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Sex

Wie ein Fall um eine Kinder-Sexpuppe unangenehme Fragen zum Thema Pädophilie aufwirft

In Neufundland wurde ein Mann verhaftet, weil er sich eine Kinder-Sexpuppe bestellt hatte. Immer mehr Experten sind jedoch der Meinung, dass die kanadischen Kinderpornografie-Gesetze zu streng sind.

Foto: Quinn Dombrowski | Flickr | CC BY-SA 2.0

2013 fingen kanadische Zollbeamten ein aus Japan kommendes, verdächtiges Paket ab, auf dem eine Neufundländer Adresse stand. Dieses Paket enthielt eine lebensechte Sexpuppe. Der Haken an der Sache: Dabei handelte es sich um keine gewöhnliche Sexpuppe, sondern um ein Exemplar, das einem Kleinkind ähnelte.

Kenneth Harrison, der designierte Empfänger des Pakets, wurde verhaftet und für den Besitz von Kinderpornografie sowie den Postversand von obszönen Gegenständen angeklagt. Er hat auf nicht schuldig plädiert und bereitet sich nun auf den Prozess vor, der im Frühling in St. John's stattfinden wird. Im Falle eines Schuldspruchs drohen Harrison bis zu sieben Jahre Haft.

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In Kanadas Strafgesetzbuch heißt es in Abschnitt 163.1, dass eine Kinder-Sexpuppe unter Kinderpornografie fällt—es muss also nicht zwangsläufig ein echtes Kind involviert sein, um den Tatbestand der Kinderpornografie zu erfüllen.

„Zwischenfälle dieser Art können als kriminell angesehen werden", meinte Sergeant Colin McNeil, ein Pressesprecher der Polizeibehörde Neufundlands, gegenüber VICE. Zu Harrisons Fall konnte er jedoch keine weiteren Angaben machen, da der ja gerade vor Gericht verhandelt wird.

Die Anklage bezieht sich ausschließlich auf die Sexpuppe und Harrisons Anwalt Bob Buckingham gab zu Protokoll, dass sein Klient keine Vorstrafen haben würde.

In der Vergangenheit hat es in Kanada mehrere Festnahmen von Menschen gegeben, die man dann aufgrund des Besitzes von Cartoon- oder Anime-Pornografie angeklagt hat, in der auch Kinder dargestellt wurden. Es hat den Anschein, als würden viele dieser Abbildungen aus dem asiatischen Raum stammen—vor allem aus Japan, wo der Besitz von Kinderpornografie übrigens erst 2014 offiziell verboten wurde. Gezeichnete Darstellungen von Sex mit Kindern sind dort allerdings auch heute noch legal.

Harrison und seine Sexpuppe sind in Kanada jedoch so etwas wie ein Präzedenzfall. Die dortigen Gesetze definieren Kinderpornografie als Fotos, Filme, Videos oder andere visuelle Darstellungen—egal ob nun mit elektronischen oder mechanischen Mitteln produziert—, die eine als minderjährig zu erkennende Person bei explizit sexuellen Handlungen zeigen oder deren Hauptcharakteristik darin besteht, das Geschlechtsorgan oder die Analregion einer minderjährigen Person für sexuelle Zwecke zu zeigen.

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Bei einer solch durchgreifenden Festlegung von Kinderpornografie ist es eigentlich klar, dass da auch Harrisons Sexpuppe mit eingeschlossen wird: Es handelt sich dabei ja im Grunde um eine visuelle Darstellung einer minderjährigen Person, die mit mechanischen Mitteln hergestellt wurde und deren Hauptcharakteristik der sexuelle Zweck ist.

Harrisons Fall ist auch das erste Mal, dass sich ein Kinderpornografie-Vorwurf nicht auf Zeichnungen, Literatur oder digitale Darstellungen bezieht—und dieser Umstand hat die Behörden, Kriminologen, Psychologen, Anwälte und Medien landesweit überrascht.

„Ein solcher Gegenstand oder etwas Ähnliches ist mir noch nie untergekommen", meinte Daryl Hooper, ein Ermittler der kanadischen Zollbehörde, der in den Fall involviert war und nun schon seit gut 25 Jahren in seinem Beruf tätig ist.

Bei der Pressekonferenz zu Harrisons Festnahme gaben die Behörden zu Protokoll, dass die kindliche Puppe aus Schaumstoff bestehen, eine Schuluniform tragen und gut 1,30 Meter groß sein würde. Das Paket enthielt wohl auch „Gegenstände zur sexuellen Befriedigung", so die Beamten. Welches Geschlecht die Puppe hat, wurde nicht bekanntgegeben.

„An diesem Fall ist vor allem interessant, dass man davor bei Kinderpornografie und anderen Obszönitäten vor allem an visuelle, audiovisuelle oder geschriebene Darstellungen gedacht hat—und eben nicht an dreidimensionale Objekte", erklärte Anita Lam, eine Kriminologie-Professorin an der York University, gegenüber VICE.

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Bei der Vorbereitung auf den Kinder-Sexpuppen-Fall muss sich das Gericht damit auseinandersetzen, dass Harrisons Prozess in Bezug auf die rechtlichen, moralischen und wissenschaftlichen Aspekte doch etwas komplizierter ist. Die wohl wichtigste Frage lautet dabei: Macht eine Kinder-Sexpuppe den Besitzer automatisch zu einem Pädophilen?

Pädophilie-Experten sind sich da gar nicht mal so sicher.

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„Einige Leute glauben immer noch, dass die Erfüllung einer sexuellen Fantasie einen Menschen automatisch mehr darüber definiert, auf was sie da stehen, oder dass ein Mensch pädophil wird, wenn er zum Bild eines Kindes masturbiert", meinte Dr. James Cantor, ein Pädophilie-Experte und Forscher der University of Toronto, der sich auf die sexuelle Neurowissenschaften spezialisiert hat.

Was Dr. Cantor damit im Grunde sagen will, ist Folgendes: Nicht alle Pädophilen sind automatisch Kindesmissbraucher und genauso wenig ist ein Kinderpornografie-Konsument gleich ein Pädophiler.

„Man findet die Vorstellung einer Kinder-Sexpuppe abstoßend, weil man annimmt, dass ein Mensch durch so etwas pädophil wird. Es gibt jedoch keine Beweise, die diese Annahme untermauern", fügte Dr. Cantor noch hinzu und verglich Harrisons Fall mit einer „Hexenjagd" oder einem Gedankenverbrechen.

Die American Psychiatric Association hat Pädophilie 1968 in ihr Verzeichnis der psychischen Krankheiten aufgenommen. Obwohl Pädophilie meistens als Störung definiert wird, durch die ein sexuelles Interesse an Kindern hervorgerufen wird, hegen einige Forscher Zweifel daran, ob ein Mensch auch dann pädophil ist, wenn er seinem Verlangen nicht nachgibt.

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Laut dem Journal of the American Academy of Psychiatry and the Law setzen viele Menschen Pädophilie mit Kindesmissbrauch gleich. Gleichzeitig wird aber auch angegeben, dass der Konsum von Kinderpornografie nicht als eindeutiger Indikator für eine pädophile Störung angesehen werden sollte.

Pädophilie-Experte Dr. Cantor ist der festen Überzeugung, dass die kanadischen Abgeordneten beim Verabschieden der Kinderpornografie-Gesetze zu überstürzt gehandelt haben, denn auf dem Gebiet wurde noch zu wenig geforscht.

„Im Falle von niedergeschriebener Fiktion, Zeichnungen, Kunstwerken, Animationen oder—wie hier—einer dreidimensionalen Abbildung gibt es keine Opfer, da kein Mensch zu Schaden kommt. Die Leute stören sich aber schon an der Vorstellung, dass jemand ein Bild eines Kindes als sexuell erregend empfindet", sagte Dr. Cantor. „In einer freien Gesellschaft verbieten wir keine Dinge, nur weil sie irgendjemand eklig findet. Wir verbieten sie nur dann, wenn von ihnen eine tatsächliche Gefahr ausgeht."

Dr. Cantor reiht sich mit seinen Aussagen neben einigen medizinischen Experten, Kriminologen und Rechtsprofis ein, die die Kinderpornografie-Gesetze Kanadas aufgrund von fehlender Forschung als problematisch und fast schon drakonisch bezeichnen. „Wir dürfen die moralische Reaktion vieler Leute auf die Vorstellung von Kinderpornografie nicht mit der augenscheinlichen Gefahr verwechseln. Bei Anime oder anderen digitalen Inhalten sind keine echten Kinder involviert", erklärte Dr. Michael Seto, ein forensischer Psychologe, der sich auf pädophile Verhaltensweisen spezialisiert hat und die forensische Forschungsabteilung an der University of Ottawa leitet.

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Abgesehen von den doch etwas überholten Kinderpornografie-Gesetzen zeigt uns der Fall von Kenneth Harrison auch auf, wie wenig Forschung es eigentlich zum Thema Pädophilie gibt. Aufgrund der strengen Gesetzeslage haben kanadische Experten absolut keine Ahnung, wie pädophile Menschen auf virtuelle Kinderpornografie überhaupt reagieren würden. Auf diesem Forschungsgebiet fließen nur wenige Gelder und die Arbeit bleibt so liegen. Das ganze Thema ist selbst in vielen wissenschaftlichen oder akademischen Kreisen einfach zu sehr tabuisiert, um wirklich ernsthaft untersucht zu werden.

Der Bedarf an Studien zu diesem Thema wird jedoch immer größer—vor allem wenn man an die rasant fortschreitende Technologie denkt, die bei den Dingen, die als Kinderpornografie angesehen werden könnten, schon viel weiter ist als das Gesetz. So gibt es bereits technische Errungenschaften wie die Oculus-Rift-Brille oder Sexpuppen mit künstlicher Intelligenz. Man kann davon ausgehen, dass Kinderporno-Produzenten und Kinder-Sexpuppen-Hersteller (wie das in Japan ansässige Unternehmen Trottla) sich wohl auch bald dieser Technologien bedienen werden.

„Mehr Forschung könnte dabei helfen, bessere Gesetze zu entwickeln", meinte Dr. Seto. „Wenn man zum Beispiel zeigen könnte, dass der Zugang zu virtueller Kinderpornografie für viele Pädophile das einzige für alle Menschen sichere Ventil ihrer Neigung ist, dann hätte man eine Grundlage für eine rechtliche Sonderstellung solcher Inhalte. Die Gesetze könnten aber auch wie in den USA ausschließlich auf die Abbildungen von echten Kindern abzielen."

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Dr. Seto erklärte uns, dass seine Forschungen verhindern sollen, dass Kinder sexuell ausgebeutet und missbraucht werden. Dennoch hat man ihn auch schon als Pädophilen-Sympathisant bezeichnet.

„Ich glaube, dass das Tabu um diese ganze Thematik herum so stark ist, dass es vielen Leuten schon komisch vorkommt, wenn man sich nur wissenschaftlich damit befassen will", meinte er.

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Dr. Seto und seine Kollegen werden die Fragen, die Harrisons Fall nun aufwirft, vielleicht nie wissenschaftlich beantworten können—vor allem dann nicht, wenn sie selbst als die Buhmänner dargestellt werden.

Dr. Cantor meinte ebenfalls, dass er alleine wegen seines Forschungsbereichs schon fälschlicherweise als Pädophiler bezeichnet wurde. Trotzdem kann der klinische Psychologe und Sexualforscher für Harrisons Fall und ähnliche Situationen ein gewisses Verständnis aufbringen.

„Sexueller Missbrauch wird von mir unter keinen Umständen gebilligt, aber mir fällt es dennoch nicht schwer, mit einem Menschen mitzufühlen, der unverschuldet einer sexuellen Neigung bezichtigt wird, die er nicht verwirklichen, ausdrücken oder seiner Familie und seinem engsten Freundeskreis mitteilen kann", erklärte er uns.

„Er hat es nie so gewollt, er kann nichts daran ändern und es hätte so genauso leicht jedem von uns passieren können. Wieso sollte ich also kein Verständnis aufbringen?"

Zwar haben Schwierigkeiten beim Festlegen eines Richters für Harrisons Prozess die ganze Sache verzögert, aber sein Anwalt bestätigte, dass der Fall Ende Mai vor dem Provinzgericht in St. John's angehört werden wird.