Die U-Bahn ist der erbarmungslose Spiegel unserer Gesellschaft. Sie transportiert die schamlose Wahrheit von A nach B: Leute, die nach dem Fitnessstudio nicht geduscht haben; Halbstarke, die cool auf den Boden spucken; Leute, die Sexspielzeug (einen sadistischen Schwanzring oder dem Anusspreizer) in diesen auffällig/unauffälligen Beuteln unertappt nach Hause bringen wollen. Oder das Schlimmste: Kontrolleure. Aber jede Linie ist anders, jede Linie repräsentiert andere Stadtteile, andere Stadtteilbewohner, andere Lebensstile und dadurch auch andere Musik.
Wir haben in dieser kleinen Reihe schon die U-Bahn-Linien der Städte Berlin, München und Hamburg betrachten. Normalerweise unterscheidet man zwischen U-Bahnen und Straßenbahnen, genannt Trams. In Köln ist beides das gleiche, denn hier kommen die unterirdischen Bahnen früher oder später immer nach oben, um sich—gerade im Hochsommer wie jetzt gerade—ordentlich aufzuheizen. Oben fahren sie dann als Teil des normalen Straßenverkehrs und gehen Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern auf den Sack. In Köln gibt es auch gerne das, was es eigentlich gar nicht geben dürfte: Straßenbahnenstau. Und es gibt haufenweise unnötig kurze Streckenabschnitte von ca. 100 Metern. Schnell wird einem klar, dass Köln irgendwie anders ist. Und so liebenswert!
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12—BLUR: „GIRLS & BOYS“
Köln hat eine Partymeile, die Ringe. Die Linie 12 (im Streckenabschnitt Barbarossaplatz-Friesenplatz) spuckt jeden Abend Partyspacken und aufgegeilte Teenie-Herden aus, die es tatsächlich schaffen, sich an prolligen Clubs wie dem „Diamonds“ oder der Schlager-Restefickrampe „Klapsmühle“ zu erfreuen. Gibt es schlechten Geschmack? Auf den Ringen schon. Interessant ist auch das Kommunikationsverhalten des Ringe-Publikums: Da alle exakt gleich aussehen, muss der, der gehört werden will, am lautesten brüllen. Kennt man so nur aus der Tierwelt.
NORD-SÜD-BAHN—DESTROYER: „KAPUTT“
Noch vor ihrer Eröffnung ist die Kölner Nord-Süd-Stadtbahn eine deutschlandweite Berühmtheit. Am 3. März 2009 um 13:58 Uhr war es „kaputt“: das Historische Archiv der Stadt Köln. Der „Destroyer“ musste nicht lange gesucht werden: die Nord-Süd-Stadtbahn. Bleibt abzuwarten, was als nächstes „kaputt“ geht.
15—ELVIS: „IN THE GHETTO“
Die Linie 15: Sie startet im Herzen der Kölner Südstadt und fährt nach Chorweiler, hoch im Kölner Norden (und/ oder umgekehrt). Start- und Zielpunkt dieser Linie könnten städtegeographisch und Lifestyle-technisch nicht gegensätzlicher sein. Sophisticated „dolce vita“ auf der einen Seite: Parks, Cafés, Wein. Ghetto-Atmosphäre—einer 70er-Jahre-Bausünde sei es gedankt—auf der anderen Seite: Beton, Beton, McDonalds. Chorweiler ist Hardcore, ist Hardchorweiler!
4—THEY MIGHT BE GIANTS: „ISTANBUL“
New York hat Chinatown. Köln hat Turkeytown—falsch, Turkeytowns. Nirgends in Köln zeichnen, schmücken und beleben die hier seit Jahrzehnten lebenden Türken das Stadtbild so unverkennbar positiv wie in Ehrenfeld und in Mühlheim. Beide Stadtteile verbindet die Linie 4. Wer einigermaßen bei Verstand ist—„pro Köln“ also in jeglicher Form ablehnt—erfreut sich an dem Multikulti-Einschlag, den diese zwei Viertel der Stadt bescheren. Köln, das Istanbul nördlich der Alpen.
18—BIG BROTHER-JÜRGEN: „HEUTE FÄHRT DIE 18 BIS NACH ISTANBUL“
In idyllischer Abgeschiedenheit—wir reden von dem Willenviertel Thielenbruch im äußersten Kölner Osten—startet die Linie, der man zu Ehren bis dato die einzige Nahverkehrs-Hymne der Stadt geschrieben hat. Der urkölsche Wunsch, mit der 18 endlich einmal bis nach Istanbul zu fahren—am bescheidenen Ziel aller Träume quasi anzukommen—lässt sich aller Wahrscheinlichkeit auf die krasse Distanz, die diese Linie zurücklegt, zurückführen. Bis in die Nachbarstadt Bonn klappern die zwei Wagons der 18. Der Straßenbahn-Marathon dauert 1,5 Stunden.
9 (UNIVERSITÄT)—BELLE & SEBASTIAN: „WRAPPED UP IN BOOKS“
Sich in Büchern, Reclamheften und Aufsätzen verlieren—und das in einer Straßenbahn. Passt zum Kitsch der Schotten Belle & Sebastian und kann nur die Linie 9 (im Streckenabschnitt Zülpicher Platz-Universität) sein. Köln ist NRWs Hochburg für Geisteswissenschaften, deshalb wird in der 9 auch nur das allerfeinste verschlungen: Kant, Goethe, Kleist, Nietzsche, Kafka, Foucault—drunter machen es die angehenden Geisteswissesnchaftler am Philosophikum nicht. Natürlich gibt es auch noch die BWLer, die VWLer und Juristen dort. Und die fahren auch mit der Bahn. Die Linie 9: Wracked up in books und wrapped up in students.
5—OWL CITY: „FIREFLIES“ (Parody in Ikea – Dave Days)
Lange Zeit hatte die Linie 5 kein Image, wenig Charakter. Unscheinbar schlängelte sie sich von der Innenstadt ins provinziell-hässliche Ossendorf. Dann kam Ikea. Und mit Ikea die neue Endhaltestelle: „Am Butzweiler Hof“. Seitdem pilgern tagtäglich regelrechte Scharen auf Schienen in den Kölner Norden, um sich dort im ganz großen Stil mit Billys, Bennos und anderem Ikeaschrott einzudecken. Es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis die Linie 5 von außen blau-gelb umlackiert wird. Andere Städte haben einen Airport-Express, Köln den Ikea-Express—zumindest gefühlt.
1—DE HÖHNER: „MER STONN ZO DIR FC KÖLLE“
Vom Ikea-Express zum FC-Express aka der Linie 1 (stadtauswärts Richtung Weiden). Wenn am Neumarkt oder Rudolfplatz eine bis oben mit 1. FC Köln-Fans vollgestopfte Bahn angerollt kommt, dann ist es garantiert die 1. Jedes zweite Wochenende zur Bundesligazeit—Köln ist mal wieder aufgestiegen, hey!—geht es mit dieser Linie direkt zum Rheinenergie-Stadion. Im Gedränge der Straßenbahn viel dummes Gegröle, Gelaber, Kölschmief, bisschen Schweiß. Und das ganze in einem Meer aus „rut un wiess“. Verhältnis Männer Frauen: 7:1. Verhältnis angetrunken nüchtern: 9:1. „Herrrlisscchh“!? Geht so.
13—JOHN CAGE: „4’33“
Die einen fragen sich, ob John Cages „4’33“ überhaupt Musik ist. Für die, die es nicht wissen: Kein einziger Ton und das über vier Minuten, definitiv langweilig! Ich wiederum frage mich, ob der Linie 13, die im Kölner Westen unprätentiös hin- und herpendelt, irgendwas Spannendes zugesprochen werden kann. Eigentlich nichts. Dann haben Cage und die 13 doch tatsächlich was gemeinsam. Die vor Langeweile und Piefigkeit strotzenden Fahrgäste—Muttis, Omis und Opis aus Klettenberg, Sülz und Lindental—können da auch nichts mehr rausreißen.
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