Popkultur

Warum es total in Ordnung ist, wenn Kinder YouTuber werden wollen

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Roxanne Robertson war sechs Jahre alt, als ihre Mutter merkte, dass Roxanne ihren Alltag kommentiert. “Wenn es still war, sagte sie Sachen wie: ‘Seht euch das vor dem Fenster an’ oder ‘Das ist so cool’”, erklärt Mutter Emma. “Es dauerte ein bisschen, bis mir aufging, dass sie sich verhielt, als wäre sie auf YouTube.”

Roxanne ist mit YouTube aufgewachsen – herkömmliches Fernsehen hat sie dagegen nur “ein paarmal” im Leben gesehen, so Emma. Heute ist Roxanne zehn und hat einen klaren Berufswunsch: YouTuberin, was sonst. “Ich habe Angst davor, dass sie ihr Gesicht im Internet zeigt”, sagt ihre Mutter. Bisher hat Emma ihrer Tochter noch keinen YouTube-Channel erlaubt. Neuerdings gibt es für Roxanne aber eine Sandkasten-Version der echten Vlogger-Welt: das Simulationsspiel Youtubers Life OMG!.

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Das Spiel ist bereits 2016 in einer Computerversion erschienen, seit November ist die “OMG! Edition” für Xbox One, PS4 und Nintendo Switch erhältlich. Youtubers Life OMG! gehört zu den Unterhaltungsmedien, die Pessimisten als Anfang vom Ende unserer Kultur werten. Das Game ähnelt ein wenig den Sims-Spielen, nur dass man hier seine Figur nicht im Pool ertränkt, sondern zu einem möglichst großen YouTube-Star macht. Und das verkauft sich gut: Mehr als eine Million Exemplare haben schon ihren Weg in Kinderzimmer in aller Welt gefunden.

Das Spiel Youtubers Life OMG! lässt den Charakter u.a.
Die Persönlichkeitstypen in ‘Youtubers Life OMG!’

Youtubers Life OMG! beginnt mit einer Cut Scene, in der ein erfolgreicher YouTuber oder eine erfolgreiche YouTuberin – das Spiel lässt das Geschlecht offen – aus dem Off erzählt: “Ich manage mein eigenes Netzwerk.” Das junge Publikum von heute weiß genau, was mit solchen Sätzen gemeint ist.

Als Nächstes sucht man sich das Aussehen seiner Figur aus und wählt aus sechs Persönlichkeitstypen. Eine davon ist einfach nur “reich”. Das deckt sich mit dem echten Leben: Seit einigen Jahren geht Reichtum bei gewissen YouTubern tatsächlich als legitimer Ersatz für eine Persönlichkeit durch. Man denke nur an Jake Paul, der 2018 den zweiten Platz unter den bestbezahlten YouTubern belegte. Er hat einen Song veröffentlicht, der mehr als 28 Millionen Views hat. Textzitat: “Gucci, Louis, Prada, it’s a habit.”

Vor Kurzem erschien in der britischen Boulevardzeitung Metro ein Artikel mit der Schlagzeile: “Kinder wollen heute eher YouTuber werden als Schauspieler”. In den meisten Artikeln zu den Vlogger-Träumen der Jugend gehen die Schreibenden davon aus, dass Ruhm und Reichtum für die Kids den großen Reiz ausmachen. In Wirklichkeit aber haben junge Menschen weniger oberflächliche Beweggründe für den Berufswunsch.

Warum ist “YouTuber” oder “YouTuberin” so ein cooler Job? “Weil man den ganzen Tag Spiele spielen kann”, sagt der achtjährige Spencer Parker. Fünf der zehn bestbezahlten YouTuber 2018 waren Männer, die sich beim Zocken streamen. Damit haben sie die Ambitionen von Tausenden Jungen und auch Mädchen geweckt. Der neunjährige Samuel Ironmonger ist einer von ihnen. “Man kann PlayStation spielen, und man kann das neue Spiderman-Spiel spielen, und außerdem mag ich es, wenn ich Abonnenten kriege”, sagt er. Samuels Bruder Nathaniel, der zehn Jahre alt ist, stimmt zu: “Dann könnte ich dauernd die Spiele spielen, die mir gefallen.”

Das Spielerlebnis bei Youtubers Life OMG! wird schnell ziemlich meta: Im Spiel kauft man sich ein Spiel, das man in einer Spielkonsole-im-Spiel spielen muss. Dabei zeichnet man sich auf und stellt das Material dann auf seinen “Utube”-Channel. Dazu muss der Spieler oder die Spielerin Sequenzen in einem Video-Editor ziehen, wie beim echten Schneiden eines Videos. Teil der Mission ist es, besseres Equipment und neue Videospiele zu kaufen. “Gar nicht mal so einfach”, sagt die zehnjährige Roxanne.

Das Spiel Youtubers Life OMG! hat einen eigenen Videoeditor im Spiel
Der Video-Editor in ‘Youtubers Life OMG!’

Wie viele Kinder tatsächlich den Berufswunsch “YouTuber” hegen, ist schwer zu sagen. Laut Bloomberg soll sich ein Drittel aller britischen Kinder und Jugendlichen zwischen 6 und 17 Jahren wünschen, in Vollzeit YouTube-Videos drehen zu können. Eine Umfrage der wohltätigen Organisation Education and Employers unter 13.000 britischen Schulkindern kam zu dem Ergebnis, dass rund sechs Prozent der Kinder als Erwachsene gern in den sozialen Medien oder in der Gaming-Branche arbeiten würden.

Für den Entwickler Raiser Games waren die genauen Zahlen vermutlich nicht so wichtig. Der Reiz des Spiels lag auch so auf der Hand. “Wir waren auf der Suche nach einem neuen Ansatz für ein ‘Tycoon’-Spiel“, sagt Quim Garrigós, leitender Entwickler bei Youtubers Life OMG!. “Manche Leute in unserem Team haben kleine Kinder und waren schon auf das YouTuber-Phänomen aufmerksam geworden. Der Entschluss stand bei uns also sehr schnell.”

Das YouTuber-Phänomen sehen viele äußerst kritisch. Das britische Boulevardblatt Daily Mail schrieb 2017: “Vorbei sind die Zeiten, als Kinder von einer Karriere als Arzt oder Krankenpflegerin träumten – die Kinder von heute wollen YouTuber und Vlogger werden.” Die Welt riet Eltern 2018, ihre YouTube-begeisterten Sprösslinge sanft in die Fachinformatik umzuleiten. Dabei sind die meisten jungen Menschen mit Influencer-Träumen äußerst pragmatisch.

Im Spiel Youtubers Life OMG! müssen die angehenden YouTube-Stars weiterhin ihre Hausaufgaben machen
Die strenge Mutter in ‘Youtubers Life OMG!’ ermahnt angehende YouTube-Stars, ihre Hausaufgaben zu machen

“Wenn ich YouTuberin werden würde”, erklärt Roxanne, “dann hätte ich noch einen Nebenjob. Man weiß ja nie, wann zum Beispiel etwas offline genommen wird.” Damit zeigt die Zehnjährige, dass sie schon eine grobe Ahnung hat, wie Google und YouTube Inhalte monetarisieren. “Man muss immer schauen, dass man auch damit aufhören und anders sein Geld verdienen kann.”

Oliver ist neun Jahre alt, seine Mutter möchte seinen Nachnamen nicht veröffentlicht sehen. Er sieht das Ganze ähnlich realistisch: “Natürlich will ich auch einen guten Job haben und nicht nur YouTube machen”, sagt der Möchtegern-Streamer. Auch Spencers Mutter Rachel erzählt, ihr Sohn habe noch andere Ambitionen: “Sein neues Ding ist, dass er Umweltforscher werden will. Er will die Ozeane vom Plastikmüll befreien.”

Andy Gardner arbeitet seit 33 Jahren als Berufsberater, aktuell für Kinder der sechsten Jahrgangsstufe in London. “Ein Kollege von mir schreibt Berufsbezeichnungen, von denen er vorher noch nie gehört hat, auf eine Liste”, erzählt er. Denn dank der rasanten technischen Entwicklung gebe es immer schneller neue Berufe. Gardner berät jährlich 500 Teenager und begegnet tatsächlich immer mehr Jugendlichen, die von YouTube sprechen. Gleichzeitig betont auch er, wie pragmatisch die jungen Leute sind. “In meiner Erfahrung sind sie nicht unbedingt besessen von der Vorstellung, YouTuber zu werden”, erklärt er. “Es ist eher wie ein kreatives Hobby, das sie nebenher machen.”

Auch in Youtubers Life OMG! kommt dieser Realismus zum Tragen. Im Spiel muss man für die Schule lernen, sonst kommt die Mutter, eine furchterregende Frau mit grünem Lippenstift, und bestraft einen. Bevor der eigene Kanal erfolgreich wird, müssen Spielerinnen und Spieler außerdem mit Nebenjobs Geld verdienen: Schuhe putzen, Zeitungen austragen, Oma beim Autowaschen helfen.

Diese realitätsnahen Bedingungen sind sicher ein Grund für den Erfolg des Spiels. Ein weiterer Faktor dürfte sein, dass so viele der Kinder sich zwar einen echten YouTube-Kanal wünschen, ihre Eltern ihnen das Vloggen aber (noch) nicht erlauben. Wie etwa Theresa Ironmonger, die Mutter der Gaming-begeisterten Brüder Nathaniel und Samuel. “Sie haben schon unzählige Male gefragt, ob sie YouTube-Videos machen dürfen”, sagt sie. “Ich finde, sie sind zu jung und zu sensibel, um sich mit den Gemeinheiten rumzuschlagen, die einem im Internet um die Ohren fliegen.” Theresa sieht es als ihre Aufgabe, ihre Söhne zurückzuhalten, bis sie stark genug sind, um mit den Angriffen fremder Trolle klarzukommen.

Ist Youtubers Life OMG! also tatsächlich ein Symptom des kulturellen Niedergangs? Im Namen des Spiels fehlt ein Possessiv-Apostroph, aber das ist noch das Anstößigste daran. Wenn überhaupt ist das Spiel zu realistisch und zu schwierig (ich habe es auf ganze 22 Abonnenten und drei Dollar Werbeeinnahmen gebracht). Elnaz Kashefpakdel ist Forschungsleiterin bei bei der NGO Education and Employers, die schon den YouTube-Berufswunsch der Kinder erforscht hat. Sie meint, wir müssten uns einfach damit abfinden, dass die Zeiten sich ändern.

“Kinder, die heute in die Grundschule gehen, sind die nächste Generation der Arbeitnehmer und -geber”, sagt sie. “Wir können nicht ignorieren, dass das Internet und die Technik im Allgemeinen ein wichtiger Bestandteil ihrer Karrieren sein werden.” Die herkömmliche Schule-zu-Beruf-Laufbahn befinde sich im Wandel, so die Forscherin. Heute gebe es viele unterschiedliche Wege in den Arbeitsmarkt. “Familien und Schulen sollten bei diesem Thema offen bleiben und den Kindern vermitteln, dass alles möglich ist.”

Berufsberater Gardner hat aktuell zwei Schützlinge, die gern mit YouTube ihr Geld verdienen würden. Er betont, dass selbst eine Teilzeit-Karriere auf YouTube die Jobchancen junger Menschen verbessern könnte. “Wenn jemand seine eigenen YouTube-Videos macht, dann kann das sehr gut ankommen”, sagt er. “Das zeigt Initiative und Ambition.”

Nach unserem Gespräch entscheidet Roxannes Mutter Emma, dass es an der Zeit ist, ihrer Tochter einen YouTube-Kanal zu erlauben – aber nur, wenn sie ihr Gesicht dort nicht zeigt. Stattdessen nutzt Roxanne den Channel, um selbst gemachte Animationen hochzuladen. “Ich will gar nicht vor die Kamera – dazu bräuchte ich teurere Ausrüstung, und das Geld will ich nicht ausgeben”, sagt die Zehnjährige. “Ich will einfach nur Videos machen.”

Was bleibt da noch zu sagen, außer: The kids are all right.

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