Wir irren bereits zehn Minuten auf einem nichtssagenden Industriegelände im Norden Berlins herum, als wir sie endlich entdecken: An einem Tor stehen zwei Männer in Lederkutten, mit kurzgeschorenen Haaren und klassischen Türsteher-Figuren. Obwohl uns etwas mulmig ist, gehen der Fotograf und ich auf sie zu. Sie schütteln uns die Hände, ohne zu lächeln. Dann sagt der eine: „Geht einfach da hinten in die kleine Tür rein. Da wird man euch herzlich empfangen.” Jetzt grinst er. Und wir wissen nicht, ob wir uns wirklich freuen sollen, dass unser Plan aufgegangen ist: Die Osmanen Germania, von den Medien als der neue, gefährliche Stern am Rocker-Himmel bezeichnet, persönlich zu treffen.
Dabei war die Gruppe mit dem traditionsbewussten Namen der Öffentlichkeit bis Ende Januar noch weitgehend unbekannt. Um das zu ändern, hielten die Osmanen zwei Großtreffen in deutschen Städten ab: Am Abend des 25. Januar trafen sich in Neuss rund 80 Kuttenträger, zwei Tage später versammelten sich in Duisburg noch einmal 40.
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Das funktionierte. In den nächsten Tagen überschlugen sich die Berichte über die neue Gruppe: „Düsseldorf droht ein neuer Rocker-Krieg” titelte der Kölner Express, „Osmanen-Rocker breiten sich in Deutschland aus” die Bild, „Rockergruppe Osmanen Germania wächst rasant” die Welt.
Alle Artikel waren sich sicher: Die Osmanen Germania sind eine neue, aggressiv expandierende Rockergruppe, die mit aller Kraft in die traditionellen Geschäftsbereiche der etablierten Clubs einbrechen will. „Die Rockergruppe Osmanen Germania drängt mehr und mehr in die Rotlichtbezirke vor, es drohen blutige Revierkämpfe mit etablierten Gruppierungen wie den Hells Angels und den Mongols”, schreibt zum Beispiel die Hannoversche Allgemeine—um direkt im nächsten Satz anzumerken: „Szenekenner warnen allerdings vor Überreaktionen und Panikmache.”
Tatsächlich ist die Polizei in Nordrhein-Westfalen deutlich vorsichtiger mit solchen Urteilen. „Wir sind da noch im Stadium der Erkenntnisgewinnung”, erklärt Klaus Zimmermann, Leiter der Auswertestelle Organisierte Kriminalität im Landeskriminalamt NRW, gegenüber VICE. Von „Rockerkrieg” spricht man im LKA sowieso nicht gerne. Trotzdem: „Wir können Auseinandersetzungen nicht ausschließen. Wir haben das wiederholt gehabt, wenn verfeindete Gruppierungen sich in Territorien anderer aufhalten und eigene Geschäfte machen wollen.”
Aber wollen die Osmanen überhaupt solche Geschäfte machen? Noch sei kein konkreter Sachverhalt bekannt, erklärt Zimmermann. Die Gruppe sei noch zu jung und zu wenig in Erscheinung getreten. Das Interessante ist nämlich: Auf ihren Facebook-Profilen wehren sich die Osmanen allesamt vehement gegen die Vorwürfe, eine kriminelle Rockergang zu sein. „Wir haben die Osmanen Germania Gegründet, um etwas weiterzugeben und nicht zu nehmen”, schreibt einer der Gründer, Selcuk S., auf seiner Facebook-Seite, und beschwert sich über „schmutzige Nachrichten”. Auch andere Mitglieder betonen an jeder Stelle: Die Osmanen Germania sind keine Rocker. Sie sind ja auch kein MC („Motorcycle Club”), sondern ein BC—ein Boxclub.
Haben die Medien sich alles also nur ausgedacht? Sind die Osmanen wirklich nur ein Sportclub mit einem etwas wilden Namen? Und wenn das so ist, warum treten sie so martialisch auf? Sehr viele Antworten gab es auf diese Fragen bisher nicht. Bis auf ein Interview mit einer etwas obskuren Insider-Webseite hat noch nie ein Osmane mit der Presse gesprochen.
Umso überraschter war ich, als sie auf meine Nachricht nicht nur antworteten, sondern uns sogar in ihr Clubhaus einluden. Offenbar wollen die Osmanen ihr Bild in der Öffentlichkeit jetzt doch mitbestimmen.
Die kleine Tür führt uns in den hell erleuchteten Eingang einer sehr aufgeräumten Trainingshalle, in dem ein halbes Dutzend Männer in Kutten herumläuft, die meisten von ihnen ähnlich breit wie die beiden ersten. Zu unserer Erleichterung sind sie aber ziemlich freundlich, alle schütteln uns die Hände. Einer von ihnen, laut Kutte der „Road Captain”, zeigt uns die brandneue Halle, während wir auf den „Präsidenten” warten.
Der Berliner Präsident, der nur „Tiger” genannt werden will, ist dann nochmal stärker gebaut als die anderen. Er ist gleichzeitig auch der „World Sergeant” der Osmanen—das heißt, er ist nach den beiden Gründern Selcuk S. und Mehmet B. einer der wichtigsten Männer im Club. Wir setzen uns in eine Art Aufenthaltsraum, wo er mir erklärt, was die Osmanen Germania aus seiner Sicht sind: „Wir sind ein Boxclub. Bei uns geht es um Sport, um nichts anderes.” Die Kutten trage man nur, weil man sich untereinander zu erkennen geben will. „Was die Medien da so schreiben, das ist alles Müll, erstunken und erlogen. Wir sind keine Rocker, wir haben nichts damit zu tun.”
Um zu verstehen, warum die reine Existenz der Osmanen so viel Wirbel macht, muss man wissen, dass die Rockerszene in Deutschland gerade eine epochale Veränderung durchmacht—was sich hin und wieder ziemlich turbulent äußert. Von einem „Umbruch” spricht Stephan Strehlow, Leiter des Dezernats zur Bekämpfung der Rocker- und Rotlichtkriminalität im LKA Berlin. „Einerseits haben wir die sogenannten Od Schooler, zumeist Deutsche, die dem Gedanken des Rockertums noch sehr verhaftet sind”, erklärt er. Dazu gehören so Sachen wie Rockerehre—und eben auch das Motorradfahren. „Bei den nachwachsenden Rockern haben wir vornehmlich Menschen mit Migrationshintergrund oder eben anderer Staatsangehörigkeit, die ein anderes Verständnis vom Rocker haben.” Für viele dieser Neuzugänge sei die Kutte hauptsächlich ein Instrument, um sich Respekt zu verschaffen und im Schutze der größeren Gruppe ihren kriminellen Aktivitäten nachgehen zu können.
Das Paradebeispiel für die neue Art Rocker ist der Berliner Hells Angel Kadir P.. Der gebürtige Weddinger und Schwerkriminelle, der sich gerade in einem Mordprozess gegen den Vorwurf verteidigen muss, einen Rivalen mit acht Schüssen töten lassen zu haben, war ursprünglich von den Bandidos rekrutiert worden. Als er sah, dass die Hells Angels in Berlin zahlenmäßig stärker waren, lief er kurzerhand mit seiner gesamten Gefolgschaft über. Das funktionierte, obwohl er kurz zuvor erst einen brutalen Angriff auf die Hells Angels durchgeführt hatte, bei dem einem der Rocker mit einer Machete fast das Bein abgetrennt wurde und der Berliner Angels-Chef Alex S. ein Messer in den Rücken bekam. Die ganze Geschichte kann man hier nachlesen.
Wichtiger für den Trubel um die Osmanen Germania sind allerdings die Ereignisse in Hessen und Nordrhein-Westfalen, wo der Konflikt zwischen Old Schoolern und Rockern mit Migrationshintergrund schon länger schwelt. Als der Frankfurter Hells-Angels-Chef „Schnitzel-Walter” (ja, wirklich) im Juli 2014 dem ehrgeizigen Neuzugang Aygün M. verbot, sich mit einem eigenen Chapter in Gießen selbständig zu machen, und M. dann auch noch Türsteher-Aufträge entzog, reagierte der mit einem Frontalangriff. Vor der Diskothek Katana kam es zu einer Schießerei, bei der fünf Rocker verletzt wurden.
Mittlerweile hat sich die Lage in Hessen durch einen Schiedsspruch der internationalen Hells Angels wohl etwas beruhigt. Aygün M. durfte sein Charter in Gießen behalten. Mittlerweile gilt der Gießener Club aber als der Brückenkopf für den berühmten ehemaligen „Paten von Köln”—„Neco” Arabaci, der 2007 nach einer sechsjährigen Haftstrafe in die Türkei entlassen wurde. Von dort soll er allerdings weiter Einfluss auf die Szene haben. So berichtete der Spiegel 2013, die von Arabaci geführten Nomads Turkey steckten offenbar hinter dem Angriff auf eine Hells-Angels-Filiale in Krefeld.
Was hat das mit den Osmanen zu tun? Viel, wenn man zum Beispiel einem Bericht der Zeitung Der Westen glaubt. Dort wird behauptet, die neuen Kuttenträger seien aus den Nomads Turkey hervorgegangen. Nichts, wenn man den Osmanen selber zuhört. „Das stimmt überhaupt nicht”, erklärt Tiger, den das Thema sichtlich ärgert. „Das sind einfach Spekulationen.” Stephan Strehlow vom Berliner LKA erklärt ebenfalls: „Wir haben keine Anhaltspunkte, dass es eine von außen gelenkte Gründung war.”
Laut mehrerer auf Facebook und im Internet sichtbaren Fotos haben die Osmanen aber zumindest eine sehr freundschaftliche Beziehung zu Aygün M.s Hells Angels aus Gießen. Es gibt sogar ein Bild von einem Kuchen, dekoriert mit den Logos der beiden Clubs. „Gerade von den Osmanen Germania gibt es ganz klare Aussagen, mit wem sie sympathisieren, und das sind die Hells Angels”, bestätigt auch Stephan Strehlow. „Unsere Osmanen hier in Berlin erklären sich auch als Supporter vom HMC Gießen.”
Tiger leugnet das. „Wir haben mit manchen von denen privat zu tun gehabt, und dann hat man sich mal getroffen und was zusammen gegessen. Aber ansonsten haben wir mit niemandem was zu tun”, versichert er. Trotzdem wurden bei dem Treffen keine Fotos vom Essen, sondern von den beteiligten Clubchefs gemacht, die stolz nebeneinander ihre Kutten präsentieren.
Tatsächlich ist einer der Gründer der Osmanen ein Ex-Mitglied der Hells Angels. Und die Gruppe hat nicht nur die Ränge (Präsident, Vize-Präsident, Seargeant-at-Arms, Member und Prospect) von den Rockern übernommen, sondern auch viel von der Bildsprache. Auf seiner Hand trägt Tiger ein großes „13″-Tattoo, ein klassischer Rocker-Code für den Buchstaben M (wie „Marihuana” oder „Motorcycle”, ist nicht ganz klar)—der allerdings nicht nur von den Hells Angels benutzt wird. Für die Osmanen bedeutet die 13 allerdings die Zahl ihrer geheimen Gesetze—alles „gute Gesetze, wie Loyalität”, wie Tiger mir versichert.
Lieber redet er über die Erfolge bei der Jugendarbeit, die für die Osmanen das zentrale Element sei. „Viele von uns waren Straßenjungs, manche von denen waren im Gefängnis. Wir wollen nicht, dass das der Jugend passiert. Wir versuchen, denen Perspektiven zu bieten.” Deshalb haben die Mitglieder alle zusammengelegt, um diese ehemalige Fabrikhalle in eine Trainingshalle umzuwandeln. Und: Bei den Osmanen herrscht striktes Alkohol- und Drogenverbot. Schon deshalb könne man nicht kriminell sein: „Leute, die Drogen verkaufen und andere damit vergiften—Drogen sind Gift für uns—, die fliegen raus.” Dasselbe gilt für Mitglieder, die sich beim Mitmischen im Rotlichtmilieu erwischen lassen.
Wenn einer selbst ein Problem mit Drogen habe, dann sei die Bruderschaft allerdings für ihn da. „Wir sind wirklich ein sozialer Verein hier.” Zum Beispiel hätte der Club bei der Beerdigung des in Moabit entführten und ermordeten Flüchtlingsjungen Mohamed freiwillig und gratis die Security gestellt. „Wir machen auch Familienabende, da kommen nur Leute mit Freundin, Verlobter oder Frau. Dann grillen wir hier.”
Das mit dem sozialen Verein sieht die Polizei sowohl in Berlin als auch in NRW ziemlich skeptisch. „Das sind Personen, die der Polizei bekannt sind”, sagt Klaus Zimmermann mit Blick auf die Osmanen in NRW. „Wir haben Erkenntnisse aus dem Bereich Gewaltkriminalität, auch vereinzelt Betäubungsmittel- und Waffendelikte.” Aber kann es nicht sein, dass die Mitglieder sich jetzt wirklich in einem Boxclub zusammengefunden haben, um Sport zu machen? „Die geben das vor”, meint Stephan Strehlow aus Berlin. „Wir können das nicht nachvollziehen.”
Bis jetzt scheint man bei den Behörden aber trotzdem noch nicht genau zu wissen, was von den Osmanen zu halten ist. Es ist nicht mal klar, wie viele von ihnen es mittlerweile gibt. Tiger und seine Gefolgsleute sprechen von über 2.500 Mitgliedern allein in Deutschland, in ganz Europa seien es noch mehr. In Nordrhein-Westfalen sind der Polizei aber nur um die 100 Mitglieder bekannt, in Berlin gehen die Behörden von „30 bis maximal 50 Personen” aus—Tiger selbst spricht von mehr als 70 Berliner Mitgliedern.
Am Ende unseres Gespräches betont Tiger selbst noch einmal: „Alles, was ich gesagt habe, ist definitiv die Wahrheit. Wir verdienen hier guten Gewissens unser ehrliches Brot. Ich kann jeden Abend mit einem ruhigen Gewissen zu Hause in meinem Bett liegen.” Später bekam ich dann noch eine Whatsapp-Nachricht von ihm, ich solle noch was dazu schreiben: „Wenn was kommen sollte, stehen wir unseren Mann bis zum letzten Tropfen Blut.”