Von der deutschen RAF, über die französische Action Directe und die kurdische PKK bis hin zu den italienischen Brigate Rosse: Alexandra Frénod und Caroline Guibet Lafaye haben mit weiblichen Mitgliedern und Ex-Mitgliedern von militanten Gruppen gesprochen, die politisch motivierte Gewalt ausgeübt haben.
Die französischen Forscherinnen sprachen mit den Frauen über politische Gewalt und warum sie einen Weg eingeschlagen haben, der eher mit Männern assoziiert wird. Die Ergebnisse haben sie in ihrem Buch On ne va pas y aller avec des fleurs zusammengetragen – zu Deutsch etwa: Wir kommen nicht mit Blumen.
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VICE: Laut eurem Buch gibt es in bewaffneten linksextremen Gruppen viele Frauen. Warum ist das so?
Alexandra Frénod und Caroline Guibet Lafaye: Linke Ideologien basieren auf Emanzipation und Antidiskriminierung. Es ist also logisch, dass Frauen daran beteiligt sein wollen. Sie setzen sich für die prinzipielle Gleichheit von Männern und Frauen ein, was theoretisch zur vollständigen Teilhabe von Frauen an allen politischen und militärischen Aktivitäten führen sollte.
Und wie sieht das in der Praxis aus?
Einige westeuropäischen Bewegungen, auch die baskische, haben sich früh mit der Emanzipation von Frauen befasst. Das Problem war tatsächlich die praktische Umsetzung. Einige Gruppen reproduzierten am Ende in ihren internen Abläufen Geschlechterklischees und verteilten Aufgaben an Männer und Frauen auf Basis der traditionellen Rollenverteilung.
In der PKK hatte sich Gründungsmitglied Abdullah Öcalan seit Ende der 1980er theoretisch mit der Rolle von Frauen in der Bewegung auseinandergesetzt. 1992 veröffentlichte er eine Schrift, in der er sagte, dass die Befreiung Kurdistans erst durch die vorherige Befreiung der Frauen erreicht werden könne. Er stellte sie damit ins Zentrum des nationalen Befreiungskampfs. Zur selben Zeit wurden Frauen allerdings nicht immer in den Reihen kurdischer Kämpfer akzeptiert.
Ähnlich verhalten lief es in einigen lateinamerikanischen Gruppen. Die Mitglieder teilten die Ideologie und die gesellschaftliche Sicht der Organisationen. Gleichzeitig wollten sie aber die traditionellen Geschlechterverhältnisse mit der Unterdrückung von Frauen durch Männer beibehalten. Selbst wenn Gruppen Verhaltensregeln aufstellten, um die übernommenen Verhältnisse patriarchaler Herrschaft zu ändern, waren die Mitglieder nicht immer bereit, ihre männlichen Privilegien aufzugeben.
Warum lassen sich diese Machtstrukturen so schlecht abbauen?
Hinter den Entscheidungen und Zielen einer Organisation können pragmatische Gründe stehen oder der Wille, die gesellschaftlichen Strukturen zu ändern. Das verändert allerdings nicht automatisch die Menschen, die in einer patriarchalen Gesellschaft sozialisiert wurden. Machtverhältnisse ändern sich nicht nur, weil Menschen sich ihrer bewusst werden, sondern auch durch Veränderungen in den Gesellschaftsstrukturen selbst.
Um Frauen für den bewaffneten Kampf zu rekrutieren, muss man deshalb erst mal die Vorbehalte überwinden, die einzelne oder die Allgemeinheit gegenüber Frauen haben, die traditionelle Männeraufgaben übernehmen – zum Beispiel in der Politik und beim Militär. Innerhalb solcher geheimen Organisationen muss sich häufig erst mal die Sichtweise der Männer ändern, damit sie Frauen nicht als Abweichlerinnen, sondern als Genossinnen sehen.
Warum gelten Frauen, die zu politischer Gewalt greifen, als Abweichlerinnen oder gar Kuriosität?
Die traditionellen Geschlechterverhältnisse sehen Frauen in Bereichen wie Sanftmut, Mutterschaft oder Leben. Die Gesellschaft ist auf Basis einer bipolaren Aufgabenverteilung organisiert, die Natur gegen Kultur stellt, den privaten Raum gegen den öffentlichen, Leben schenken gegen Leben nehmen, Stärke gegen Schwäche, Männlichkeit gegen Weiblichkeit.
Die geschlechtliche Rollenverteilung sieht Frauen nicht als Kämpferinnen vor. Der Einsatz tödlicher Gewalt steht bei Frauen für eine doppelte Grenzüberschreitung: die der Geschlechterrolle und die des Gesetzes. Wenn Frauen auf politische Gewalt zurückgreifen, werden sie als Außenseiterinnen wahrgenommen, weil sie außerhalb der von ihnen erwarteten Rolle agieren. Sie stellen das Gewaltmonopol der Männer infrage.
Inwiefern haben die Geschichten von Extremistinnen wie Ulrike Meinhof von der RAF dieses Narrativ infrage gestellt?
Es ist nicht klar, ob sie überhaupt etwas verändert haben. Ihre Geschichten werden in der Regel von einer Perspektive geschrieben, die sich außerhalb ihrer Bewegung befindet – oder von Menschen, die mal dabei waren, sich aber schließlich davon distanziert haben. Natürlich gibt es ein paar Ausnahmen. Dazu kommt, dass es häufig Männer sind, die diese Geschichte aufschreiben.
Viele Menschen würden diese Aktivistinnen und Organisationen als Terroristen bezeichnen.
Die westlichen Gesellschaften haben eine sehr niedrige Toleranz gegenüber Gewalt. Das wird auch von der Sprache der Medien gefördert, die diesen Begriff häufig missbrauchen. Wenn das Einschlagen eines Fensters als Gewaltakt bezeichnet wird und nicht etwa als Sachbeschädigung, schreiben wir dem eine Gewaltdimension zu, die nicht dem Wesen des Ereignisses entspricht. Die falsche Verwendung dieser Begriffe höhlt ihre Bedeutung aus und beeinflusst unsere Realitätswahrnehmung.
Anstatt immer wieder dasselbe Zitat zu wiederholen, nachdem des einen Terrorist des anderen Freiheitskämpfer ist, können wir schauen, was Noam Chomsky geschrieben hat: “Die Begriffe ‘Terror’ und ‘Terrorismus’ sind in der westlichen Welt zu semantischen Werkzeugen der Macht geworden.” Jemanden als Terroristen zu bezeichnen ist Teil der modernen Feindbildung geworden.
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