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Erhebe dich, Europa!

Linksradikale, Rechtsextremisten, Studenten und Gewerkschaftler Seite an Seite auf der europaweiten Demo anlässlich des European Day of Action and Solidarity.
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Die ersten, die gestern um Mitternacht auf die Straße gingen, um zu demonstrieren, waren spanische und portugiesische Gewerkschaftsmitglieder, Studenten und Protestgruppen, und das wird vielleicht als erstes europaweit aus den Reihen des Volkes gerufenes „Fuck you!“ in die Geschichtsbücher eingehen. Angesichts des Ausmaßes der Wut, ausgelöst durch die EU-Sparprogramme der letzten Jahre, ist das einzige, was am heutigen gemeinsamen Protest noch verwunderlich sein könnte, dass es dazu nicht schon viel früher gekommen ist. Vor ein paar Wochen, nachdem uns unsere griechischen Freunde vom European Day of Action and Solidarity, oder auch #14N—das Stichwort, das als Twitter-Hashtag in sozialen Netzwerke für die gestrige Streikaktionen benutzt wird—erzählt hatten, haben wir uns vor Aufregung auf den Nägeln herumgebissen. „Verdammte Scheiße, das wird ein Riesending!“, haben wir uns da alle gedacht und unsere Fotografen und Filmcrews europaweit in Alarmbereitschaft versetzt. Wir waren wirklich erstaunt, wie wenig Gedöns bisher in den Leitartikeln und Kommentaren zu diesem möglicherweise historischen Ereignis zu lesen war, es sollte sich aber herausstellen, dass dies nur die Ruhe vor dem großen Mediensturm war. Anstifter zum Streik war die European Trade Union Confederation (AKA so ziemlich jede Gewerkschaft in Europa) in Zusammenarbeit mit Arbeitnehmern überall in Südeuropa. Nach der Bekanntgabe durch ETUC gründete Actualutt, ein Journal für Menschenrechte, die Website Europeanstrike.org, als Motivation, sich den Aktionen der Gewerkschaften anzuschließen. Die Neuigkeiten um #14N verbreiteten sich wie ein Lauffeuer im Spektrum aller europäischen Widerstandslager, von den linksgerichteten Indignados in Spanien und Indignés in Frankreich über Studentengruppen bis hin zu sogar rechtsextremen Gruppierungen, wie CasaPound in Italien. Jepp, du hast das richtig verstanden: Linksradikale, Rechtsextremisten, Studenten und Gewerkschaftler Seite an Seite auf der Demo. Hier eine Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse.

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SPANIEN

Die Polizei löst eine eine Kette von Demonstranten auf.

Um Mitternacht stellte der öffentlich-rechtliche katalanische Sender Televisió de Catalunya (TVC) sein Programm ein, nachdem er bekanntgegeben hatte, am #14N-Streik teilzunehmen. In Katalonien streikten gestern 85 % der Arbeitnehmer und in ganz Spanien kamen immer mehr dazu. Die ersten Berichte von Protesten gab es um Mitternacht in Madrid, Barcelona und anderen spanischen Städten, wo Tausende Demonstranten Straßen blockierten und Unis besetzten.

Dan Hancox, Autor von Utopia and the Valley of Tear, berichtet aus Madrid:

„Die faschistische Gruppe Nudo Patriota Espanol fand es witzig, ein Wortspiel aus ,huelga generalʻ zu machen und ,huelgaʻ (was soviel ,Streikʻ bedeutet) gegen ,vuelvaʻ (was ,er komme zurückʻ bedeutet) auszutauschen—das ergibt den Imperativ KOMME ER ZURÜCK, GENERAL. General Franco. Komm zurück, oh faschistischer Diktator. Natürlich wurde das überklebt.“

Streikende Arbeiter in Zaragoza haben Streikbrecher verschreckt, die in die Demonstrantenreihen vordrangen, um sie aufzulösen, obwohl einen Lastwagen mit einem Stock zu pieken, diesen wohl kaum aufhalten wird.

In Málaga haben nicht-streikende Arbeiter Pfefferspray aus einem Feuerlöscher versprüht, um Demonstranten auseinanderzutreiben.

Die Bergarbeiter aus Asturien waren auch wieder dabei und beteiligten sich an einem Gemeinschaftsakt, bei dem die Hauptverkehrsstraßen mit brennenden Barrikaden blockierten wurden.

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Die größten Proteste fanden in Madrid statt, wo die Polizei mit Gummigeschossen in die Menge schoss und Demonstranten festnahm. Bis jetzt liegt die Zahl der Festnahmen in ganz Spanien bei über 140.

FRANKREICH

Einige Feuerwehrmänner haben den Tag damit begonnen, eine Straßenbahn zu blockieren.

Actualutte hat von 30.000 streikenden Gewerkschaftlern und jungen Leuten in Marseille berichtet, von 3.000 bis 5.000 Streikenden in Bordeaux, 3.000 in Lille, 1.000 in Rennes, Caen und Besançon. In Paris haben sich die französischen Indignados (les Indignés) als Vampire verkleidet (natürlich, um die blutsaugenden Banker darzustellen) und die anderen Demonstranten gejagt. Diese Franzosen, bewahren sich sogar in Zeiten großer Konflikte ihren Sinn für das Theatrale.

Das ist das Video der französischen Indignés, mit dem sie zum Protest motivieren wollen.

ITALIEN

Die italienischen Medien berichteten, dass in Mailand ein Polizist schwer verletzt wurde, nachdem er von 20 Leuten mit Stöcken und Baseballschlägern angegriffen worden war. Überall in Italien wurde von verletzten Polizisten berichtet, dazu zählen auch zwei Polizisten, die mit Feuerwerksböllern in Padua angegriffen wurden—ein Unfall, der zur Festnahme der beiden Demonstranten führte. In Brescia wurden drei Studenten festgenommen, weil sie Autoreifen angezündet haben, was Demonstranten dazu veranlasste, ihre Marschrute aus Solidarität in Richtung Polizeistation zu ändern.

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In Ancona haben die Demonstranten ein paar Eier und Farbbeutel auf eine Bank geworfen.

In Mailand haben die Demonstranten einen „Book Bloc“ gebildet, bevor sie auf die Polizisten frontal losstürmten, Braveheart-Style.

Zwischenzeitlich kam es in Rom zu Zusammenstößen. Und das war nicht ausschließlich das übliche Aufeinanderprallen von linken Studenten und Polizisten; diesmal waren die rechtsextremen Blocco Studentesco mit dabei, eine Studentenorganisation von CasaPound.

GRIECHENLAND

Es dürfte keine Überraschung für diejenigen sein, die die aktuellen Entwicklungen in Griechenland verfolgt haben, dass die Polizei in Athen eine Blockade errichtet hat, die Demonstranten davon abhalten soll, ins Parlamentsgebäude einzudringen. Aber es könnte dich schockieren zu hören, dass das völlig unnötig war. Dort, wo in den vergangenen Monaten das Zentrum des Protests gelegen hatte, die Welthauptstadt des Aufstands, zog nun ein friedlicher Demonstrationszug von nur 5.000 Menschen vorbei. Ich nehme an, sie sind des Randalierens in letzter Zeit einfach müde geworden, oder vielleicht sind die lebhafteren Elemente des Widerstands auch nur immer noch damit beschäftigt, sich abzutrocknen, nachdem die Polizisten letzte Woche ihre brandneuen Wasserwerfer zum ersten Mal an ihnen ausprobiert hatten.

Das Dramatischste, was hier passierte, war die Vorführung eines Puppentheaters—das sollte womöglich eine Satire sein.

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Die Wenigen, die da waren, zeigten ihre Solidarität, indem sie die Flaggen von Spanien und Portugal spazieren führten.

ENGLAND

In England ist es ziemlich ruhig geblieben. In London versuchten einige Demonstranten, die Leute von ihren Weihnachtseinkäufen abzuhalten, indem sie die Oxford Street blockierten.

Bei besagten Prostestlern handelte es sich Crossrail-Mitarbeiter. Sie haben gerade einen Disput in Gang gesetzt, weil alle 28 Mitarbeiter, die der Gewerkschaft UNITE angehörten, entlassen worden waren, nachdem sie Infos über Gesund- und Sicherheit an die Öffentlichkeit gebracht hatten.

DEUTSCHLAND

Im Gegensatz zu Ländern wie Spanien, Portugal oder Italien scheint der Generalstreik gegen die Sparpolitik in Deutschland nicht allzu viele Menschen auf die Straßen zu locken. Bei der Demonstration gestern Nachmittag auf dem Pariser Platz in Berlin, organisiert vom Griechenland-Solidaritätskomitee und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), mit Unterstützung von u.a. der Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin (ARAB) sowie einige der Flüchtlinge, die seit einem Monat am Brandenburger Tor auf die rassistische Gesetzgebung in Deutschland aufmerksam machen, waren die einzig aggressiven Gesichter bei den vertretenen Presseleuten zu verzeichnen, als sie sich bei dem Versuch, die wenigen hochgehaltenen Schilder zu fotografieren, gegenseitig auf die Füße traten.

Auch der im Anschluss an die Vorträge gestartete, gemeinsame Protestzug in Richtung Bundesfinanzministerium und Potsdamer Platz, auf dessen Abschlusskundgebung außerdem Vertreter und Vertreterinnen der Linkspartei, eines Betriebsrates und der hellenischen Gemeinde zu der immer kläglicher zusammenschrumpfenden Versammlung „gegen Krise, Kapitalismus und den neuen deutschen Imperialismus“ sprachen, schaffte es, genau wie in allen anderen Städten Deutschlands, nicht die Zahl der sich Empörenden nennenswert in die Höhe zu treiben.

Selbst die anwesenden Vertreter der Polizei ließ das Ganze völlig kalt, anstatt sich gegen die aufgebrachten Massen stemmen zu müssen, standen sie in aller Seelenruhe im kuschlig warmen Starbucks an der Theke. Im Herzen der Bestie scheint die Solidarität zu unseren Nachbarn wohl zu gären, ein richtiges Feuer indes ist hier bis heute noch nicht entfacht