte sich dazu entschieden, selber nicht zu gehen. Er kam nie zurück, brach den Kontakt zu Matis, seinen Eltern und allen anderen ab, die er kannte. Trotzdem verliert sie während unserer Unterhaltung kein schlechtes Wort über ihn.
Man wird nie richtig geheilt sein, man muss einfach sein Leben wieder selbst in die Hand nehmen.
Aus ihren Memoiren wird momentan eine TV-Serie gemacht, die sich gerade in den Dreharbeiten befindet. Sie ist darin soweit involviert, wie sie möchte—was, wie sie selber anklingen lässt, nicht besonders viel ist. Sie sagt, dass sie dem Produzenten Dylan Hale Lewis vollkommen vertrauen würde und seine Arbeit und „Juno’esken” Stil gerne mag. Momentan konzentriere sie sich mehr auf ihren ersten Roman, Cal Trask, über ein Mädchen, das sich sexuell zu ihrem Bruder hingezogen fühlt. Matis sagt, dass es in dem Buch im Grunde darum geht, „wie wir unser Wesen verändern können, ohne es selber richtig zu merken.”
Trotz ihrer offensichtlichen Vorliebe für die Natur und Abgeschiedenheit lebt Matis momentan in New York City, wo sie regelmäßig Cafés besucht, um dort zu schreiben. Sie gibt mir eine kleine, verbale Tour durch ihre Lieblingsorte: Third Rail Coffee sei gut, wenn sie intensiv arbeiten muss, weil es dort kein W-LAN gibt; Joe’s nennt sie ihr „Basislager” und French Roast einen guten „winterlichen Ort für spät in der Nacht.” Außerdem sagt sie, „Manhattan ist eine Wildnis—nur eine andere Art von Wildnis.”
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Mein Eindruck von Matis ist der einer unglaublich mutigen und gleichzeitig verletzlichen jungen Frau. Sie spricht sehr selbstsicher und wirft oft Zitate ein, um ihren Aussagen mehr Nachdruck zu verleihen. Während unseres Treffens zitiert sie Shakespeare und Joan Didion. Matis sagt mir aber auch, dass sie gewisse Dinge lernen und wieder erlernen musste. Als ich sie frage, welche Dinge das waren, antwortet sie: „Dass ich in meinem eigenen Körper sicher bin, dass meine Arbeit respektiert werden wird, dass ich stark genug bin, um das alles selber zu bewältigen.”
Der vermeintliche Widerspruch zwischen ihrer Unerschrockenheit und ihren Selbstzweifeln ergibt durchaus Sinn. Mit 15 wählte ihre Mutter noch ihre Anziehsachen für die Schule aus, vier Jahre später machte sie extreme emotionale Zustände durch, während sie erfolgreich einen der anspruchsvollsten Wanderwege des Landes bewältigte. Alleine. Nichtsdestotrotz ist sie sich darüber im Klaren, dass sie mit der Wanderung jetzt nicht vollkommen über die Sache hinweg ist. „Ich bin nicht geheilt”, sagt sie. „Man wird nie richtig geheilt sein, man muss einfach sein Leben wieder selbst in die Hand nehmen.”