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„Bitte schickt uns nicht zurück in diese Hölle“

Täglich erreichen irakische Flüchtlinge auf der Flucht vor IS einen abgelegenen und von der Sonne aufgeheizten Abschnitt der türkisch-irakischen Grenze. Und werden wieder zurückgeschickt.   ...

Täglich erreichen irakische Flüchtlinge einen abgelegenen und von der Sonne aufgeheizten Abschnitt der türkisch-irakischen Grenze. Dabei waten sie durch einen schlammigen Fluss und kriechen unter rostigem Stacheldraht hindurch.

Die Flüchtlinge wurden vom Vorrücken der militanten Terrororganisation Islamischer Staat aus ihrer Heimat vertrieben und sie steigen mit der Hoffnung aus dem Fluss, in der Türkei in Sicherheit zu sein.

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Die meisten von ihnen sind Jesiden—ethnische Kurden, die einer im Zoroastrismus verwurzelten Religion angehören. In den letzten Wochen hat die IS damit gedroht, diesen Glauben in Sinjar—der Heimat der Jesiden im nördlichen Irak—auszumerzen. Im August eroberten die IS-Truppen dort große Gebiete.

„Allein gestern sind über 30 Leute bei uns zu Hause aufgetaucht“, sagte der 43-jährige Bauer Sabri, der in der türkischen Grenzstadt Ovacik wohnt. „Zwei von ihnen wurden sogar in Spannbetttüchern getragen, weil sie nicht mehr laufen konnten. Wir geben ihnen Essen, Wasser und Schuhe, denn viele hatten nicht mal das.“

Die meisten Neuankömmlinge in Ovacik standen schon Horden von islamischen Militanten gegenüber und haben tagelange Märsche ohne Nahrung und Wasser hinter sich. Aber die Stadt ist auch umgeben von militärischen Wachposten, weshalb viele der Flüchtlinge vom türkischen Militär schnell wieder zurück in den Irak geschickt werden.

„Das Militär kommt zu uns und sagt, dass sie jetzt gehen müssen“, sagte Sabri. Sein 19 Jahre alter Sohn Bedirhan zeigte mir ein Handy-Video, in dem zu sehen ist, wie Soldaten kommen, um eine neue Flüchtlingsgruppe zu deportieren.

„Bitte schickt uns nicht zurück in diese Hölle“, flehte ein weiblicher Flüchtling auf Kurdisch. Ein anderes Video zeigt, wie die Flüchtlinge von Soldaten zurück zur Grenze gebracht werden—im Hintergrund sind die Proteste und Buhrufe der Einwohner von Ovacik zu hören.

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Nach drei Jahren Bürgerkrieg im angrenzenden Syrien kämpft die Türkei mit den Kosten von über einer Million syrischer Flüchtlinge, die jetzt im Land leben.

„Jetzt arbeitet die Türkei daran, eine zweite Flüchtlingswelle aus dem Irak zu verhindern. Bei Syrien haben wir noch eine Politik der ‚offenen Grenzen‘ angewandt, aber das Limit ist erreicht“, sagte Hugh Pope, der Vorsitzende der International Crisis Group in der Türkei. Laut ihm hat Ankara im Zeitraum der letzten drei Jahre über drei Milliarden Dollar für die syrischen Flüchtlinge ausgegeben. „Jetzt wird eine Eindämmungspolitik angewandt.“

Die Bewohner von Ovacik erzählten mir, dass die Eindämmungspolitik an der Grenze schon im vollen Gange sei. Nachdem das Militär letztens bereits die über 30 Flüchtlinge von Sabris Grundstück aus dem Land verwies, wurden am Abend weitere 150 Flüchtlinge abgelehnt und am Tag darauf noch mal 250 wieder zurück geschickt.

Es wird geschätzt, dass ungefähr 1.600 Flüchtlinge in die Türkei gekommen sind, wo sie in einem Camp am Rande von Silopi, einer abgelegenen Grenzstadt im Südosten des Landes, Zuflucht suchen.

Als er in das provisorische Flüchtlingslager von Silopi kam, trauerte Murad Kasim Rashow um seine zwei Tanten, die seit dem Überfall der bewaffneten IS-Kämpfer auf seine Heimatstadt Sinjar im Norden des Irak vor eineinhalb Wochen vermisst werden.

„Jedes Mal, wenn ich anrufe, verhöhnt uns eine Stimme auf Arabisch“, sagte Rashow, ein ehemaliger Übersetzer für die US-Armee. „Sie sagen uns nicht, ob unsere Tanten noch leben oder schon tot sind. Selbst in diesem schmerzlichen Moment besitzen sie nicht die Menschlichkeit, unseren Verlust zu verstehen.“

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Um illegal in die Türkei einzureisen, hat Rashow sein Auto verkauft und seine Ersparnisse aufgebraucht, um die Schmuggler zu bezahlen, die für ihn und seine 9-köpfige Familie über 4.000 Dollar verlangten.

Rashows Schwester und sein Schwiegerbruder wurden laut ihm vor zwei Tagen bei der Grenzüberquerung vom türkischen Militär erwischt. Nachdem man ihnen Essen und Trinken gab, wurden sie wieder in den Irak geschickt. „Wir besitzen keine Papiere. Wir haben Angst, dass wir auch wieder abgeschoben werden“, sagte er.

Am Eingang des Flüchtlingslagers, wo Rashows Familie jetzt lebt, ist ganz stolz die Flagge gehisst, auf der Abdullah Ocalan, der geistige Anführer der separatistischen Kurdenbewegung der Türkei, abgebildet ist.

„Dieses Lager wird ohne Zweifel von der PKK geleitet“, sagte Sehmus Seflek, einer der freiwilligen Direktoren des Camps. Lokalpolitiker der Partei des Friedens und der Demokratie (BDP)—der politische Zweig der türkischen Kurdenbewegung—finanzierten die Einrichtung des Lagers. „BDP, PKK—alles das Gleiche. Die Regierung ist hier nicht zu finden“, sagte Seflek.

Fatih Ozer, der Vorsitzende der türkischen Disaster and Emergency Presidency (AFAD)—die größte Hilfsorganisation der türkischen Regierung—bestätigte mir, dass Ankara noch keine Hilfe in das Lager geschickt hat. „Wir arbeiten aber daran“, sagte er. Er fügte hinzu, dass die Türkei „schaut, die Flüchtlinge im Irak zu halten“, indem dort zwei Lager mit einer Kapazität von 36.000 Plätzen errichtet werden.

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„Man könnte meinen, dass es hier die türkische Regierung einfach gar nicht gibt“, sagte Emine Esmer, Silopis Vizebürgermeister und Mitglied der kurdischen BDP. „Noch kommen wir zurecht, aber das ist natürlich kein Dauerzustand.“

Da sie selbst ethnische Kurden sind, werden die Jesiden von den Bewohnern Silopis herzlich willkommen geheißen.

Die Behörden der Stadt erzählten, dass sie aus den Nachbarorten Zelte geholt haben, um die Neuankömmlinge unterzubringen. Die Anwohner spendeten Essen, um die Bedürfnisse des 700 Mann großen Lagers zu decken. Ein irakisch-schwedischer Arzt ist ebenfalls nach Silopi gereist, um kostenlos medizinische Betreuung anzubieten.

Die Anwohner befürchten jedoch auch, dass die Flüchtlingscamps schon bald überfüllt sein könnten, da noch Zehntausende Jesiden nicht mehr im Irak bleiben und die Grenze überqueren wollen.

„Es werden noch viele mehr. Jedes Familienmitglied, das noch im Irak ist, will hierher kommen“, sagte Barakat Alyas, ein 21-jähriger Camp-Bewohner.

Am Dienstag feierten die kurdischen und irakischen Streitkräfte mit Hilfe von US-Luftangriffen einen wichtigen Sieg, indem sie Iraks größten Staudamm, den Mosul-Damm, zurückeroberten.

Aber da immer wieder berichtet wird, wie Tausende Jesiden vom IS getötet werden, kann sich kein Bewohner des Camps in Silopi eine Rückkehr vorstellen.

„Sie können versuchen, uns zu deportieren, aber wir haben gesehen, was für ein Schlachtfeld der Irak geworden ist. Es werden noch viel mehr Leute kommen“, sagte Alyas. „Unsere Häuser wurden eh zerstört und unsere Nachbarn sind tot—wir haben nichts, zu dem wir zurückkehren könnten.“