Was würde passieren, wenn Marine Le Pen wirklich Präsidentin wird?

Titelbild: Screenshot aus Marine Le Pen’s Kampagnenvideo
Dieser Artikel erschien zuerst bei VICE France

Seit Sonntag ist klar: Marine Le Pen hat es durch die erste Runde der Präsidentschaftswahlen geschafft. Mit 21.4 Prozent der Stimmen nahm sie die Hürde, um am 7. Mai in der Stichwahl gegen Emmanuel Macron anzutreten. Umfragen kündigen in dieser zwar ihre Niederlage an – aber denken wir für einen Moment das Undenkbare: Stellen wir uns vor, am 7. Mai 2017 um 20:00 Uhr das strahlende Gesicht von Le Pen auf den Bildschirmen unserer Fernseher zu entdecken. Was würde dann passieren?

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Als neue Bewohnerin des Élysées – wo die französischen Präsidenten seit 1848 leben – könnte sie das Land auf den Kopf stellen. Und das nicht nur durch “eine echte allgemeine Musikerziehung in Schulen” (Massnahme 112 ihres 144 Punkte umfassenden Programmes). Änderungen in der Verfassung, der mögliche Austritt Frankreichs aus der Europäischen Union, die Wiedereinführung einer eigenen Währung und der nationalen Grenzen sowie eine drastische Begrenzung der Einwanderung: Wenn ihre Ideen konsequent umgesetzt werden, würde sich so ziemlich alles für die Institutionen, die Europäische Union, die Finanzmärkte und den Euro verändern. Um nachzuvollziehen, was nach ihrem Wahlsieg alles passieren könnte, haben wir Nicolas Lebourg, ein auf Le Pens Partei Front National (FN) spezialisierten Historiker, um Hilfe gefragt.

Direkt nach den Wahlen

Die Amtseinführung eines neuen Präsidenten findet in der Regel innerhalb von zehn Tagen nach dem zweiten Wahlgang statt und spätestens am letzten Tag der Mandatsperiode des scheidenden Präsidenten. Im Wahlkalender 2017 ist sie auf den 14. Mai gelegt. Vom 7. bis 14. Mai wäre Marine Le Pen demnach noch nicht offiziell Präsidentin, könnte aber passiv zur Auflösung der Finanzmärkte und zur Kapitalflucht beitragen.

Nach der klassischen Wikipedia-Definition meint man mit Finanzmarkt einen Markt, auf dem Personen, private Unternehmen und öffentliche Institutionen um Wertpapiere, Rohstoffe und weitere Vermögenswerte handeln können. Dabei orientieren sie sich an Preisen, die das Angebot und die Nachfrage widerspiegeln. Die Wahl von Marine Le Pen und damit die Möglichkeit eines Ausstiegs aus dem Euro-Raum könnte Investoren dazu veranlassen, eifrig ihre französischen Anleihen zu verkaufen – das befürchtet der Ökonom Gaël Giraud und argumentiert, dass Frankreich sich nun zu einem viel höheren Zinssatz verschulden kann. Um dies zu verhindern, hat Marine Le Pen vorgeschlagen, die direkte Finanzierung durch die französische Zentralbank zu genehmigen (Massnahme 43), ohne zu überlegen, welche Inflationsrisiken dies mit sich bringt. 

Innerhalb der Woche nach der Wahl können Anleger also entscheiden, ob sie ihre Gelder aus Frankreich zurückziehen. Der Weggang von Investoren in Richtung Deutschland, Grossbritannien, USA, China oder Japan hätte schwerwiegende Folgen. Neben einer möglichen Liquiditätskrise für die französischen Banken, könnte er auch die globale Wirtschaftsordnung erschüttern. Angesichts der möglichen Umwälzungen scheint Marine Le Pen für den Moment Kapitalkontrollen auszuschliessen. Bernard Monot präzisiert, dass die “Wirtschaftsstrategie der Partei” lieber auf “Kommunikation und Austausch” zwischen europäischen Ländern setzt. Bei einem Ausstieg aus der Eurozone wird über die Einrichtung einer Dual-Währung debattiert werden: eine Währung für Franzosen im Alltag und eine für Staaten und Unternehmen.

Le Pen, der Front National und die Parlamentswahlen

Kurz nach der Präsidentschaftswahl – voraussichtlich am 11. und 18. Juni – gibt es in Frankreich Parlamentswahlen. Üblicherweise bestätigt in diesen ein grosser Stimmenanteil für die Partei des gewählten Präsidenten dessen Sieg. Bei einer Partei wie dem FN könnten die Karten aber neu gemischt werden. Auf wieviele Abgeordnete kann der Front National zählen? Und wird Marine Le Pen so regieren können, wie sie es sich vorgestellt hat?

Viele dachten für eine lange Zeit, dass der FN Schwierigkeiten habe, sich lokal zu verankern. Nach den letzten lokalen Wahlen sieht es aber so aus, als hätte sich die Situation geändert. Auch wenn der FN bei den Regionalwahlen 2015 schlussendlich keine Region gewonnen hat, hat er dennoch im zweiten Wahlgang 6.8 Millionen Wähler gesammelt – ein historisches Ergebnis, das den vorherigen Rekord der Präsidentschaftswahlen von 2012 übersteigt.

Dank effizienten Bündnissen mit den rechten Parteien sowie dem vorherrschenden Siegesklima der Präsidentschaftswahl, kann der FN damit rechnen, die Anzahl seiner Abgeordneten deutlich zu erhöhen. Nicolas Bay, Generalsekretär des FN, gibt sich zuversichtlich: “Seit einigen Jahren, haben wir eine Menge Leute aus verschiedenen Bereichen für uns gewonnen. Es werden sich uns viele weitere Leute anschliessen wollen, vor dem ersten Wahlgang, zwischen den zwei Wahlgängen und nach dem letzten Wahlgang.” 

Mit der (absoluten oder relativen) Mehrheit im Parlament kann Marine Le Pen eine Regierung nach ihrem Geschmack formen, obwohl sie präzisiert hat, dass ihr Premierminister “nicht zwingend aus dem FN kommen wird”.

Le Pens erste Priorität: Die Verfassung ändern

Marine Le Pen hat während ihrer Kampagne ausdrücklich hervorgehoben, dass es ihr erstes Ziel ist, “den Bürgern ihre Stimme wiederzugeben”. Um das zu erreichen, kommen Referenden zum Zuge. Sie erlauben es Le Pen, die Verfassung zu verändern. Le Pen stützt sich dabei auf ein starkes Argument: das Scheitern eines Referendums von 2005, bei dem Frankreich das Abkommen für eine Europäische Verfassung mit 54.7 Prozent abgelehnt hat. Dieses Abkommen wurde leicht umgeschrieben und drei Jahre später als Vertrag von Lissabon vor das Parlament gebracht und von diesem angenommen. Von diesem “Verrat” der Regierungsparteien, könnte Le Pen profitieren. Das Referendum wäre die einzige Handlungsmöglichkeit, die sie ohne Parlamentsmehrheit hat. Und sie könnte sich mit diesem leicht den Ruf einer echten Demokratin sichern.

Sollte man sich also über die Ausweitung von Referenden Sorgen machen, wenn man nicht extrem rechts ist? Gemäss Lebourg, wäre “eine rationale Lösung, um den Drift zum Volksentscheid zu vermeiden, dass Franzosen kollektiv jährlich mehrere Referenden am selben Tag organisieren. Man entkommt dem Problem der Unterstützung der Exekutive, indem man zum Beispiel zwei Fragen mit ‘Ja’ beantwortet und zwei weitere mit ‘Nein’. Man könnte auf diese Art die Nachfrage und die Stabilität des Landes vereinen.” Zusammenfassend: der französische Bürger kann seine Abneigung zu gewissen von Marine Le Pen vorgeschlagenen Massnahmen zum Ausdruck bringen, während er andere annimmt – in einem solchen Fall stünde nicht nur die Persönlichkeit der Präsidentin auf dem Spiel, sondern auch die Politik, die sie umzusetzen beabsichtigt.

Le Pens zweite Priorität: Ausstieg aus der Europäischen Union

Marine Le Pen möchte den Einfluss der EU in Frankreich schneller verringern, als du “Binnenmarkt” sagen kannst. Sie hat Le Monde gesagt, dass sie sofort nach den Parlamentswahlen ein Referendum abhalten möchte, das die Verfassung umkrempeln würde. Das Ziel in ihren Worten: “Die Überlegenheit der französischen Gesetzgebung gegenüber den europäischen Verträgen zu verankern”. Mit einem Mandat möchte sie in Brüssel über vier Dinge verhandeln, die ihrer Ansicht nach elementar für die französische Souveränität sind: die Rückkehr zu einer eigenen französischen Währung, kein Einfluss des Europäischen Parlaments in Frankreich und die komplette Macht über das eigene Budget und Staatsgebiet. Das Referendum ist der erste Punkt ihres 144-Punkte-Plans.

Sechs Monate später will sie ein weiteres Referendum über den Austritt aus der Europäischen Union organisieren. Marine Le Pen verkündete: “Wenn ich bei den Gesprächen [vor den europäischen Institutionen] erfolgreich war, schlage ich den Franzosen vor zu bleiben. Wenn nicht, werde ich ihnen raten, die EU zu verlassen”. Würde die EU gegenüber Le Pen einlenken, würde das das Ende der Union bedeuten. Doch wie würde das Volk bei einem Referendum abstimmen?

Die Umfragen dazu sind nicht so klar. Im März 2016 wünschten 53 Prozent ein Referendum zum Verbleib respektive Austritt Frankreichs aus der EU (vor Brexit), zwei Monate später wollten 45 Prozent bleiben und 33 Prozent austreten. Nicolas Lebourg sagt: “Nach dem Brexit zeigte eine Meinungsumfrage, dass dieser zu verstärkter Skepsis gegenüber dem Frexit geführt hat. Die Meinung, dass die Mitgliedschaft des Landes in der EU ‘eine gute Sache’ ist, sprang auf 67 Prozent.”

Aber was passiert, wenn sich die Franzosen für den Austritt entscheiden? Ein Referendum, das den Austritt Frankreichs aus der EU in Aussicht stellt, wird die Finanzmärkte beunruhigen. Es gibt wenige Lösungen für den “Frexit” und somit das Ende des Euros in Frankreich. Marine Le Pen könnte planen, den Prozess des EU-Austritts am Wochenende zu starten, wenn die Finanzmärkte geschlossen sind. Oder sie könnte Frankreichs Zentralbank heranziehen und entscheiden, anschliessend die nationale Währung zu erstellen, mit dem Wunsch, die Schulden in Franken zurückzuzahlen. Das ist allerdings mit Risiken verbunden, wie Les Échos vor Kurzem festhielt.

Le Pens Pläne für die Arbeiterklasse

Marine Le Pen sieht in ihrem Programm starke Massnahmen vor, die das Volk betreffen – zum Beispiel: das gesetzliche Rentenalter auf 60 Jahre zu senken, die Gas- und Elektrizitätskosten um 5 Prozent zu senken und die Einkommenssteuer auf 10 Prozent auf die ersten drei Raten zu senken. Alle diese Massnahmen sind Teil des Plans, ein “neues patriotisches Modell” herzustellen. Dieses würde durch Einsparungen finanziert, unter anderem über die Reduktion der Kosten der Immigration und der Europäischen Union. Dieses Prinzip ist in Massnahme 43 festgelegt und besagt, dass “um unsere öffentlichen Finanzen zu verbessern, den schlechten öffentlichen Ausgaben (insbesondere denjenigen, die mit der Einwanderung und der Europäischen Union verknüpft sind) ein Ende gesetzt und der Kampf gegen den Sozialleistungs- und Steuerbetrug geführt wird”. Die Einsparung gelingt zum Beispiel mit dem Abschaffen der staatlichen medizinischen Versorgung für illegale Einwanderer.

Marine Le Pens Gegner sind Immigranten und nicht der Finanzsektor. Gemäss dem Programm des Front National wäre ein Sozialstaat ohne Steuererhöhung möglich, basierend nur auf der Begrenzung der Einwanderung und dem möglichen Austritt aus der EU. Der FN vermeidet hier, genaue Zahlen zu den Einsparungen zu nennen. Innerhalb der Partei scheint es keinen Konsens darüber zu geben. Wie Nicolas Lebourg erwähnt, “hat Marine Le Pen 2012 geschätzt, dass die Immigration 40 Milliarden Euro gekostet hat, dann 70 Milliarden im Jahre 2014 und 100 Milliarden 2015. Währenddessen hat der Generalsekretär, Nicolas Bay, an der Sommerschule der Partei 2016 die Kosten zwischen 25 und 60 Milliarden gesetzt.”

Claude Truong-Ngoc, via

Claude Truong-Ngoc, via

Le Pen vs. die Terroristen

2012 hat Marine Le Pen die “Bleu Marine” ins Leben gerufen, eine Koalition von sehr rechten Parteien. Die Koalition funktioniert als politischer Block mit dem Hauptziel, Sicherheit und Ordnung zu stärken. Um dies zu erreichen, will Marine Le Pen 15.000 Polizisten und Gendarmen rekrutieren. Diesen will sie einen für viele Juristen schwer denkbaren Rechtsschutz garantieren – Massnahme 13 ihres Programms. Es wäre in Konfliktfällen nicht mehr am Polizisten, zu beweisen, dass aus Selbstverteidigung gehandelt wurde, sondern das Opfer muss aufzeigen, dass es keine Notwehr war.

Marine Le Pen fordert auch Massnahmen gegen “Straftäter und kriminelle Banden” und gegen den Terrorismus. Sie schlägt ein “Verbot von Organisationen jeglicher Art, welche im Zusammenhang mit islamischem Fundamentalisten stehen” vor, “die Schliessung von extremistischen Moscheen” und “den Entzug der französischen Nationalität, die Deportation und das Aufenthaltsverbot für alle Zweistaatsangehörige, die im Zusammenhang mit islamistischen Terrorismus stehen”. Die Umsetzung dieser Massnahmen würde sie in einige rechtliche Probleme bringen.

Die wahre Säule des Programms, die Bekämpfung des Terrorismus, verbindet Le Pen gemäss Nicolas Lebourg eng mit ihren Vorstellungen zu Multikulturalismus und Migration. Mit dem FN sei der Terrorismus nicht nur eine Sicherheitsfrage, sondern auch eine kulturelle Frage, was die multiethnische Gesellschaft Frankreichs in Gefahr bringt.

Marine Le Pen will auch massive Reformen der Justiz. Sie möchte unter anderem das Prinzip der Individualisierung der Strafe schwächen, Mindeststrafen wiederherstellen, Sozialleistungen für Eltern von minderjährigen Rückfalltätern streichen, 40.000 zusätzliche Gefängnisplätze schaffen und kriminelle Ausländer automatisch ausweisen.

Und wenn wir unter Le Pen auf die Strasse gehen wollen?

Können Franzosen Le Pens Politik mit Streiks und Protesten beeinflussen? Gewinnt sie den zweiten Wahlgang, käme es sicherlich überall in Frankreich zu riesigen Protesten. Aber Le Pen hat sehr deutlich gemacht, dass es unter ihr keine Proteste während des Ausnahmezustandes geben darf – der nach den Präsidentschaftswahlen auslaufen soll. Nach Nicolas Lebourg, “ist es offensichtlich, dass ein Protestverbot nicht eingehalten wird. Um ehrlich zu sein: Marine Le Pen müsste wahnhaft sein, um Proteste zu verbieten.”

Es ist also unwahrscheinlich, dass Proteste verboten werden. Trotzdem noch ein letzter Ratschlag an die Demonstranten: Massnahme 7 des Programmes des FN sieht vor, “die Verfahren für Verleumdung oder Beleidigung zu vereinfachen”. Geht ihr also auf die Strasse, achtet darauf, nicht zu fies zu Le Pen zu sein.

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