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Wembley ist ein seelenloser Nicht-Ort

Der französische Anthropologe Marc Augé prägte eins den Begriff der sogenannten Nicht-Orte (non-lieux). Nicht-Orte sind von Menschenhand geschaffene Orte, die—im Unterschied zu traditionellen Orten—von einem Fehlen an Geschichte, Identität und authentischer Kommunikation geprägt sind. Orte, an denen man mal verweilt, aber sich nicht niederlässt. Flughäfen sind etwa so ein Ort bzw. Nicht-Ort. Viele Shopping-Malls auch. Sterile und seelenlose, ja lebensfeindliche Stätten, die das Produkt von dem sind, was Augé Supermoderne nennt. Ich weiß natürlich nicht, was Augé beim Betreten eines solchen Nicht-Ortes empfindet. Ich für meinen Teil werde von einem Gefühl trister Leere überwältigt.

Das erklärt dann vielleicht auch, warum ich mich neulich beim Betreten des neuen Wembley-Stadions so unwohl gefühlt habe. Es stand das Playoff-Finale in der League 2, der dritthöchsten englischen Spielklasse, zwischen Southend United und den Wycombe Wanderers an. Dabei rührte mein Depri-Dasein aber nicht daher, dass ich meinen Nachmittag mit einem drittklassigen Fußballspiel verbringen sollte. Ich habe durchaus meine Freude an guten, alten Kick-and-Rush-Spielen.

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Mein Gefühl der Verzweiflung hatte vielmehr mit der Tatsache zu tun, dass das neue Wembley-Stadion der ultimative Nicht-Ort ist, ein Ort, am dem Nihilisten geboren werden, der Superlativ von lebloser Leere. Ich hatte soeben das vielleicht furchtbarste Stadion der Welt betreten.

Und dabei haben wir in England doch einige davon. Das Emirates Stadium hat in England beispielsweise den Ruf, sehr kommerziell rüberzukommen. Selbst Old Trafford sagen manche eine gar nicht mal soo dolle Stimmung nach. Trotzdem kann man diesen Stadien nicht absprechen, einen gewissen Charakter zu haben, eine Ausstrahlung, die zum Verweilen einlädt und Vorfreude aufs nächste Heimspiel weckt. Also all das, was man in Wembley vergeblich sucht.

Die Tristesse beginnt für den Stadionbesucher schon beim Aussteigen an der Haltestelle Wembley Park. Für einen kurzen Augenblick—nämlich dann, wenn man in der Ferne den imposanten Betonbogen über dem Stadion erblickt—hat man glatt das Gefühl, in Kürze die Bekanntschaft mit einem einzigartigen Ort zu machen. Doch je mehr man sich auf dem Wembley Way dem Stadion nähert, desto stärker werden auch die Indizien, dass alle Hoffnungen auf ein tolles Fußballerlebnis schon bald nur noch Schall und Rauch sein werden.

Schon die Unterquerung der von Irn-Bru gesponserten „Bru Are Ya!”-Brücke lässt nichts Gutes ahnen. Hier wird man aus perfide versteckten Lautsprechern mit „Bru Are Ya!” angebrüllt—und das auch noch in aggressiver Dauerschleife. Wenn das zum Ziel haben soll, die Fanmassen schneller Richtung Stadion zu bewegen, dann hat das bei mir schon mal ausgezeichnet funktioniert. Also schnell weiter an den ganzen Mobilfunkanbieter-Logos zum (Nicht-)Ort des Geschehens.

Die Brücke des Bösen.

Und während der Bogen immer größer wird, werden auch immer mehr Leuchtschilder sichtbar, die ein vehementes Verbot gegen jegliche Form von Ungezogenheit aussprechen. Dabei erinnern die Schilder an den kleinen Bruder von den auf Autobahnen beheimateten dynamischen Wegweisern. Kein Wunder eigentlich, schließlich machte Augé seine Theorie der Nicht-Orte unter anderem auch an Autobahnen fest. Einige der Warnhinweise machen durchaus Sinn, etwa dass der Besitz von Pyrotechnik zur Verhaftung führen kann. Aber dann sehe ich auf dem Display folgende Botschaft: „No persistent standing”. Nicht lange stehen bleiben?? Seit wann ist es ein Verbrechen bzw. eine Bedrohung für die Gesellschaft, wenn man mal länger als nötig stehen bleibt? Mehr Sicherheit bei Fußballveranstaltungen, klar gerne! Aber irgendwann reicht’s. Kein Wunder, dass Bewegungen à la Against Modern Football immer stärker werden!

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Jungs, so geht das aber nicht, hier einfach so in der Öffentlichkeit stehen zu bleiben!

Setzt man seinen Fuß in die sterilen Katakomben des Stadions, wird das Gefühl von Leere nur noch stärker. Die Wände haben denselben glänzenden Anstrich bekommen, den man von lauschigen 1-Euro-pro-Pinkelpause-Bahnhofstoiletten kennt, während einen die stadioneigenen Bars—wo man mit so ausdrucksstarken Bieren wie lauwarmem Carlsberg lockt—an den letzten Besuch in einer beschissenen Flughafenkneipe erinnern. Aber am schlimmsten war wohl der „Bobby Moore Club”. Warum man auf die Idee gekommen ist, eine Business Lounge nach dem Kumpel- und Kämpfertyp Bobby Moore zu benennen, bleibt wohl für immer ein Geheimnis. Genauso wie die Entscheidung, den Eingangsbereich wie die Pforte zu einem poshen Stripclub für korrupte FIFA-Funktionäre aussehen zu lassen.

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Wenn der Bobby wüsste, für welche tollen Zwecke sein Name herhalten muss…

Doch endlich rein ins Stadion. Das erweist sich als endgültige Stimmungsbremse. Denn nur kurz nachdem die ersten Fangesänge angestimmt werden, kommt das Stadion-Management auf Idee, in ohrenbetäubender Lautstärke die komplett sinnentleerte Frage „Are we ready for the Sky Bet League 2 play-off final?!” ins weite Rund zu brüllen. Und um dem letzten singwütigen Fan den Garaus zu machen, wird schnell noch „Crazy Stupid Love” von Cheryl Cole aufgelegt. Na wenn das nicht `ne echte Fußballhymne ist! In der Halbzeit wird dann noch lautstark für ein Sportfahrzeug Werbung gemacht. Man hat die ganze Zeit den Eindruck, nicht in einem Stadion, sondern auf einem XXL-Basar mit Fußball als Teil des Rahmenprogramms zu sitzen.

Das einzige, was mir den Fußballnachmittag noch einigermaßen versüßen konnte, war das Spiel an sich. Kaum standen die beiden Mannschaften auf dem Platz, begannen auch schon wieder die Fangesänge. Die Menschen standen auf, feuerten ihr Team an und für einen Augenblick, als ich mich mit geschlossenen Augen dem wohligen Lärm eines Fußballspiels hingab, habe ich mich in einem alten, traditionsreichen—von mir aus auch etwas gammeligen—Stadion gesehen und nicht etwa in dieser kühlen Protzschüssel. Southend und Wycombe spielten die wohl besten torlosen 90 Minuten der Fußballgeschichte. Folglich hieß es Verlängerung und nach zwei Toren, darunter der Ausgleich von Southend in der 120. Minute, schließlich Elfmeterschießen. Das konnte dann Southend für sich entscheiden, sehr zur Freude seiner Fans. Das war Fußball. Das war Leidenschaft. Und das trotz—und nicht etwa wegen—des neuen Wembley-Stadions.

Dann wurde „Rude” von Magic! gespielt und ich wusste, dass es höchste Zeit war, mich auf den Weg zu machen. Eine Entscheidung, mit der ich den Schöpfern dieses Nicht-Ortes bestimmt aus dem Herzen sprach. Also wieder dieselben sterilen Gänge entlang, zurück auf den Wembley Way, unter die „Bru Are Ya!”-Brücke hindurch und zurück ins echte Leben.

Ich habe keine Ahnung, ob Marc Augé schon mal im neuen Wembley-Stadion war und—wenn ja—wie er auf den Besuch reagiert hat. Aber ich würde größere Geldsummen wetten, dass ihn das Stadion zum Weinen gebracht hat. Und zwar nicht aus Freude.