Trotz oder vielleicht gerade wegen unserer übersexualisierten Gesellschaft bleibt das Versagen im Bett ein grosses Tabuthema. Fehlende Ständer gibt es nicht, hat es nie gegeben und wird es nie geben.
Erektionsstörungen können grob in zwei Kategorien unterteilt werden: Physische Potenzstörungen, die eine Erektion aufgrund von körperlichen Ursachen erschweren oder gar unmöglich machen, und psychische Erektionsstörungen. Also „Ich bin 99 Jahre alt und mein kleiner Freund will nicht mehr so richtig” versus „Ich bin jung und gesund, trotzdem will er manchmal nicht”. Das zweite Problem findet im Kopf statt, wobei auch hier der Ursprung variieren kann: Stress, Depressionen oder die Angst vor dem Versagen. Ein Grossteil dieser Faktoren wird von äusseren Einwirkungen beeinflusst, bei denen es schwierig ist, umgehend darauf zu reagieren.
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Um herauszufinden, wie real die Versagensangst aus professioneller Sicht ist, stand mir Sexualtherapeutin Esther Elisabeth Schütz vom Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie Uster in einem Gespräch Rede und Antwort. Das Wichtigste vorweg: Ja, auch ihre Erfahrung zeige, dass heute mehr junge Männer mit der Versagensangst zu kämpfen haben als etwa vor zehn Jahren.
In meiner Erziehung wurde mir früh beigebracht, dass Frauen und Männer gleichgestellt sind. Unsere Generation unterscheidet weniger denn je (aber immer noch zu sehr) zwischen den Geschlechtern. Unterschiedlicher geworden sind jedoch die Rollen, die ich als heutiger Mann erfüllen soll: Am Wochenende Superman, montags der beste Hausmann der Welt und übermorgen Brad Pitt aus Fight Club.
Die alten, bis anhin in Stein gemeisselten Rollenbilder des Mannes, werden schrittweise zerschlagen. Natürlich auch im Bett. Doch woran liegt das? „Heute findet gesellschaftlich ein anderer Austausch der Geschlechter statt: Frauen haben heute wahrscheinlich höhere Erwartungen an ihren Sexualpartner und bei Männern findet eine weibliche Sozialisierung statt”, erklärt die Sexualtherapeutin. Weiters meint sie, die Jungen von heute seien emotional gut ausgerüstet und wollten es dementsprechend auch im Bett „gut” machen (beziehungsweise gefallen)—und genau dies könne zum Stolperstein werden.
Immer öfter leiden junge Männer unter Erektionsstörungen, dennoch wird kaum darüber gesprochen. Niemand will ein Schlappschwanz sein und wer es thematisiert, könnte als einer abgestempelt werden. Kein Mann will nach dem Ausgehen eine sogenannte „Zehn” mit nach Hause nehmen, nur um dann keinen hochzukriegen. Das eigene Kopfkino steht dermassen im Weg, dass die eigene Erwartungshaltung nicht mit der Realität kompatibel ist. Die Inflexibilität unseres Geistes zeigt sich als Folge von regelmässigem Medien- und Pornokonsum.
Das bevorstehende Ritual, das beim Sex vollzogen wird, steht fest, bevor überhaupt etwas passiert: Oralverkehr, Sex, Stellungswechsel und ein fulminanter Schlussspurt. Dabei frage ich mich, wie oft Frauen tatsächlich denken, der Typ vor ihnen müsse jetzt „krass performen.” Ich habe die Sexualtherapeutin dazu befragt. Sie meint: „In der Regel sind Frauen verständnisvoller, als Männer denken. Sprich, sie machen kein Problem daraus. Wiederum wissen Frauen teils wenig über die männliche Sexualität und können den Druck des Mannes, beim Sex zu bestehen, nicht nachvollziehen.”
Natürlich will man die Person, die einem gefällt, beeindrucken. Man will sich von der besten Seite zeigen—besonders im Bett. Ein Gespräch mit zwei Freunden, die ich länger nicht gesehen hatte, machte mir das letztens besonders klar.
„Willst du Viagra?”—„Wozu?”—„Für das erste Mal mit einer neuen Frau”. Bevor er zur Erklärung ausholen konnte, wusste ich, was er mir sagen wollte. Dabei stand nicht der berühmte Helfer für den Ständer im Fokus, sondern die Angst aus Ehrfurcht keinen Ständer zu bekommen—ein unter Männern nach wie vor gemiedenes Thema. Links von mir ein sass ein 31-jähriger Anwalt für Strafrecht, rechts ein 29-jähriger Immobilienmakler. Beide mit einem selbstsicheren und zufriedenen Auftreten. Beide Single. Beide sogenannte Playboys. Und siehe da: Selbst bei Männern, die die Promiskuität ausleben, kann die eigene Erwartungshaltung zum selbstgebauten Potenz-Feind heranwachsen.
Da wir uns eine Zeit lang nicht gesehen hatten, begann der Abend mit einem Ausflug in die Welt des Smalltalks. Kurz nach dem Essen und genügend ausgetauschten Floskeln ging es mit dem ersten Whisky in der Hand ans Eingemachte: Liebe, Sex und Eskapaden. Und eben da fiel die Frage, mit der ich nicht gerechnet hatte: „Willst du Viagra?” fragte mich der Jurist. Instinktiv versuchte ich mir die Scham aus dem Gesicht zu lachen. Sah ich in den Augen meines alten Freundes aus Kindertagen so aus, als würde ich Hilfe im Bett benötigen? Also sah ich hilfesuchend zum Herrn Ich-Verkaufe-Liegenschaften hinüber und dieser beäugte mich ebenfalls erwartungsvoll. Es war offensichtlich, sie erwarteten eine Antwort. „Wozu?” fragte ich schliesslich und dann begannen beide mit einer überraschenden Darlegung ihrer Erfahrungen.
„Kennst du das Gefühl, wenn du eine Frau zum ersten Mal mit nach Hause nimmst und die Angst dich packt, dass es nicht klappen könnte?” Ich glaube, die meisten Männer, die dies verneinen, belügen sich selbst. Die Angst vor dem Versagen gehört seit dem ersten Mal dazu: Nicht zu schnell kommen und der Ständer muss mitmachen. Sie erzählten mir weiter, dass es bei vielen ihrer Freunde dann passieren würde, wenn ihnen eine Frau besonders gut gefalle. Also eine potenzielle Freundin oder die zuvor erwähnte „Zehn” aus dem Club.
Man wolle, dass es ihr gefalle, ihr imponieren, besser sein als alle vor einem. Seinen Mann stehen eben. Jetzt verstand ich, worauf sie hinaus wollten: Es ist nicht immer einfach, vom charmant-schüchternen Stadtneurotiker zum Testosteron-Hammer schwingenden Thor im Bett umzustellen.
Hier kommt ihrer Meinung nach das Viagra ins Spiel: „Bevor du dir überhaupt Gedanken machen musst, ob du es bringen wirst, schmeisst du die Pille ein und gut ist. Keine Ängste mehr, du weisst, dass es funktionieren muss.” Mir schoss augenblicklich ein Gedanke durch den Kopf: Hätte ein Placebo nicht denselben Effekt? Ich fragte und beide lachten auf: Natürlich, antworteten sie unisono, aber so sei man eben auf der sicheren Seite. Ich war neugierig, wie diese Theorie bei der Sexualtherapeutin ankommen würde: „Warum nicht? Das ist sicherlich keine langfristige Lösung, kann aber durchaus als Überbrückung dienen. Nach kurzer Zeit ist dann im Kopf gespeichert, dass es funktioniert und das Viagra wird in den meisten Fällen unnötig”, so die Sexualtherapeutin.
Dieses Beispiel zeigt eindrücklich, wie Sexualität der letzte Ort intimer Unsicherheit sein kann. Aus Furcht, im ehrlichsten Bereich unseres Lebens dumm dazustehen, wollen wir keine Verletzlichkeit zeigen—ja, selbst „echte” Kerle (wie meine Freunde) haben diese Angst.
Nach dieser Unterhaltung habe ich bei Freundinnen nachgefragt, ob sie solche Schwierigkeiten kennen würden. Die Antworten hatten alle etwas gemeinsam: Ist allen irgendwann mal passiert und die meisten fragten sich anschliessend, ob es an ihnen gelegen habe.
Aus lauter Panik, keinen hochzukriegen, vergessen Männer anscheinend, dass auch Frauen mit eigenen Ängsten zu kämpfen haben. Es darf kein Wettbewerb sein, wer besser vögeln kann—mit dieser Einstellung kann es nur schief gehen. Für den erwünschten Ständer braucht es genau das Gegenteilige: Entspannung. Ein Mann muss emotional gelöst sein, damit unten alles mitspielt. Die Sexualtherapeutin erklärte mir das folgendermassen: „Für Männer ist Erregung gleich Identität und wenn’s nicht klappt hat der Mann ein Identitätsproblem. Er fühlt sich nicht als richtiger Mann.” Konkret bedeute dies, der Mann müsse seine eigene Wahrnehmung und Verführungskompetenz vermehrt ins Zentrum stellen. Kein „Hoffentlich gefällt es ihr”, sondern ein „Wie geht es mir dabei? Was will ich?” So entstehe ein lustvoller Dialog.
Je mehr ich mich mit dem Thema auseinandersetzte, umso klarer wurde mir, dass diese Art von Erektionsstörungen sehr wenig mit dem jeweiligen Sexualpartner zu tun hat und viel mehr mit den Forderungen, die wir an uns selbst stellen.
Ivan nimmt jetzt auch Viagra-Bestellungen auf Twitter entgegen: @iiivanmarkovic