Ich hätte nicht gedacht, dass ich mein Zuhause so schnell verlieren würde. Es passierte von heute auf morgen. Meine Mutter hatte schon lange angekündigt, über Weihnachten verreisen zu wollen. Mein Vater war ohnehin nie ein großer Familienmensch gewesen.
Mein Zuhause zerfiel. Dieser Ort, von dem man glaubt, jederzeit zurückkehren zu können, um Sicherheit zu finden. Dabei war gar nichts Schlimmes passiert. Keine großen Brüche, keine Todesfälle, einfach das Leben, das beschlossen hatte, ich müsse mir nun selbst Geborgenheit schaffen. Ich nahm die Herausforderung an. Anfangs widerwillig, doch auch mit Freude am Experiment. Schließlich hatte ich Freunde, deren Familien ich kapern konnte und mit denen ich neue Traditionen schaffen könnte.
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Freundschaften sind mir ohnehin genauso wichtig wie Familie, vielleicht sogar wichtiger. Die guten Gespräche, die Ratschläge, Geborgenheit und Wärme hole ich mir dort. In meiner Familie waren diese Dinge sowieso nie besonders wichtig.
Meine Weihnachtstraditionen waren trotzdem die schönsten. Heiligabend kamen mein Bruder, Freundinnen meiner Mutter, ihr damaliger Mann und ich in der Wohnung zusammen, in der ich aufgewachsen war. Die hohen Decken, die abgeschliffenen Dielen und die Hunde, die darauf lauerten, dass etwas vom Tisch fiel. Wir aßen Raclette, da musste man nur schnibbeln und niemand den ganzen Tag in der Küche stehen. Nach dem Essen kamen meine besten Freunde vorbei, aßen die Reste, tranken den Wein und den Schnaps. Dann zogen wir in die Kneipe weiter. Das ist jetzt seit vier Jahren vorbei.
“Kinder brauchen Wurzeln und Flügel, um im Leben bestehen zu können” – Goethe oder so
In der gleichen Situation wie ich waren 2017 noch 2,4 Millionen andere Menschen in Deutschland. Das hat Manfred Beutel herausgefunden, der Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Mainz. Und es werden mehr. Menschen, die an Weihnachten vor der Glotze hängen, sind also gar nicht so selten. Umso wichtiger, dass wir es nicht nur hinnehmen, sondern als Normalität akzeptieren.
Hatte Goethe nicht gesagt, “Kinder brauchen Wurzeln und Flügel, um im Leben bestehen zu können”? Jedenfalls habe ich einen ähnlichen Kalenderspruch bei unserem Schulgottesdienst zum Abitur vorgelesen wie so ein alberner Altarjunge. Wurzeln hatte ich zur Genüge, sie steckten in der Bonner Erde und ich konnte jederzeit vorbeikommen. An den Flügeln mangelte es mir noch, glaubte ich. Denn ich kam ja gern zurück.
Es war vor vier oder fünf Jahren, als meine Mutter ihren lebenslangen Traum umsetzte: Sie wollte in Portugal leben. Nicht ganzjährig, aber doch den deutschen Winter im europäischen Süden aussitzen. Sie mietete sich ein Häuschen an der Algarve und war von September bis April weg. Ihren Mann nahm sie mit.
Zu den alten Traditionen gehörte auch, dass mein Bruder und ich am zweiten Weihnachtsfeiertag zu unserem Vater und dessen Partnerin fuhren, sie lebten auch in Bonn, nur ein paar Minuten Busfahrt entfernt. Dort waren dann meistens noch deren beiden Töchter. Wir aßen, lachten und ich quälte mich mit dem Kater vom Vortag.
Schon vor seinem Umzug erklärte mein Vater, in seiner Wohnung sei nicht genug Platz für ihn, meinen Bruder und mich.
Dann starb die Partnerin meines Vaters. Er lebte ein paar Jahre allein, fand dann eine neue Liebe und zog mit ihr nach Bayern. Seitdem gibt es keinen Ort mehr, der sich anfühlt wie Zuhause. Zumindest im Winter, wenn meine Mutter nicht da ist. So schnell und unaufgeregt kann das gehen.
Schon vor seinem Umzug erklärte mein Vater, in seiner Wohnung sei nicht genug Platz für ihn, meinen Bruder und mich. Ich hielt das für Unsinn, er wohnte in vier Zimmern, fügte mich aber. Nun musste ich schauen, wo ich mein Weihnachten verbringen würde, erstmals nicht in meiner Heimatstadt.
Meine Wurzeln waren herausgerissen worden. Von nun an musste ich mich gänzlich auf meine Flügel verlassen. Und bedeutet es nicht auch, erwachsen zu sein, wenn diese Flügel so dick und muskulös sind, dass sie mich davontragen können, ohne jemals wieder landen zu müssen?
Deshalb war es gar nicht so schlecht, dass mein Vater mich zu Weihnachten auslud. Denn die Familie meiner damaligen Freundin war ohnehin mega gastfreundlich. Es gab drei Tage lang leckerstes Programm: Wildschwein, verschiedene Sorten Pasta, guten Wein. Und liebevoll familiären Zwist, wie ich ihn von zu Hause kannte. Auch wenn es zu Hause sehr viel besoffener zuging.
Der Mann ballerte sich vor unseren Augen mit Wein, Speed und Lachgas weg, bis er vom Stuhl fiel.
Meine Beziehung nahm mir auch im folgenden Jahr die Sorge, alleine Weihnachten feiern zu müssen. Beziehungen sind toll. Sie sind wie eine Mischung aus Familie, die Stabilität schenkt, und Freundschaft, die diese Stabilität aufregend macht. Dann kommt auch noch Sex hinzu, den ich mit meinen Eltern gar nicht haben wollte.
Ich war mit meiner Beziehung also schon auf dem Weg zu meiner eigenen Familie. Eine, die ich mir ausgesucht hatte. Ich schuf neue Wurzeln, sie sprossen aus meinen Flügeln tief in den eisigen Berliner Sumpf dieses Weihnachtsfests. Doch auch diese Wurzeln starben.
Die erste wahre Probe kam zum Weihnachtsfest nach der Trennung. Ich hatte mich bereits auf einen melancholischen Abend vor Stirb Langsam auf der traurigen Couch bei mittelmäßiger Bestellpizza vorbereitet. Da schlug eine Freundin vor, gemeinsam bei einem befreundeten Paar zu feiern. Sie war selbst single. Auch ihre Mutter lebte im fernen Ausland, ihr Vater sowieso nie da gewesen. Außerdem war Corona, da feierten viele ohne Familie.
Der Abend war alles, was ich mir gewünscht hatte. Der Mann ballerte sich vor unseren Augen mit Wein, Speed und Lachgas weg, bis er vom Stuhl fiel und seine Freundin ihn ins Bett bringen musste: “Wir wollten doch morgen noch streichen.” Es war die Art von freundschaftlicher Weihnachtstradition, die ich gerne jedes Jahr erlebt hätte.
Doch dieselbe Freundin war im Jahr darauf nicht mehr Single. Sie feierte mit der Familie ihres Freundes und wieder war ich vorbereitet auf einen Abend allein, als ich von einem Besuch bei meinem Bruder zurückkam.
Der war mittlerweile Vater und wer einmal mit kleinen Kindern zu tun hatte, weiß, dass man danach immer krank ist. Kaum betrat ich nach der elfstündigen Zugfahrt meine Wohnung, ging es los: Aus allen Körperöffnungen schossen die Flüssigkeiten in Klo und Eimer. Ich verbrachte die Weihnachtstage im Bett. Und brauchte mir keine Sorgen um die Einsamkeit machen, in die ich mich hineinschwitzte. Denn krank hätte ich nicht Weihnachten feiern können, egal ob ich die Möglichkeit gehabt hätte oder nicht.
Dieses Jahr nun feiere ich wieder mit Freunden. Mit einem Paar. Ich spüre jetzt schon, wie überflüssig ich mich fühlen werde in ihrer Vertrautheit, auch wenn ich mich darauf freue. Wir werden Schrottwichteln und traditionelles amerikanisches Weihnachtsessen mit Green Bean Casserole, Lasagne und Cookies essen und Whiskey trinken. Es wird ein Weihnachtsfest, wie ich es mir wünsche, auch wenn ich es lieber hätte, dass es mein eigenes ist. Nicht das Fest des Paares, dem ich aus Mitleid beiwohnen darf.
Wenn ich verstehe, dass es genauso toll ist, Menschen zu haben, die an allen anderen Tagen im Jahr mit mir zusammen sein wollen, reicht das vielleicht auch.
Ich habe bis heute nicht alleine Weihnachten gefeiert. Zumindest wenn man anerkennt, dass sich Kotzen und Schlafen nicht als Feier qualifizieren. Bis heute werde ich deswegen jedes Jahr traurig, wenn die Menschen um mich herum beginnen, nur noch über Geschenke, Bäume, Zugfahrten und Christkinder zu reden. Dabei bin ich ein selbstgenügsamer Typ. Ich kann gut Zeit mit mir alleine verbringen. Aber ich weiß: Das, was die Menschen mit Weihnachten verbinden, gibt es für mich nicht mehr.
Jetzt muss ich noch die Angst verlernen, die ich vor der Einsamkeit an Heiligabend habe. Denn all die Traditionen und der Druck – all das ist ja nicht echt. Es sind Konstruktionen der Gesellschaft. Klar freue ich mich, wenn es Menschen gibt, denen ich wichtig genug bin, dass sie an Weihnachten Zeit mit mir verbringen, davon kann ich mich nicht freimachen.
Aber wenn ich verstehe und verinnerliche, dass es genauso toll ist, Menschen zu haben, die an allen anderen Tagen im Jahr mit mir zusammen sein wollen, reicht das vielleicht auch. Dann wird mein einsamer Heiligabend auf der Couch einfach nur ein gemütlicher Samstag sein, an dem die Geschäfte früher schließen. Ohne das schlechte Gewissen, ohne das Gefühl, nicht geliebt zu werden. Ohne auf andere angewiesen zu sein.
Und wer weiß, ich bin auch nicht nur selbstgenügsam, sondern auch nett und schön und lustig und klug. Ich bin liebenswert und es vor allem wert, dass Menschen mit mir Weihnachten feiern möchten. Eines Tages wird es deshalb auch wieder Wurzeln in meinem Leben geben, die Goethes Quatsch gerecht werden: eine Beziehung, eine eigene Familie oder auch eine Gruppe von Freunden, die sich anfühlt wie eine Familie. Es werden also nicht die alten Bonner Wurzeln sein, sondern meine eigenen. Und dann bin ich wirklich erwachsen.
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