Ich befinde mich in einer abgedunkelten, schmutzigen Bar. Der Mitarbeiter hinter der Theke weiß genau, dass ich eigentlich nur ein Glas Merlot will, obwohl hier vor allem Craft Beer ausgeschenkt wird. Meine Freundin June hat sich derweilen schon auf Manhattans eingeschossen.
Sie erzählt mir von einem 25-jährigen Typen, mit dem sie derzeit flirtet. Er ist inzwischen dazu übergegangen, ihr kryptische Emojis und ungebetene Schwanzfotos zu schicken. Diesen Schwanz hat sie im echten Leben allerdings noch nicht zu Gesicht bekommen, denn der Typ scheint eine Heidenangst davor zu haben, die Interaktion auch im echten Leben zu suchen. Sie fragt ihn ständig, wann sie sich denn endlich mal treffen, aber er gibt ihr darauf nie eine konkrete Antwort. Das beschäftigt sie dann ein paar Tage lang. Schließlich entscheidet sie sich dazu, den Kerl abzuschießen, weil das Ganze offensichtlich zu nichts führt.
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„Muss ich mich deswegen verrückt machen? Nein. Dazu habe ich viel zu viele andere Dinge im Kopf.”
Sie meint, dass sie mit ihren Flirt-Partnern einfach ein Level erreichen muss, wo sie Klartext reden kann: „Das ist genau das, was ich von jemandem erwarte, der sich mit mir einlassen will.”
Wie hier dargestellt, ist June überdurchschnittlich klug. Trotzdem handelt es sich in ihrem Fall auch um eine klare Kommunikationsschwäche. Das scheint in der heutigen Dating-Landschaft jedoch zu einer Art Trend verkommen zu sein: Wir geben keine genaue Auskunft darüber, was wir uns in einer Beziehung wünschen, denn wenn wir zugeben, eine emotionale Verbindung zu wollen, dann kommen wir womöglich als zu verzweifelt rüber. Wenn wir jedoch eigentlich nur auf Sex aus sind, dann sagen wir das nicht, weil wir Angst haben, dass unser Gegenüber abhaut, bevor sich unser Wunsch erfüllt.
Durch meine beachtliche Dating-Expertise bin ich auf die Heilmittel dieser beiden Schwächen gekommen.
Bevor ich euch jetzt allerdings in mein Wissen einweihen werde, will ich noch eine Sache klarstellen: Ich rede hier nicht vom guten alten Rein-Raus-Spiel mit fragwürdigen Fremden. Nie im Leben würde ich zwanglosen Sex schlechtreden.
Nein, ich beziehe mich hier auf richtige Dates, die beinhalten, dass man einem Menschen gegenübersitzt, sich Geschichten über zerrüttete Familien, über Ängste sowie über verwirklichte bzw. wieder verworfene Studiumspläne anhört und beim nächsten Treffen tatsächlich versucht, sich an irgendetwas davon zu erinnern. Du hast richtig gelesen, man trifft sich tatsächlich öfters. Diese inzwischen veraltete Praxis bedeutet, dass man eine Zeit lang einen anderen Menschen in sein Leben einbaut und schaut, was dabei rauskommt—ungefähr so, als würde man sein eigenes Verantwortungsbewusstsein auf die Probe stellen, indem man sich eine Pflanze zulegt und versucht, diese nicht gleich wieder sterben zu lassen.
Aber was bedarf es nun, um beim Daten erfolgreich zu sein? Wir müssen einfach damit aufhören, uns wie Arschlöcher zu benehmen, und besser kommunizieren. Und wir müssen das Prinzip des Ghostings schnellstens wieder der Vergangenheit angehören lassen.
Ich kann das kollektive Aufstöhnen und Augenrollen förmlich spüren. Und glaubt mir, es fällt mir auch verdammt schwer, hier ernst zu bleiben. Aber hört mich erstmal an, denn ich weiß, wovon ich rede.
Stell dir doch mal folgendes Szenario vor: Du hast ein Date mit einer Person, die ziemlich klug ist, ziemlich gut aussieht und allgemein wie ein guter Mensch rüberkommt. Irgendwie will es aber nicht so richtig klick machen. In dir regt sich nichts. Keine Schmetterlinge. Kein aufgeregtes Flattern in der Magengegend, das dich fast über die frisch gewischte Bar kotzen lässt.
Vielleicht gibt es zum Abschied eine Umarmung, vielleicht auch einen Kuss und vielleicht landet ihr sogar im Bett. Ungeachtet des Date-Endes gehst du aber davon aus, dass ihr euch nie wieder sehen werdet, weil du das nicht wirklich willst. Alles gut, denkst du dir und wischt dich in eine vermeintlich bessere Zukunft.
Dann bekommst du jedoch eine Nachricht: „Ich fand unser Treffen echt schön.” Besagte Person will dich wiedersehen. Du fragst dich, wie zum Teufel der- oder diejenige nicht gemerkt hat, dass da absolut kein Funke übergesprungen ist.
Du ignorierst die Nachricht und hoffst, dass sich die ganze Sache so in Luft auflöst.
Am nächsten Tag geht es jedoch weiter:
„Ich hoffe, du hast gut geschlafen.”
„Was machst du heute Abend?”
„Hallo?!”
Und genau hier kommt es zum entscheidenden Zug: Weiter ignorieren oder ganz ehrlich sagen, dass man einfach nicht interessiert ist? Es gibt aber auch noch die Möglichkeit, ein paar Stunden (oder Tage) später mit irgendeiner verlogenen Ausrede um die Ecke zu kommen—so nach dem Motto „Oh, ja, alles gut! Sorry, aber die Arbeit ist in letzter Zeit echt stressig“. Man überlässt es dann seinem Gegenüber, sich entweder eine clevere Antwort einfallen zu lassen, um das Gespräch am Laufen zu halten, oder sich im Selbsthass zu wälzen, weil man mit seiner Nachricht ja offensichtlich sagen wollte, dass man einfach nicht interessiert ist.
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Vielleicht regt es dich auf, einem Menschen antworten zu müssen, der scheinbar keinen Plan von zwischenmenschlichen Interaktionen hat. Trotzdem solltest du genau das tun, denn es kommt sowohl dir selbst als auch dem letzten Fünkchen Verstand zugute, das deinem Gegenüber vielleicht noch geblieben ist.
Ehrlich zu sein, ist vermeintlich ziemlich anstrengend. Tatsächlich ist es jedoch sehr praktisch und auch ein einfacher Ausweg. Wenn du die andere Person ignorierst, wirst du immer wieder Energie darauf verschwenden müssen, ihre traurigen und komischen Nachrichten zu übergehen. Außerdem kommt es häufig vor, dass du sie irgendwann zufällig wiedersiehst—oder zumindest irgendwelche ihrer Freunde, die dich dann in aller Öffentlichkeit niedermachen und als Arschloch beschimpfen.
Wie die Beziehungs- und Sexualitäts-Expertin Esther Perel betont, ist die Verbreitung von Ghosting als akzeptabler Ausweg aus dem Leben eines anderen Menschen eine „Manifestation der zurückgehenden Empathie in unserer Gesellschaft—die Förderung des eigenen Egoismus ohne jegliche Rücksicht auf die Folgen für andere.”
„In der heutigen Beziehungskultur werden Erwartungen und Vertrauen ständig in Frage gestellt”, schreibt sie. „Dieser Zustand der dauerhaften Unklarheit erschafft zwangsläufig eine Atmosphäre, in der mindestens ein Mensch Ungewissheit verspürt und sich niemand wirklich geschätzt oder wohl fühlt. Darunter hat dann sowohl unsere als auch die emotionale Gesundheit anderer Leute zu leiden. Es wird Zeit, dass in unseren Beziehung wieder mehr Verantwortungsbewusstsein herrscht.”
Ghosting hat zur Folge, dass man keine wirkliche Verbindung zu anderen Menschen mehr aufbauen kann. Irgendwann findet man dann auch keinen Draht mehr zu sich selbst. Das Ergebnis: Dem Selbstwertgefühl aller involvierten Personen wird geschadet.
Meine Freundin Melissa ist Yoga-Lehrerin und wir benutzen beide seit letztem Sommer Tinder.
„Vor dem Online-Dating”, erzählt sie, „gab es die Möglichkeit, sich so schnell von einer Affäre zur anderen zu hangeln, einfach noch nicht. Stattdessen hat man damals jede Erfahrung noch verdauen müssen.”
„Jetzt ist es doch so”, sagt sie weiter, „dass man direkt die nächste Person an den Start bringen kann, wenn man das Gefühl hat, dass die aktuelle Beziehung den Bach runtergeht. Und genau das ist nicht gesund, denn man macht das ja eigentlich nur, um sich nicht mit dem Schmerz einer Abweisung beschäftigen zu müssen. Klar, eine Abweisung ist immer scheiße, aber aus dem Niedergang einer Beziehung oder einer emotionalen Verbindung kann man auch viel lernen. Das wollen die Leute jedoch nicht mehr länger wahrhaben.”
Die Wahrheit tut vor allem der geghosteten Person gut, denn so kann sie ihren Frieden finden und mit der ganzen Sache abschließen. Wir alle haben schon mal jemanden ignoriert und sind auch selbst schon mal ignoriert worden, und Letzteres lässt selbst die selbstsichersten Menschen der Welt gehörig an sich selbst zweifeln.
Es gibt in Bezug auf das Ende einer Bekanntschaft immer weniger Regeln und deshalb bleibt uns nichts anderes mehr übrig, als das Verhalten unserer verflossenen Dates zu entschlüsseln: Warum haben sie mir nicht zurückgeschrieben? Ihr Handy muss kaputt sein. Diese Woche hatten sie auf Arbeit sicher eine Menge Stress! Ihnen gehts vielleicht nicht so gut. Sie sind total schüchtern, vielleicht geht es ihnen alles zu schnell …
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Auch wenn es vielleicht grausam klingt, aber du solltest anderen Personen auf jeden Fall (freundlich) mitteilen, wenn du nicht auf sie stehst. So wissen sie nämlich, dass sie das Ganze hinter sich lassen können und sich nicht mehr fragen müssen, ob du von einem Auto überfahren oder von einem wilden Bären aufgefressen wurdest. Außerdem rückt man so den Fokus auf sich selbst: Sie können ja nichts dafür, dass sie nicht dein Typ sind, und daran gibt es auch nichts zu ändern.
Und trotzdem wird Ghosting nicht einfach so von heute auf morgen verschwinden. Aus diesem Grund habe ich versucht, eine kleine Liste an Bewältigungsmechanismen zusammenzustellen, und dafür auch mit meinem Kumpel Hot Julian über dieses Thema geredet. Ihm scheint das Ganze nicht sehr häufig zu passieren und er fragte sich:
„Ist die Welt unterfickt? Vielleicht würden sich die Leute nicht mehr so sehr um solche Sachen scheren, wenn sie öfters Sex hätten.”
So kann man das Ganze auch sehen. Es hat schon etwas für sich, mehrere Partneroptionen an der Angel zu haben, damit sich etwaige Schmerzen in Grenzen halten, aber wenn wir nicht aufpassen, kann dieses Prinzip auch einen Teufelskreis der Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen in Gang setzen. Als Hot Julian weiter über dieses Thema sinniert, kommt ihm ein Gedanke, der hundertprozentig zutrifft: Es ist einfach, so mit anderen Leuten umzuspringen, weil wir hauptsächlich mit Leuten schlafen, die wir nicht oder kaum kennen. Und wenn wir jemanden nicht kennen, dann haben wir auch weniger Probleme damit, dieser Person wehzutun.
Wenn wir jedoch eine Beziehung eingehen wollen, dann müssen wir uns leider die Zeit nehmen und unseren Gegenüber wirklich kennenlernen.
Meine Freundin und Journalismus-Kollegin Kasia Mychajlowycz öffnete mir auf ihre typische Art und Weise unsanft die Augen, als ich mich vor ein paar Monaten bei ihr über das Verschwinden eines Schwarms ausheulte (ich ging ernsthaft davon aus, dass er gestorben war). Sie führte den Gedanken weiter aus, den auch schon Hot Julian ausgesprochen hatte:
„Er hat dich doch gar nicht gekannt!”, meinte sie. „Wenn Leute uns abschießen, bevor sie uns wirklich kennen, dann müssen wir das nicht persönlich nehmen. Vielleicht haben ihm deine Titten nicht gefallen oder vielleicht habt ihr einfach nicht genügend Gemeinsamkeiten gehabt. Wie dem auch sei, es ist nicht dein Problem.”
Eine solche Einstellung ist richtig befreiend und wenn wir uns das Ganze immer wieder einreden, dann kann das den Schmerz einer Abweisung lindern. Manchmal passt es eben einfach nicht. Und nicht jeder Mensch kann den Mut bzw. die Höflichkeit besitzen, um ehrlich zuzugeben, wenn kein wirkliches Interesse besteht.
Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass die nächste Person, die ich ignoriere, Google nicht mächtig ist und diesen Artikel nicht lesen wird.