Die deutsche Seele ist eine verzweifelte Hausfrau – Wir waren auf der Schlagernacht des Jahres
Alle Fotos: Grey Hutton

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Musik

Die deutsche Seele ist eine verzweifelte Hausfrau – Wir waren auf der Schlagernacht des Jahres

Würgereiz, Sex und Euphorie—Das Phänomen Schlager ist komplizierter, als du dachtest.

Berlin im Winter ist eigentlich Körperverletzung. Völlig egal, wie viel Lebensfreude du im Sommer gesammelt hast—die Stadt wird sie dir mit einer erbarmungslosen Kombination aus Nieselregen, Eiseskälte und Dunkelheit an einem einzigen Nachmittag aussaugen.

Um den Winter zu überleben, greifen die Berliner deshalb zu jedem Trick, und sei er noch so schmutzig. Die einen suchen sich noch schnell eine Saison-Beziehung, die anderen kuscheln sich mit ein bisschen Ketamin tagelang in eine Ecke im Berghain, und wieder andere gehen eben auf Schlager-Festivals. Warum denn nicht? Wenn es ums nackte Überleben geht, ist alles erlaubt.

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Das jedenfalls waren so meine Überlegungen, als ich mich gegen sechs Uhr abends durch den Eisregen zur Mercedes-Benz-Arena* kämpfte, um dort die „Schlagernacht des Jahre 2015" anzuschauen. Der Großteil des Publikums war da bereits ins Gebäude eingezogen, nur ein paar Dutzend Nachzügler im Rentenalter sickerten noch durch die Tore in den hell erleuchteten Eingangsbereich.

Auch auf den Gängen war es schon relativ ruhig, als ich im 4. Stock ankam. Die Verkäufer in den Fast-Food-Buden hatten den ersten Ansturm überstanden und unterhielten sich leise untereinander, man hörte kaum etwas aus der Halle selber. Deshalb war ich auch in keiner Weise auf das vorbereitet, was mich im Inneren des Konzertsaales erwartete.

Als ich die Tür öffnete, stand ich plötzlich in 20 Metern Höhe über einem riesigen, mit Tausenden Menschen gefüllten Stadion—nur dass auch das Spielfeld eine einzige, wogende Menschenmasse war. Und all diese Menschen jubelten gerade zwei Männern in Sakkos zu, die auf einer riesigen Bühne am Ende der Halle herumliefen und sich vor Dutzenden Mega-Bildschirmen herzlich bedankten, in Berlin sein zu dürfen. Es war überwältigend.

Etwas verunsichert setzte ich mich auf einen freien Platz. Unten im fußballgroßen Moshpit konnte man mehrere Gruppen mit so Techno-Leuchtstäben erkennen, da waren offensichtlich jüngere Leute versammelt. Hier auf dem Oberrang waren die meisten Zuschauer im Rentenalter. Von meiner Nachbarin erfuhr ich, dass es sich bei den beiden Männern auf der Bühne um eine Kombo namens Fantasy handelte.

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Offenbar war ihre Show gerade zu Ende. Allerdings wollten sie sich nicht verabschieden, erklärte der eine, ohne den Damen—allen Damen—ein Kompliment zu machen. Das Kompliment kam in Form eines Songs namens „Darling, du hast dich heute wieder schön gemacht". Ich weiß nicht, ob es an der Höhe lag oder an meinem Kater vom Freitag oder wirklich an dem Lied, aber als die beiden zum ersten Mal den Refrain anstimmten („Darling, du hast dich heute wieder schöööön gemacht, und deine Augen wieder buuunt gemalt, nuuur für mich"), wurde mir tatsächlich schlecht. Ich muss dazu sagen, dass ich es hasse, wenn Leute in Texten Übelkeit als Stilmittel benutzen, um ihre Abneigung auszudrücken. Ich würde das nie schreiben, wenn mir in dem Moment nicht wirklich schlecht geworden wäre, was eindeutig irgendwie mit dem Refrain des Liedes zu tun hat. Es funktioniert sogar jetzt noch, wenn ich es mir auf YouTube anhöre:

Das war kein guter Anfang für meine erste Schlagernacht. Dabei hatte ich mir fest vorgenommen, so offen wie möglich an die Sache heranzugehen. Schließlich ist der deutsche Schlager ein faszinierendes Phänomen: Ich kenne eigentlich kein anderes Land, in dem eine so klare Trennung zwischen „normaler" Popmusik und Schunkelmusik behauptet wird. Und obwohl die Linie gar nicht so einfach zu definieren ist, gibt es für viele deutsche Musiker keine eindeutigere Beleidigung, als ihre Musik als Schlager zu bezeichnen—Max Herre ist deshalb mal aus einer Talkshow gestürmt. Was sind das also für Menschen, die offen bekennen, Schlager zu mögen? Und was für Leute treten bei so einer Schlagernacht auf?

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Gleich der nächste Auftritt sollte eine Menge dieser Fragen beantworten: Mit einem Banjo vor der gebräunten Brust tänzelte Jürgen Drews höchstpersönlich auf die Bühne. Jürgen Drews ist dieses Jahr 70 geworden und sieht immer noch aus wie ein verschmitzter Junge, der die Nachbarstochter in einem Kornfeld entjungfern will. Mit Hits wie „Heute nacht schlafen wir in meinem Cabrio", „Ein Bett im Kornfeld", „Ich bau dir ein Schloss" und „Wie im Himmel, so auf Erden" brachte er die Menge in Wallung, mit seinem entspannten Lausbubencharme und seinem präzise angebrachten Arschwackeln kriegte er sogar die betagten Damen um mich herum dazu, aufzustehen und mitzuklatschen. Auf einem Rang neben mir sah ich einen Mittdreißiger in einem weißen T-Shirt, der mit der Faust in der Hand aus vollem Hals „Ich bin dein Pilot, der dich in den Himmel fliegt" mitgrölte und dabei mit aller Kraft die Luft durchbumste.

Die Stimmung war also jetzt schon ziemlich großartig. Trotzdem war ich ein bisschen enttäuscht: Ich hatte heimlich gehofft, in den Schlagern irgendeine Art tieferer Botschaft, vielleicht sogar so etwas wie die deutsche Seele zu finden. Es kann auch sein, dass ich sie gefunden habe—das würde nur bedeuten, dass die deutsche Seele eine etwas gelangweilte Hausfrau ist, die davon träumt, von einem braungebrannten Kreditkartenbetrüger in einem mit Wunderkerzen geschmückten Cabrio abgeholt und in einem Kornfeld/am Strand von Capri/gleich im Auto verräumt zu werden.

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Natürlich gibt es auch die weiblichen Schlagerstars wie Andrea Berg oder Beatrice Egli, aber deren Lieder sind noch viel beliebiger. Die Texte klingen, als würden sie im Minutentakt von einem Computer aus einer Liste mit 50 Wörtern wie „Gefühle", „die ganze Nacht" und „Sternenhimmel" zufallsgeneriert. Und die dritte Stilrichtung, der Party-Schlager à la DJ Ötzi oder Voxxclub, ist grauenhafter als die beiden anderen zusammen. Und das endlose „Zigge Zagge Zigge Zagge—Hoi! Hoi! Hoi!" fand ich schon grauenhaft, bevor ich herausgefunden hatte, dass das ein bei der Hitlerjugend besonders beliebter Ruf war.

Noisey hat tasächlich mal mit einer Schlagerkomponistin gesprochen, die offenbar kein Computer ist.

Als endlich die große Pause kam, versuchte ich mir also von den Fans erklären zu lassen, was genau sie an dieser Musik so begeisterte. Mit meinem ersten Interviewpartner hatte ich gleich Glück: Bjarne Jensen war ein Schlagerfan aus Dänemark, der nun zum ersten Mal die Stars live sehen konnte, die er sonst nur von YouTube kennt. „Ich finde es sehr cool, ich mag die Atmosphäre hier, die Leute, den Sound, die Emotionen", erklärte er mir breit lächelnd. Aber warum ausgerechnet Schlager? „Ich mag die Musik, weil sie mir ein gutes Gefühl gibt. Mehr junge Leute sollten sich Schlagermusik anhören. Ich glaube, es wäre gut für junge Leute, die Atmosphäre hier zu spüren, weil sie so voller Freude ist. Das ist es, was mir gefällt." Dann sah Bjarne, dass im Stockwerk unter uns eine Bar eröffnet wurde, an der sich bereits Trauben von durstigen Schlagerfans gebildet hatten. „Oh! Hier ist jetzt auch eine Party, schätze ich! Das ist auch cool!" Mit einem seligen Grinsen zog er von dannen.

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Tatsächlich schien Alkohol ein wichtiger Teil der Schlager-Erfahrung zu sein. Obwohl ein halber Liter Bier hier 5,50 kostete, konsumierten die Menschen es um mich herum in rauen Mengen. In der Bar unterhielt ich mich mit Klaus, einem Mittfünfziger in rotem Sakko, der aus Gera angereist war und mir endlich auch erklären konnte, warum Helene Fischer heute nicht da war—Klaus wusste, dass sie jetzt „ins Film-Business" will. Trotzdem war er ihr dankbar für ihren Einsatz für die Schlagermusik. „Sie hat auf alle Fälle was getan. Weil, sie hat ja nicht nur gesungen, sie hat ja viel mehr dazu gemacht—sie hat ja Show dazu gemacht. Das hat vorher niemand gemacht." Klaus hatte übrigens stolze 80 Euro für seinen Sitzplatz bezahlt, aber er fand das völlig gerechtfertigt, immerhin ging das Programm auch über 6 Stunden.

Davon hatten wir erst die Hälfte geschafft. Ich beschloss, meine Strategie zu ändern. Wenn ich dieses Schlager-Ding verstehen wollte, dann musste ich meinen Bier-Konsum drastisch erhöhen. Die Auftritte von Linda Hesse und Gilbert verbrachten wir also an der Bar, aber rechtzeitig zu Beatrice Egli waren wir wieder in der Halle. Und siehe da, der Trick mit dem Bier funktionierte! Nicht nur, dass ich Beatrice Egli eine tolle, starke Frau fand, die die Menge perfekt beherrschte, nein, ich verzieh sogar DJ Ötzi seine Existenz.

DJ Ötzi trägt immer noch den Hulk-Hogan-Bart und diese Strickmütze, und er singt immer noch „Anton aus Tirol" und sehr viel „Zigge Zagge". Aber vielleicht gebührt ihm gerade dafür Respekt, dass er das alles so lange durchgehalten hat. Das Publikum jedenfalls liebte die Show. Sogar die beiden Rentnerinnen neben mir klatschten zu Anton im Takt, rechts neben uns schrie ein bulliger Mann mit hochrotem Kopf seinem Kumpel begeistert irgendwas in die Handy-Kamera, auf dem Gang fing plötzlich ein Paar zu tanzen an. Im Moshpit unten flogen die Plastikbecher in alle Richtungen, die leuchtenden Teufelshörner der Junggesellinnen hüpften frenetisch auf und ab. Ich blickte in das riesige, schwer atmende Gesicht von DJ Ötzi auf den Bildschirmen über uns, und ich konnte keine Falschheit erkennen. Er sah aus wie ein Mann, der sich absolut im Einklang mit der ihm immer wieder ekstatisch „Schalalala!" entgegenbrüllenden Menge befindet. Und warum auch nicht? Schließlich machte er die Menschen offensichtlich glücklich. Ist es nicht auch egal, dass 95 Prozent aller Schlagermelodien lieblos zusammengeklatschte Wumms-Musik sind und die Texte weniger Tiefgang haben als eine Kotzlache am Ballermann, solange Menschen sich darüber freuen? Es gibt sehr viele gute Gründe, Schlagermusik zu verachten. Aber keiner davon hat Bestand, wenn man ins gerötete Gesicht einer Rentnerin blickt, die mit glänzenden Augen „Die Gefühle haben Schweigepflicht" mitsingt. Woher soll ich wissen, was diese Frau erlebt hat?

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Nach all dem Party-Gehopse bekamen mit Roland Kaiser dann auch die Crooner das letzte Wort. Das Licht wurde gedämpft, und mit seinem Einstecktuch, dem Altherrencharme und seinen Schnulzen schmolz er die Menge wie Butter. Nach sechs Stunden intensiver Emotionen war auch der harte Kern auf den Stehplätzen glücklich erschöpft. Als Kaiser abging, zerronn die Masse ohne Widerworte durch die Ausgänge.

Zurück blieben Unmengen Plastikbecher, die von eifrigen Putzkräften sofort zu riesigen Bergen zusammengekehrt wurden. Und ein wohliges Gefühl der Zuneigung zu meinen Mitmenschen, die zu Schlagerkonzerten gehen und zufrieden sind, wenn sie ihre Gefühle in gletscherbreiten Klischees wiederfinden. Nur selber muss ich nicht nochmal hin.

*

*Die Mercedes-Benz-Arena war Berlinern bis vor Kurzem noch als „o2 World" bekannt. Eine besondere Gemeinheit, denn die Bewohner hatten die Errichtung dieses Spaßtempels lange erfolglos bekämpft und sich dann noch jahrelang über das riesige o2-Logo geärgert, das nachts das ganze Spreeufer in blaues Licht tauchte. Und gerade, wo sie sich ein bisschen dran gewöhnt haben, wird es abgenommen und durch einen riesigen weißleuchtenden Stern ersetzt. Sind Zermürbung und Erniedrigung der Zielgruppe das neue Ding im Marketing?