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Die Verhaftung von Lisa Bosia Mirra zeigt ein Grundproblem der Flüchtlingsfrage

Im Tessin wurde eine Flüchtlingsaktivistin wegen mutmasslicher Schlepperei verhaftet—und hat damit eine wichtige Diskussion angestossen.
Alle Fotos von VICE Media

Lisa Bosia Mirra in Como | Alle Fotos von VICE Media "Sein Vater ist in Deutschland aber die Mutter hat keine Ehepapiere. Es wird nie in Deutschland ankommen", schilderte mir Lisa Bosia Mirra trocken die Situation des Babys, das sie in ihren Armen wiegte. Nur wenige Stunden zuvor, als der Park vor dem Bahnhof San Giovanni noch von Sonnenlicht durchflutet war, war Lisas Stimme noch bedeutend herzlicher. "Endlich sind Journalisten hier!", begrüsste sie mich und erzählte, dass ihre Organisation zur Flüchtlingshilfe "Firdaus" die Wartenden von Como seit gut einer Woche mit Mittagessen und Informationen versorge. "Wir hoffen, dass die Schweiz einen humanitären Korridor für die Flüchtlinge errichtet."

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Heute, gut eineinhalb Monate später, sind die Grenzen für Geflüchtete immer noch dicht. Allein in den letzten drei Augustwochen schickte die Grenzwache gemäss Tages-Anzeiger 4.046 Menschen wieder nach Italien zurück. Lisa Bosia Mirra scheint angesichts der Situation zu radikaleren Mitteln zu gegriffen zu haben: Am Morgen des 1. Septembers, kurz nach 09:00 Uhr, wurde sie in Stabio im Tessin vorläufig festgenommen.

Gemäss Medienberichten wird der Aktivistin und SP-Grossrätin die Begünstigung des illegalen Grenzübertritts vorgeworfen. Sie soll einen Lieferwagen eskortiert haben, in dem vier minderjährige Migranten in die Schweiz gefahren wurden. Inzwischen ist Lisa Bosia Mirra wieder aus der U-Haft entlassen worden. Ihr droht eine Busse oder bis zu einem Jahr Haft

Funiciello feierte sie in einem Facebook-Post als "Heldin" und rief zum zivilen Ungehorsam auf. Der SVP-Nationalrat Andreas Glarner hingegen forderte bei 20 Minuten strikte Konsequenzen: "Da gibt es nur eines: Wer erwischt wird, muss konsequent bestraft werden." Es mache keinen Unterschied, ob jemand Migranten gegen Geld oder aus Überzeugung über die Grenze lotse. Und die Kommentarspalten übten sich im gewohnten logischen Durcheinander: "Eine Grossrätin, es fehlt nur noch, dass sie eine Freundin der Bundesrätin Sommaruga ist, dann wäre alles klar."

Vieles davon ist wohl (partei)politisches Geplänkel von den populistischen Rändern des politischen Spektrums. Trotzdem wird ein derzeitiges Grundproblem in der Praxis der Flüchtlingspolitik aufgeworfen. Lisa Bosia Mirra hat sich schon Mitte Juli bei mir darüber beschwert, dass minderjährige Geflüchtete, teilweise ohne erwachsene Begleitung, von der Grenzwache zurückgewiesen werden—ohne in ein ordentliches Asylverfahren aufgenommen zu werden. Als Beweis zeigte sie mir diesen Rückweisungsbescheid:

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Der Rückweisungsbescheid eines minderjährigen Eritreers

Amnesty International schrieb einen Tag vor der Verhaftung von Lisa Bosia Mirra in einer Medienmitteilung ebenfalls, dass die Schweiz die Rechte von Kindern und Jugendlichen an der Grenze missachte. Viele würden von den Schweizer Behörden an der Grenze zurückgewiesen, obwohl sie Schutz suchten, was gegen die UNO-Kinderrechtskonvention verstosse. Die von Amnesty geführten Interviews mit Jugendlichen in Como hätten zudem ergeben, dass es an der Grenze erhebliche Verständigungsprobleme gebe. Amnesty schloss daraus, dass die Grenzwächter mit einer Aufgabe betraut seien, die nicht ihren Kompetenzen entspreche.

Die Grenzwache und das Bundesamt für Migration versicherten dem Blick noch am selben Tag, dass es keine Probleme gebe. Wer um Asyl bitte, werde in das ordentliche Asylverfahren aufgenommen. Menschen mit falschen oder keinen Papieren würden nach Italien zurückgeschickt. Auch die Verständigung funktioniere gut—notfalls auch mit Händen und Füssen. Zudem seien nur 20 Prozent der angeblich Minderjährigen tatsächlich unter 18 Jahre alt.

Ein minderjähriger Geflüchteter in Como

Vieles zur Situation an der Schweizer Südgrenze ist demnach umstritten. Doch egal, wer nun recht hat—ob die Verteufler oder Vergötterer von Lisa Bosia Mirra, die Juso-Präsidentin oder Andreas Glarner, Amnesty International oder die Schweizer Behörden—etwas bleibt als Fakt bestehen: An der Schweizer Grenze werden Tausende (teils minderjährige) Geflüchtete zurückgewiesen und niemand scheint zu wissen, wie sich dieses Problem lösen lässt.

Lisa Bosia Mirra hat sich diesem Problem gestellt, indem sie das getan hat, was sie Tag für Tag in ihrer Flüchtlingsarbeit tut: Handeln, nicht nur reden. Ob das in diesem konkreten Fall rechtmässig war oder nicht, müssen Gerichte beurteilen. Auf jeden Fall aber hat Lisa Bosia Mirra es geschafft, die Situation in Como so sehr in die breite Öffentlichkeit zu bringen, wie wohl nichts vor ihr. Nun müsste die Öffentlichkeit diese Aufmerksamkeit nur noch zur aktiven Lösungssuche nutzen—sofern sie das denn überhaupt will.

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