Das Weihnachtsessen ist das Highlight des Jahres.
Nicht nur an Weihnachten, sondern oft auch an Silvester ist es vollkommen in Ordnung, wenn wir uns mit superleckerem Essen den Magen vollhauen. Keiner bezeichnet einen als Vielfraß. Gut, vor der großen Fressorgie essen wir vielleicht bewusst etwas weniger und danach zwingen wir uns zu einer kleinen Diät, um die Auswirkungen der Feiertage im Rahmen zu halten. Wir setzen unserem Magen und unserem Verdauungssystem zwar ganz schön zu, aber insgesamt bleiben danach keine großen Schäden zurück. Nur für Menschen mit Essstörungen ist diese Zeit ein regelrechter Alptraum, oft verbunden mit Anfällen und Angstzuständen.
Videos by VICE
An den Feiertagen sind sie nicht nur mit ihren Essstörungen konfrontiert, sondern auch mit einem regelrechten Dilemma: Egal wie sie sich entscheiden, es ist die falsche Entscheidung. Solche paradoxen Signale gibt es überall: Generell heißt es, man soll sich gesund ernähren und regelmäßig Sport treiben. Gleichzeitig ist es aber auch auch allgemein anerkannt, dass man sich während der Feiertage auch mal gehen lassen kann, sich weniger Druck machen muss und in rauen Mengen essen kann.
Die Zeit, in der wir entgegen aller guten Ratschläge faul sein dürfen und Süßigkeiten in uns hineinstopfen können, beginnt schon am 1. Dezember mit dem ersten Türchen im Adventskalender. Ein Ende ist erst am 31. Dezember in Sicht oder je nach Brauch sogar noch später. Vielleicht auch erst am Faschingsdienstag. Bis zu zwei Monate fühlen wir uns also für unsere Fressorgien schuldig, die aber wegen der Weihnachtszeit absolut vertretbar sind—so die allgemeine Meinung.
Wenn Menschen, die mit dem Essen ein Problem haben, gesellschaftlichen (Ess-)Zwängen ausgesetzt sind, geht das selten gut. Egal zu welchem Anlass, ob an Weihnachten oder Ramadan. Egal, ob man essen darf wie ein Tier oder fasten muss.
Niemand merkt, dass ich alles Mögliche in mich hineinstopfe. Ich kann meine Essanfälle haben und keiner bekommt es mit. Die Grenzen, die ich mir setze, wenn ich allein bin, fallen einfach weg.
Ich habe mit Nicolas Sahuc gesprochen, um dieses Dilemma besser zu verstehen. Er ist Ernährungsberater und auf Essstörungen spezialisiert und lässt auch ethisch-philosophische Aspekte in seine Behandlungsansätze einfließen.
Er bestätigt, dass diese Zeit für seine Patienten sehr schwierig ist, noch schwieriger als sonst, da es für sie mehr Stressquellen gibt: „Die Patienten sind in dieser Zeit mit einem Zwang zur Völlerei konfrontiert. Wenn es dann noch Probleme in der Familie gibt, einen Trauerfall oder einfach ein angespanntes Verhältnis, dann wird das emotional für sie noch schwieriger.” Für ihn sind das keine Feiertage, sondern zwanghafte Familientage, ein Dilemma für die Betroffenen: Man muss am Tisch sitzen und sich über das Essen freuen.
Um die Situation besser zu verstehen, habe ich mich auch mit verschiedenen Mädchen unterhalten, die jedes Jahr zu den Feiertagen diesen inneren Kampf austragen.
Sophia* litt zuerst an Anorexie und danach an Bulimie. Heute sagt sie selbst, dass ihr Zustand weitestgehend stabil ist. Für sie ist die Weihnachtszeit eine Zeit, in der niemand merkt, „dass ich alles Mögliche in mich hineinstopfe. Ich kann meine Essanfälle haben und keiner bekommt es mit. Die Grenzen, die ich mir setze, wenn ich allein bin, fallen einfach weg.” Sie erzählt auch, dass keiner „die Esssucht bemerkt”. Als sie an Anorexie litt, war dieser zeitweise Kontrollverlust in Bezug auf das Essen und ihre Ernährung für sie sehr schwer. „Ich bin schwach geworden und habe mir Vorwürfe gemacht, mich regelrecht selbst beschimpft. […] Wenn ich mich gehen lasse, also wenn ich nicht wie sonst jedes Gramm Fett vermeide, dann bereue ich das spätestens im Februar. Dann kommen die Weihnachtsnachwirkungen: Ich verabscheue mich selbst, finde mich fett, dumm und nutzlos. Da habe ich meistens einen Rückfall und übergebe mich wieder.”
Und das stimmt: Selbst wenn die Probleme da sind, bekommt die Familie selten etwas von der Bulimie oder der Esssucht mit. Beziehungsweise werden sie nicht als Probleme erkannt. Wenn man allerdings weniger isst, als es die Norm wäre, dann werden alle aufmerksam.
Sie versuchen, mich wie ein Tier zu mästen. Obwohl ich einen großen Teller verputzt habe, drängen sie mich immer, noch drei Mal Nachschlag zu nehmen—da könnte ich ausrasten.
Auch für Laurie* ist diese Zeit eine Belastungsprobe. „Meine Eltern sind Genussmenschen. Sie verstehen nicht, dass ich bestimmte Sachen nicht esse oder besonders auf meine Ernährung achte. Bevor ich an Weihnachten nach Hause fahre, nehme ich oft Xanax, ein angstlösendes Medikament. Damit schaffe ich es, nicht ganz so viel Zucker und Fett in mich hineinzustopfen.”
Julia* erzählt mir im Gespräch, dass selbst jetzt, wo sie nicht mehr anAnorexie leidet, ihre Verwandten immer noch—für Julia oft verletzende—Bemerkungen fallen lassen. Vielleicht machen sie das nur aus eigener (berechtigter) Sorge, aber Julia empfindet das anders: „Sie versuchen, mich wie ein Tier zu mästen. Obwohl ich einen großen Teller verputzt habe, drängen sie mich immer, noch drei Mal Nachschlag zu nehmen—da könnte ich ausrasten. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Leute, die versuchen, ihr Gewicht in den Griff zu bekommen, mich in gewisser Weise benutzen: Sie wollen, dass ich esse, weil sie gerne essen würden.”
„Eigentlich soll das ein schönes Fest sein, aber für mich ist es nicht gerade schön, wenn ich mich, nur weil es allgemein so üblich ist, bis zum Platzen vollfressen muss”, erzählt Julia weiter.
Wenn es Auffälligkeiten und Probleme bei der Ernährung gibt, machen sich die Verwandten Sorgen. So eine Reaktion ist doch absolut legitim, oder? Nicolas Sahuc erklärt mir, dass Ärzte und Experten den betroffenen Familien raten, sich während der Feiertage wie immer zu verhalten. Wenn man die Probleme zu sehr breit tritt, verschlimmert das die Situation oft. Ihm sind diese Ess-Dilemmas (à la „Los, iss! Du darfst doch zulangen!”) ein Dorn im Auge: „Die Patienten sollen lernen, ihren Körper zu akzeptieren und zu respektieren. Der menschliche Körper ist keine Maschine. Aber wer einen Anorexie-Patienten drängt, mehr zu essen, nur damit er oder sie zunimmt, hat genau so eine Vorstellung vom Körper.Man muss sich gedanklich vom Gewicht lösen, damit man seinen eigenen Körper verstehen kann.”
Anorexie-Patienten interpretieren solche Situationen oft falsch, sodass es meist zum umgekehrten Ergebnis kommt: „Meine Familie meinte an Weihnachten zu mir: ,Du kannst es dir doch erlauben!’ Das heißt für mich nur, dass ich das vorher nicht konnte und hat mich nur noch mehr davon überzeugt, an meiner Anorexie festzuhalten”, erzählt mir eines der Mädchen.
Nicht alles an Weihnachten ist schön, klar. Bei den Mädchen, mit denen ich gesprochen habe, hat das auch viel mit ihrem Verhältnis zum Essen zu tun. Sophia erinnert sich: „Ich hatte Angst, aus meinem Zimmer zu kommen. Draußen wartete all das verführerische Essen auf mich, das ich nicht essen wollte. Es gab Zeiten, als ich nicht mehr als 300 Kalorien pro Tag gegessen habe, da hatte ich an Weihnachten dann Angst, schwach zu werden und einzubrechen. […] Für mich ist jemand, der isst, was er möchte, nicht schwach. Aber wenn mir das passiert, fühle ich mich schwach.”
Am schlimmsten ist es, wenn ich die Blicke meiner Eltern am Tisch sehe. Ich nehme mir eine normale Portion, wozu ich mich schon zwingen muss, indem ich mir sage, dass ein Stück Truthahn mit ein bisschen Gemüse und einer Kartoffel jetzt nicht so schlimm sein wird. Aber sie gucken mich so hoffnungsvoll an.
Laurie erzählt mir von einem anderen Problem, das auch mit der Krankheit zu tun hat: „Das Weihnachtsessen ist für mich am schwierigsten. Ich bin wieder zu Hause und kann mich abends nicht unbemerkt übergeben. Einmal hat mich meine Mutter erwischt.” Einerseits fühlt sie sich, nachdem sie sich mehr oder weniger unbemerkt übergeben hat, schuldig, andererseits schämt sie sich, weil sie sich ihren Eltern zuliebe nicht mehr gegessen hat. Eine ihrer schlimmsten Erinnerungen: „Der Blick meiner Mutter, als ich nicht aufgegessen habe. Sie hatte Stunden in der Küche verbracht…”
Diese Blicke der Eltern kennt auch Julia: „Am schlimmsten ist es, wenn ich die Blicke meiner Eltern am Tisch sehe. Ich nehme mir eine normale Portion, wozu ich mich schon zwingen muss, indem ich mir sage, dass ein Stück Truthahn mit ein bisschen Gemüse und einer Kartoffel jetzt nicht so schlimm sein wird. Aber sie gucken mich so hoffnungsvoll an. Sie sagen nichts, aber ich weiß, was sie denken: Dass ich geheilt bin, dass ich auf einem guten Weg bin. Aber im Gegenteil: Ich weiß, dass ich am nächsten und übernächsten Tag wieder nur ein paar Äpfel esse, weil ich mir Vorwürfe mache, dass ich zu viel gegessen habe.”
Menschen, die an Essstörungen leiden, sind ständigen Qualen ausgesetzt. Die eigentlich fröhliche Weihnachtszeit wird für sie noch untertragbarer. Aber selbst für die, die versuchen, aus dem Teufelskreis herauszukommen und ein ausgeglicheneres Verhältnis zum Essen entwickelt haben, ist diese Zeit der Völlerei eine echte Bewährungsprobe.
Dass einige Menschen ein schwieriges Verhältnis zur Ernährung haben und stark darunter leiden, ist nicht für jeden verständlich. Ohne allen die Vorfreude auf die ausgelassenen Feiertage nehmen zu wollen: Selbst die größten Genussmenschen sollten sich das bewusst machen, damit sie nicht in ein Fettnäpfchen treten.
Wenn ihr euch am Tisch also überlegt, den Gürtel einfach lockerer zu machen und euch noch einen Nachschlag zu gönnen und ihr dann seht, dass euer Tischnachbar sich zwingen muss, seine Portion aufzuessen, haltet euch ein bisschen zurück, denn jeder isst so viel, wie er kann.
*Alle Namen geändert.