Wenn gesundes Essen zur Essstörung wird

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Jahrelang habe ich mir ständig folgende Fragen gestellt: Hast du auch gut über dein Essen nachgedacht? Erzielt es die richtige Wirkung? Wie gesund ist es und wie wird es sich auf meinem Instagram-Account machen? Und wenn wir schon dabei sind, was sagt dein Essen eigentlich über dich aus? Zeigst du der Welt damit, dass du gesund lebst und auf dich achtest? Oder bedeutet der Stapel an fluffigen Pancakes zum Sonntagsbrunch, dass du auch Spaß haben kannst? Mit solchen Fragen habe ich mich ausgiebig beschäftigt und es war die Hölle.

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Mein einziger Trost dabei war die Tatsache, dass sich auch andere Menschen diese Fragen stellten. Die beliebte Instagram-Seite @youdidnoteatthat, auf der sich darüber lustig gemacht wird, dass Instagram-Models und -Persönlichkeiten vorgeben, die Burger und Süßigkeiten auf ihren Fotos wirklich zu essen, hätte ja nicht einfach so 100.000 Follower angesammelt, wenn sich niemand über die Aussage unseres Essens Gedanken machen würde.

Die Vorstellung von einer Essstörung, die keinen Appetitsverlust oder keine Bulimie beinhaltet, hat sich vor gut eineinhalb Jahren zum ersten Mal im Zeitgeist festgesetzt. Diese Krankheit trägt den Namen Orthorexie—ein Begriff, der 1997 von Dr. Steven Bratman geprägt wurde. „Orthorexie wird als ungesunde Obsession mit gesundem Essen definiert”, meint Dr. Bratman. „Orthorexie ist nicht die Ernährung selbst, die Ernährung kann nur dazu führen. Je extremer oder einschränkender die Ernährung, desto größer das Risiko der Orthorexie.”

Nachdem er den Begriff geprägt hatte, veröffentlichte Dr. Bratman mehrere Bücher über Orthorexie und eine gesunde Lebensweise. Inzwischen hat er eine offizielle wissenschaftliche Definition der Krankheit erstellt und arbeitet daran, dass diese Definition von der medizinischen Welt anerkannt wird. Es war jedoch nicht Dr. Bratman, der Orthorexie vor ungefähr eineinhalb Jahren in den Mainstream brachte, sondern Jordan Younger, eine 25-jährige Lifestyle-Bloggerin aus Kalifornien.

Je extremer oder einschränkender die Ernährung, desto größer das Risiko der Orthorexie.

Younger war damals eine überzeugte Rohkost-Veganerin, die Zehntausende Online-Follower angesammelt hatte, indem sie auf ihrem Blog „The Blonde Vegan” über Veganismus und ihre tugendhafte Ernährungsweise schrieb. Für Younger war Veganismus dabei das Allheilmittel, auf das sie immer gewartet hatte—sie litt nicht mehr länger an chronischen Verdauungsstörungen und auch ihr Blähbauch sowie ihr Unwohlsein gehörten deswegen der Vergangenheit an. Also pries sie die Vorteile einer rein pflanzlichen Ernährungsweise im Internet an und verzierte ihre Einträge immer mit schönen Fotos von grünen Smoothies, von Einmachgläsern voller Chia-Samen oder von gehacktem Grünkohlsalat. Ihre Veganerin-Persönlichkeit wurde dabei immer beliebter.

Schon bald kamen Hersteller von entschlackenden Lebensmitteln auf Pflanzenbasis auf Younger zu und baten sie, ihre teuren Produkte auszuprobieren. Also fing die junge Frau damit an, diese entschlackenden Lebensmittel gebetsmühlenartig zu konsumieren—mindestens drei Mal die Woche. Als sie mit einer Entschlackungskur fertig war und zurück zur festen Nahrung wechselte, musste sie allerdings immer wieder feststellen, dass ihre Magenprobleme schlimmer als je zuvor zurückkehrten. Younger war jedoch fest entschlossen, die Sache mit der veganen Entschlackung durchzuziehen. Schon bald wurde der Teufelskreis aus Entschlackung, zu viel Hunger, Fressgelagen mit festen Nahrungsmitteln, Schamgefühlen und erneuter Entschlackung die Norm. Aber anstatt bei der Problemlösung mal über den Tellerrand des Veganismus hinauszublicken, befürchtete Younger stattdessen, dass vegane Lebensmittel gar nicht so gesund sind, wie sie es gerne hätte. Und schon war die Angst vor ihrem Essen geboren.

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Irgendwann wurde Younger dann bewusst, dass sie ein Problem hatte. Dieses Problem war jedoch keine klassische Essstörung, die den Leuten bekannt war, sondern eine Fixierung auf den gesundheitlichen Wert ihres Essens. Sie erklärte ihren Fans den Ausdruck Orthorexie und meinte, dass sie litt und sich Hilfe suchen wollte. Die Reaktion auf diesen Eintrag war überwältigend: „Als ich anfing, auf meinem Blog über mein Leben mit Orthorexie zu berichten, bekamen das die Medien mit und eine ganze Menge Leute sagten, dass sie mich verstehen würden”, erzählt Younger. „Ich rede hier von Zehntausenden Nachrichten. Das ist jetzt schon eineinhalb Jahre her, aber trotzdem bekomme ich immer noch neue Kommentare. Zwar sind es inzwischen bedeutend weniger—ein paar täglich—aber es zeigt mir trotzdem, wie viele Menschen sich unvollkommen fühlen und ihr Leben als nicht ausgeglichen genug ansehen.”

Seitdem ist Younger zu so etwas wie dem inoffiziellen Aushängeschild von Orthorexie geworden. Als ich mit ihr spreche, hat sie gerade ein Interview mit NBC über ihr aktuelles Buch Breaking Vegan hinter sich gebracht. In diesem Buch geht es um ihren Kampf mit der Störung. „Ich fühle mich schon wie das Aushängeschild von Orthorexie”, meint sie. „Anfangs fand ich das auch noch OK—eigentlich sogar richtig gut, denn ich will, dass die ebenfalls daran leidenden Leute wissen, dass sie nicht alleine sind. Inzwischen bin ich persönlich jedoch der Überzeugung, dass ich jede Frage zu Orthorexie beantwortet habe, die es gibt. Ich finde, dass ich im Bezug auf Interviews mit dem Thema durch bin.”

Als ich anfing, auf meinem Blog über mein Leben mit Orthorexie zu berichten, sagten viele Leute, dass sie mich verstehen würden.

Younger war als junge und bescheidene Blondine die perfekte Kandidatin dafür, die Aufmerksamkeit der Medien auf Orthorexie zu lenken. Wenn sie sprach, hörte man ihr zu. Und es war extrem wichtig und lange überfällig, die Krankheit in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken.

Es sind auch schon Menschen an Orthorexie gestorben, weil ihnen keine ordentliche Diagnose gestellt wurde. Und die Flut an Nachrichten, die Younger erreichte, zeigt ja auch, wie viele Leute heutzutage unter den orthorexischen Symptomen zu leiden haben. Die Ernährungstherapeutin Dr. Karin Kratina, die sich schon seit über 30 Jahren mit der Behandlung von Essstörungen beschäftigt und eine Abhandlung zum Thema Orthorexie geschrieben hat, sagt: „Bei meiner Tätigkeit als Ernährungstherapeutin konnte ich definitiv feststellen, dass es immer mehr Orthorexie-Patienten gibt. Dieser Anstieg kann schon fast als exponentiell bezeichnet werden. Inzwischen bekomme ich jede Woche einen neuen Patienten mit orthorexischen Symptomen. Wir haben es hier mit einem ernsthaften Problem zu tun.”

Dr. Kratina zufolge ist einer der Gründe für den Anstieg der Zahl der Orthorexie-Patienten unsere Fixierung auf das Thema Gesundheit. „Es ist vollkommen in Ordnung, nur lokale Produkte zu essen oder sich vegetarisch bzw. vegan zu ernähren”, meint sie. „Meiner Meinung nach sind viele dieser Ernährungsweisen grundsätzlich wertvoll. Das Problem ist bloß, dass wir dem Essen, dem Gewicht, den Nahrungsmitteln und der Bewegung eine gewisse Moral aufgezwungen haben. Essen wird immer mehr als die Antwort auf alles angepriesen.”

Foto: Stocksy

Wir bekommen diese Moralisierung der Eigenschaften von Nahrung tagtäglich unter die Nase gerieben. Instagram kann einem oft wie das Epizentrum einer grotesken Zurschaustellung moralisch gerechtfertigter Ernährungsentscheidungen vorkommen. Food-Blogger wie Deliciously Ella, deren veganer Food-Blog Hunderttausende Instagram-Follower und mehrere Buchveröffentlichungen generiert hat, sprechen uns besonders an, weil sie eine einfache Antwort bereithalten: Eine gesunde Ernährung wird dich zu einem besseren Menschen machen. Diese Antwort, regelmäßig in leichtverdaulicher Form eines #eatclean-Bildes serviert, fühlt sich in unseren Augen einfach gut an.

„Ich finde diese Bilder von diesem ganzen wirklich wunderschönen Essen—der Witz dabei ist wirklich der Kale-Smoothie für mich—, diese endlosen Bilder von Kale-Smoothies wirklich sehr schön”, sagt Dr. Bratman. „Vieles davon ist einfach wunderschön in Szene gesetztes Essen. Ich glaube, dass diese Art von Medien definitiv Orthorexie auslöst, um ein größeres und ein jüngeres Publikum zu erreichen.”

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Obwohl die Zahl der Orthorexie-Patienten weiter ansteigt und wir ständig gesundes Essen fetischisieren, können Ärzte Orthorexia nervosa nicht offiziell als Krankheit diagnostizieren. Das liegt daran, dass Orthorexie nicht von der wissenschaftlichen Medizin anerkannt ist. Im DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), einem wichtigen Leitfaden, anhand dessen Ärzte Patienten mit psychischen Störungen diagnostizieren, wurde die Krankheit noch nicht aufgenommen. Deswegen ist es nicht ungewöhnlich für orthorexische Menschen, dass sie jahrelang durchs Leben gehen, ohne dass bei ihnen eine Essstörung diagnostiziert wird. Und auch wenn die Medien es so aussehen lassen, als würde Orthorexia nervosa schon bald im DSM inkludiert werden, ist die Krankheit in Wahrheit noch weit davon entfernt.

Das Problem ist bloß, dass wir dem Essen, dem Gewicht, den Nahrungsmitteln und der Bewegung eine gewisse Moral aufgezwungen haben.

„Es dauert mindestens noch zehn Jahre, bevor wir überhaupt darüber reden brauchen, ob es in den DSM kommt”, sagt Dr. Bratman. „Heutzutage wird nur wenig Forschung im Bereich der Orhtorexie betrieben. Es werden viele Artikel in den Medien darüber geschrieben, aber sie alle wiederholen nur die gleichen Dinge. Manche erzählen auch sehr interessante persönliche Geschichten, aber oft werden dort einfach alte Artikel mehr oder weniger schlau wieder aufgewärmt. Die meisten Artikel, die ich zu Gesicht bekomme, sind wirklich alles andere als gut durchdacht.”

Da Orthorexie außerhalb bestimmter Kreise nicht besonders gut verstanden wird, können Betroffene es schwer haben, Hilfe zu finden und überhaupt anzuerkennen, dass sie unter einer Essstörung leiden. „Eine der Sachen, die mir am meisten Sorgen bereitet, ist die, dass ich auch nach Jahren mit Orthorexie keine Hilfe bekommen habe”, sagt Kaila Prins, ein Health und Wellness Coach aus San Jose, die 10 Jahre mit Orthorexie gekämpft hat. „Niemand dachte, dass ich Hilfe brauche. Selbst als ich um Hilfe bat, sagte man mir: ‚Nun, dann müssen Sie für ihre eigene Genesung aufkommen.’ Die Versicherungen wollten mich nicht unterstützen, weil ich nicht das gleiche Verhalten wie anorektische Personen an den Tag legte. Ich sah auch nicht wie jemand mit Anorexie aus, bis ich letztendlich meine Periode nicht mehr bekam. Ich habe nicht nicht gegessen. Ich habe einfach nur so gesund und so eingeschränkt gegessen, dass ich sehr krank wurde.” Prins wurde mit ihren Depressionen und Selbstmordgedanken alleingelassen. Hilfe bekam sie erst nach zehn Jahren, als sie Dr. Bratmans Buch Health Food Junkies entdeckte, in dem Orthorexie erklärt wird und das Prins dabei half, sich selber zu diagnostizieren.

Anstatt bei ihrem Kampf mit der Orthorexie Hilfe zu bekommen, erhielt sie nur Komplimente: „Ich wurde immer dünner, bekam Komplimente und hatte meinen ersten Freund. Menschen in meiner Familie, die mich früher nie akzeptiert hatten, sagten mir, dass ich toll aussehen würde.”

Ich habe nicht nicht gegessen. Ich habe einfach nur so gesund und so eingeschränkt gegessen, dass ich sehr krank wurde.

Ich weiß, dass Prins’ Erfahrung kein Einzelfall ist. Anfang 2013—nachdem ich eine strickte Paleo-Diät eingehalten hatte—passierte mir etwas ganz ähnliches. Was als Vorsatz begann, um unnötigerweise zehn Pfund zu verlieren und dabei die vermeintlichen Gesundheitsvorteile einer Paleo-Ernährung mitzunehmen, entwickelte sich schon bald zu einer Besessenheit mit den gesundheitlichen Vorzügen meiner Nahrungsmittel. Da ich ausschließlich Gemüse, Kokosöl und mageres Fleisch zu mir nahm, verlor ich die zehn Pfund sehr schnell. Schon bald machten mir Menschen, die seit Jahren nicht mit mir gesprochen hatten, Komplimente über mein gutes Aussehen. Und ich wurde süchtig nach diesen Komplimenten—sie wurden zu meiner Rechtfertigung dafür, mich vor der Hälfte der Lebensmittelgruppen zu fürchten. Schon bald erfand ich Entschuldigungen dafür, warum ich nicht mit meinen Mitbewohnern zum Chinesen oder in die Bar auf ein Bier konnte.

„Du bist doch verrückt”, sagten mir meine Mitbewohner damals. „Bestell dir doch einfach eine Wan-Tan-Suppe. Das ist doch kein Problem.” Was meine Mitbewohner aber nicht verstanden, war, dass Wan Tan im leibhaftigen Teufel eingewickelt war—Weizen! Außerdem freute ich mich regelrecht darauf, wieder die ganze Nacht Gruselgeschichten über die Risiken und Vorteile verschiedener Sorten Nuss-Butter zu lesen. Am Ende brach ich unter der Last meiner eigenen ‚Verrücktheit’ zusammen und erlitt in der Tiefkühlabteilung des Supermarkts eine Panikattacke. Kurz danach suchte ich mir einen Therapieplatz. Eigentlich hätte das der Beginn meiner Genesung sein sollen, aber stattdessen diagnostizierte mein Therapeut bei mir eine Zwangsstörung. Mit meiner Zwangsstörungsdiagnose leichtfertig umgehend überwachte ich weiterhin geflissentlich die Einhaltung meiner Paleo-Diät, badete in Komplimenten und hatte weitere Panikattacken im Supermarkt.

Das ist ein Aspekt von Orthorexie, auf den besonders achtzugeben ist: Wenn wir Essstörungen, ohne es zu wissen, mit Beifall überhäufen, dann ist klar, dass sich die Art, wie wir über Essen reden, ändern muss. Auch wenn Institutionen wie der DSM unglaublich träge sind—vergessen wir nicht, dass der Begriff „Anorexie” 80 Jahre vor seiner Aufnahme in den DSM zum ersten Mal benutzt worden war—können wir nicht weiter eine Essstörung ignorieren, nur weil wir uns weigern zu verstehen, worum es da eigentlich geht.

Orthorexische Menschen sind nicht „verrückt” und bei Orthorexie geht es auch nicht darum, gesundem Essen die Schuld in Schuhe zu schieben. Es geht dabei darum, dass der Wunsch, sich gesund zu ernähren, die anderen Aspekte einer Person vereinnahmt. Wie Jordan Younger in ihrem Blog schreibt, tritt Orthorexie auf den Plan, wenn jemand glaubt, dass eine bestimmte Ernährungsweise die Antwort ist: „Es bricht mir das Herz, wenn ich sehe und höre wie schöne, motivierte und begabte junge Frauen von einer extremen Diät und Lebensstil vereinnahmt werden, weil es ihnen als ‚DIE GESÜNDESTE ART ZU LEBEN’ verkauft wird. Wenn irgendetwas von sich behauptet die allergesündeste oder EINZIG RICHTIGE Art zu leben zu sein dann weißt du, dass du ein Problem gefunden hast.”