Für die meisten Männer wäre der Tunnel ganz schön eng gewesen, doch für den Mann, den man „El Chapo” nennt, war er genau richtig.
Auch wenn er dem FBI zufolge Pablo Escobar als den erfolgreichsten Drogenboss aller Zeiten abgelöst hat—und das war vor vier Jahren—, kennen wir doch herzlich wenig biografische Details über Joaquín Guzmán Loera, besser bekannt unter seinem Spitznamen, der übersetzt „der Kurze” bedeutet. Nicht einmal sein Geburtsdatum kennen wir, doch er soll Ende 50 sein, ein Selfmademan, der Analphabetismus und Armut überwunden hat, um einer der erfolgreichsten Geschäftsmänner aller Zeiten zu werden.
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Was die mexikanischen Behörden mit Sicherheit wissen, ist seine Körpergröße von 165 cm—nur 2,5 cm kleiner als der Tunnel, durch den er am 11. Juli aus dem sichersten Gefängnis des Landes entkam. Dieser Vorfall war das zweite Mal, dass das Oberhaupt des Sinaloa-Kartells sich seinen Weg aus dem Gefängnis gegraben hat, und er stellt für die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto ein regelrechtes Desaster dar, hatte sie doch seine erneute Festnahme letztes Jahr als Beweis für ihr erfolgreiches Vorgehen gegen das organisierte Verbrechen angeführt, so die New York Times.
Wie VICE News berichtet hat, kletterte Guzmán gegen 21 Uhr vergangenen Samstag im Gefängnis Altiplano in ein 60 x 60 Zentimeter großes Loch und kam durch eine 50 Zentimeter breite, rechteckige Öffnung in einem Gebäude aus Betonblöcken etwa anderthalb Kilometer entfernt wieder hervor. Der Tunnel, der klingt wie etwas aus einem Actionfilm, ist anscheinend ein herausragendes technisches Projekt, vollständig mit Belüftung, Beleuchtung und sogar einem Schienensystem, das mit einer Art Motorrad verbunden war, um die ganze Erde aus dem Tunnel zu schaffen.
Der Ausbruch ist nur ein weiteres erstaunliches Kapitel im Leben Guzmáns, das ohnehin schon wirkt wie eine Geschichte von der Kinoleinwand. Geboren als Sohn einer armen Familie in dem Dorf La Tuna in Badiraguato im Nordwesten Mexikos, verkaufte El Chapo in seiner Kindheit Orangen, brach die Schule in der dritten Klasse ab und fing mit 15 Jahren an, seine Familie mit seinem Marihuana-Geschäft zu unterstützen. Nachdem er seine Heimat verlassen hatte, begann er seine Karriere im Guadalajara-Kartell und wurde zu einer Schlüsselfigur in der neuen Ordnung des Drogengeschäfts, nachdem die DEA gegen Schmuggler in Südamerika durchgriff.
El Chapo verdiente sich seinen Namen und sein Vermögen dank mehr als 100 Schmugglertunnels in der Nähe der Grenze zwischen Mexiko und den USA. Doch nach einer langen und gewalttätigen Karriere, die in einem blutigen Kampf gegen das Tijuana-Kartell kulminierte, wurde er 1993 in Guatemala festgenommen und zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Sein Ruf erreichte mythische Ausmaße, als er 2001 zum Houdini des mexikanischen Drogenhandels wurde—Berichten zufolge soll er einen Gefängniswärter bestochen haben, ihn in einem Wäschewagen zu verstecken. Ab diesem Zeitpunkt war El Chapo mehr eine Legende als ein Mann—ein Goliath, der sich scheinbar in Luft auflösen konnte. Er entging der erneuten Festnahme mehr als ein Jahrzehnt, obwohl er einer der meistgesuchten Männer auf dem Planeten war. (Zu diesem Zweck besaß er mehrere Häuser, die mit Falltüren und Notausstiegsluken ausgestattet waren, zum Beispiel unter einer Badewanne.)
Während seiner Flucht wurde Guzmán zum Protagonisten mehrerer narcocorridos—Balladen, die Loblieder auf Drogenschmuggler darstellen—und es gab Gerüchte, er würde in Restaurants auftauchen, die Handys aller Anwesenden konfiszieren und die Rechnung für alle Gäste übernehmen.
Auch wenn er offensichtlich viele Bewunderer hatte, war es eine große Sache, als El Chapo im Februar 2014 endlich gefasst wurde. Immerhin hatte Präsident Felipe Calderon es zu einem Hauptziel seiner Regierung erklärt, gegen die mexikanische Drogengewalt vorzugehen. Doch trotz aller Zufriedenheit mit der Festnahme machten sich US-Behörden sorgen, der Drogenboss könne wieder ausbrechen, und beantragten seine Auslieferung an die USA, wo er vermutlich mit Bestechung weniger weit käme.
Falls El Chapo wirklich eines Tages an die USA ausgeliefert werden sollte, würde man ihm von einer Küste zur anderen vor Gericht stellen können. Laut US-amerikanischen Bundesgerichtsakten gibt es ausstehende Fälle gegen ihn in New Hampshire, New York, Texas, Kalifornien und Illinois. Letzteres schreibt seiner Operation 1.985 Kilogramm Kokain und Heroin zu, die in Illinois zwischen Juni 2005 und November 2008 beschlagnahmt wurden. Eine Anklage aus Brooklyn von 2009, die letztes Jahr bekanntgegeben wurde, wirft El Chapo und Kollegen mit den Namen El Mayo, El Nacho und El Rey vor, sicarios—Auftragskiller—angeheuert zu haben, um 12 Morde auszuführen.
„Wir teilen die Sorge der mexikanischen Regierung, was den Ausbruch von Joaquín Guzmán Loera „Chapo” aus einem mexikanischen Gefängnis angeht”, teilte US-Justizministerin Loretta Lynch am 12. Juli der Presse mit. „Zusätzlich zu seinen Verbrechen in Mexiko sieht er sich mehreren Anklagen wegen Drogenschmuggel und organisiertem Verbrechen in den Vereinigten Staaten gegenüber.”
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Mexikanische Behörden hatten darauf bestanden, dass El Chapo nie wieder ausbrechen würde. Doch ein Twitter-Account, der mit seinem Sohn in Verbindung gebracht wird, hat möglicherweise schon vor Wochen darauf hingewiesen, dass sich etwas zusammenbraute.
„Ich werde nicht lügen, ich habe geweint, das ist nur menschlich, aber jetzt bin ich dran”, schrieb Iván Guzmán anscheinend am 8. Mai. „Ich habe bewaffnete Leute und ich verspreche euch, der General wird bald zurück sein.”