Der Platz und die Rohstoffe auf unserem Planeten sind begrenzt. Das Ziel unseres Wirtschaftssystems ist unbegrenztes Wachstum. Wie soll sich das vereinbaren lassen? Genau: gar nicht. Wenn wir versuchen, die Erde in dieses unlogische Schema zu pressen, kann nichts Gutes dabei herauskommen.
Historisch galt Wirtschaftswachstum immer als etwas Gutes. Seit dem Zweiten Weltkrieg messen Ökonomen das Wohlergehen eines Landes in erster Linie an seinem Bruttoinlandsprodukt. Der Ökonom Arthur Okun, der den US-Präsidenten John F. Kennedy beriet, hatte die Theorie, dass die Arbeitslosigkeit in einem Land um einen Punkt sinkt, wenn das Bruttoinlandsprodukt um drei Punkte steigt. Und Arbeit, das bedeutet im Umkehrschluss Sicherheit, und somit: Zufriedenheit.
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Aber Wachstum bringt auch Probleme mit sich: steigende Kohlenstoffemissionen, ein immer extremeres Klima, schwindende Artenvielfalt und weniger landwirtschaftlich nutzbare Böden. Dementsprechend hinterfragen inzwischen viele Aktivisten, Forscherinnen und Politiker das Dogma “Wachstum ist gut”. Aus dieser Skepsis ist eine Bewegung entstanden: die Degrowth-Bewegung, auch Wachstumskritik oder Postwachstum genannt.
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Die Vertreterinnen der Degrowth-Bewegung sagen, dass die Wirtschaft nicht wachsen kann, ohne dass der Kohlenstoffausstoß ebenfalls steigt. Sie fordern, dass wir alle unseren Energie- und Materialverbrauch massiv reduzieren. Die Folge wäre: ein schrumpfendes Bruttoinlandsprodukt.
Viele Aktivisten und Politikerinnen wollen die CO2-Emissionen reduzieren, indem sie erneuerbare Energien pushen und auf Energieeffizienz setzen – ein Ansatz, der in Europa wie in den USA unter dem Namen “Green New Deal” läuft. Doch Degrowth-Befürwortern geht das nicht weit genug. Sie sagen, wir müssten ein für alle mal unsere Definition von Erfolg vom Wirtschaftswachstum abkoppeln.
Woran, wenn nicht am Wachstum, sollen wir also wirtschaftlichen Erfolg messen? Die Degrowth-Bewegung definiert als Ideale stattdessen universellen Zugang zu öffentlichen Diensten, eine kürzere Arbeitswoche und mehr Freizeit. Das wäre nicht nur gut fürs Klima, sondern würde uns auch von einem überarbeiteten und unterbezahlten Leben befreien.
Der Grundstein für die heutige Degrowth-Bewegung war der MIT-Bericht Die Grenzen des Wachstums von 1972, in dem Forscher erstmals warnten, die Menschheit werde – wenn sich nichts ändert – innerhalb von 100 Jahren ihre Lebensgrundlage irreparabel geschädigt haben. Die Autoren des Berichts schrieben damals schon, wir müssten weltweit auf wirtschaftliches Gleichgewicht statt auf ungebremstes Wachstum abzielen.
Ein Pionier der Bewegung ist der Franzose Serge Latouche, Experte für ökonomische Anthropologie an der Universität Paris-Süd, der in den frühen 2000ern leidenschaftliche Artikel über Degrowth für Le Monde Diplomatique schrieb. In den 70ern hatte man sich noch gefragt, ob das Wachstum überhaupt Grenzen habe. Nun war die Frage eine viel größere: Wie können wir uns selbst eine Wachstumsgrenze auferlegen, wenn unsere Wirtschaft und unsere Politik auf Wachstum basieren? Wie erreichen wir eine Gesellschaft mit einem hohen Lebensstandard und schrumpfen gleichzeitig die Wirtschaft?
In linken und akademischen Kreisen ist Degrowth inzwischen ein wichtiges Schlagwort. Viele Ökonomen, Umweltschützerinnen, Sozialdemokraten und Aktivistinnen aller Altersklassen befürworten die Bewegung. Sie sehen das Postwachstum als Chance, wachsende Ungleichheit zwischen Menschen zu bekämpfen und die Erde zu retten.
Eine attraktive Vision, und deshalb besuchen auch immer mehr Menschen Degrowth-Konferenzen: Bei der ersten im Jahr 2008 in Paris kamen nur 140 Teilnehmende, bei der sechsten Konferenz zehn Jahre später waren es bereits 730. Auch erscheinen immer mehr akademische Artikel und Bücher zum Thema. 2018 publizierte der Guardian einen offenen Brief von 238 Akademikerinnen und Akademikern, in dem sie die Öffentlichkeit dazu aufriefen, das Konzept des Postwachstums ernst zu nehmen.
Giorgos Kallis, Umweltforscher und politischer Ökologe an der Autonomen Universität Barcelona, hat ein Buch mit dem Titel Degrowth geschrieben. Es sei nicht möglich, einfach eine Art Notbremse zu ziehen, sagt er. Unser System basiere schon so lange auf Wachstum, dass wir ein völlig neues Wirtschaftssystem bräuchten, um etwas zu bewegen.
So könnte unser neues Wirtschaftssystem aussehen
Degrowthern zufolge soll das in etwa so ablaufen: Nachdem die Menschheit ihren Material- und Energieverbrauch zurückgefahren hat, was wiederum die Wirtschaft schrumpft, soll der Wohlstand unter den Menschen umverteilt werden. Außerdem müssten wir uns von unseren konsumorientierten Werten lösen und uns stattdessen einen einfacheren Lebensstil zum Ideal machen. Zu diesem Lebensstil würde auch gehören, dass einzelne je nach ihren Fähigkeiten ohne Bezahlung zu einer funktionierenden Gesellschaft beitragen.
Was würde sich also alles ändern?
Zum Beispiel das hier:
- Jede einzelne Person hätte in dieser neuen, geschrumpften Welt weniger Besitz.
- Weniger Menschen würden Gegenstände produzieren, das heißt, dass es in Läden weniger verschiedene Marken gäbe.
- Sich jede Saison neu einzukleiden, wäre vermutlich out.
- Es gäbe weniger Billigwaren und Einwegprodukte.
- Familien mit drei Autos sähe man wohl im Vergleich zu heute extrem selten. Menschen würden vermehrt mit dem Zug verreisen, statt zu fliegen.
- Statt in unserer Freizeit shoppen zu gehen, würden wir einfach etwas mit unseren Mitmenschen unternehmen.
In der Praxis würde das auch bedeuten, dass mehr kostenlose öffentliche Dienste benötigt werden. Nur wenn die Menschen für Lebenswichtiges nicht mehr so viel Geld brauchen, können sie es sich auch leisten, weniger zu arbeiten. Für Wohnungen, Bildung, Gesundheitsversorgung und Verkehrsmittel müsste gesorgt sein, ansonsten wäre kürzer treten für die meisten keine Option. Einige Degrowther verbinden das Konzept mit der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, das die kürzere Arbeitswoche ausgleichen würde.
Auch heute schon können Menschen natürlich einen reduzierten, genügsamen Lifestyle wählen. Doch wenn der Rest der Gesellschaft nicht darauf ausgelegt ist, kann das schlecht funktionieren. Aktuell sind unsere Arbeit, unsere Freizeit und unser ganzer Lebensstil auf Konsum ausgerichtet. Weniger arbeiten, weniger verdienen und weniger verbrauchen wird bei den meisten zu einem schlechteren Lebensstil führen, wenn es nicht auf gesellschaftlicher Ebene einen Ausgleich gibt.
In der echten Welt gibt es bisher kaum Beispiele für Degrowth. Die Literatur ist da schon weiter. Giorgos Kallis erläutert das Konzept in einem Paper von 2015 anhand einer fiktiven Utopie: In ihrem Roman Freie Geister beschreibt Ursula K. Le Guin den Planeten Anarres, wo Fairness und Gleichheit herrschen, obwohl die Ressourcen begrenzt sind. Der nahe gelegene Planet Urras dagegen ist kapitalistischer geprägt, dort herrscht mehr Ungleichheit.
“So stellen wir uns ein gutes Leben vor”, sagt Kallis. “Es ist ein einfacheres Leben. Dafür streben wir nicht nach immer mehr Gütern, wollen nicht alles immer schneller machen und haben weniger Produkte zur Auswahl.”
Kritiker sagen, die soziale Ungleichheit könnte durch Degrowth eher noch zunehmen
Kritiker des Degrowth sehen darin eher eine Ideologie als einen praktischen Ansatz. Auch eine geschrumpfte Wirtschaft würde noch CO2-Emissionen verursachen, geben sie zu bedenken. Außerdem könne das Zurückfahren der Wirtschaft bestehende Ungleichheit noch verschärfen, so dass ohnehin schon Bedürftigen lebenswichtige Dinge wie Strom und Essen fehlen würden.
Einer dieser Kritiker ist Robert Pollin, Kodirektor des Instituts für politische Ökonomie an der University of Massachusetts Amherst. Er stimme zwar in vielen Punkten mit der Degrowth-Bewegung überein, sagt Pollin, ein solches System könne aber niemals funktionieren. Zumindest nicht innerhalb der kurzen Zeitspanne, die uns noch bleibe, um das Klima und die Umwelt maßgeblich zu entlasten.
Zwar würde ein kleineres Bruttoinlandsprodukt den CO2-Ausstoß verringern, allerdings nicht maßgeblich. Wenn wir die Wirtschaft um zehn Prozent verkleinerten, würden die Emissionen ebenfalls um etwa zehn Prozent zurückgehen. Zehn Prozent, das ist mehr als das Doppelte des wirtschaftlichen Rückgangs, unter dem die Welt während der Großen Rezession vor rund zehn Jahren litt. Dementsprechend würden auch nur zehn Prozent weniger CO2-Emissionen ein massives gesellschaftliches Risiko mit sich bringen.
“Wir müssten vor allem die fossile Brennstoffindustrie auf Null bringen, auf saubere Energie umstellen und mehr in Energieeffizienz investieren”, sagt Pollin. Genau darum geht es auch bei dem sogenannten Green New Deal; Befürworter dieses Ansatzes betonen außerdem, dass es eine faire Übergangslösung für die Menschen geben müsse, die aktuell in den “schmutzigen” Energiesektoren arbeiten.
“Wenn wir die Klimaforschung ernst nehmen, dann heißt das, wir haben nur wenige Jahrzehnte, um massive Veränderungen umzusetzen”, sagt Pollin. “Ob es uns gefällt oder nicht, innerhalb dieser Zeitspanne werden wir den Kapitalismus nicht überwinden.”
Für viele ist aber genau das das Ziel, für das sie kämpfen. Sam Bliss promoviert im Bereich natürliche Ressourcen an der University of Vermont und gehört zum Degrowth-Kollektiv “DegrowUs”. Er sagt, dass Figuren wie Marie Kondo auch deshalb so beliebt sind, weil viele Menschen sich nach einer weniger konsumorientierten Gesellschaft sehnen. Die Japanerin Kondo ist Star einer eigenen Netflix-Show, in der sie Menschen beibringt, nur Gegenstände zu behalten, die ihnen Freude machen.
Vom Wirtschaftswachstum haben viele Menschen ohnehin nichts
Selbst in Phasen, in denen die Wirtschaft insgesamt wächst, sieht die Lage für die Jüngeren ernüchternd aus: Millennials gelten als die “Generation Burnout“, können sich keine Eigenheime leisten wie ihre Eltern, oder auch nur von ihrem Einkommen leben.
Inmitten dieses düsteren Klimas bietet Degrowth die Vision einer Welt, in der nicht alles zur käuflichen Ware verkommt, in der Selbstwert nichts mit materiellem Wert zu tun hat und in der die Menschen sich nicht mehr krank schuften, nur um ihre Lebensgrundlage zu sichern.
Womöglich ist Degrowth nicht die effektivste Strategie, um unsere CO2-Emissionen innerhalb kurzer Zeit zu reduzieren. Doch die Bewegung tritt wichtige Debatten darüber los, woran wir überhaupt eine erfolgreiche Gesellschaft festmachen.
“Mehr Besitztümer bedeuten nicht automatisch mehr Wohlergehen oder Glück”, sagt David Pilling, Autor von The Growth Delusion: Wealth, Poverty, and the Well-Being of Nations, in einem Interview mit der Washington Post. Als Beispiel nennt er das Gesundheitssystem der USA. Es mache 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, das ist mehr als in vielen anderen Ländern (in Deutschland waren es 2017 etwa 11,5 Prozent). Dennoch ist das US-Gesundheitssystem nicht das beste; es ist lediglich eins der teuersten.
Außerdem macht das Bruttoinlandsprodukt sehr viel reale Arbeit gar nicht erst sichtbar – etwa Pflegearbeit. Meist sind es Frauen, die sich ohne Bezahlung um junge, alte und kranke Menschen aus ihrem Umfeld kümmern. “Es ist schon seltsam”, sagt Pilling im Interview. “Wenn du ein Auto stiehlst und weiterverkaufst, zählt das als ein Beitrag zum Wirtschaftswachstum. Aber wenn ich ältere Verwandte versorge oder drei produktive Kinder großziehe, zählt das nicht.”
Die Lektionen, die wir aus der Degrowth-Bewegung ziehen können, haben also vielleicht mehr mit unserer grundlegenden Lebensweise zu tun als mit der Politik. Wie der Anthropologe Jason Hickel von der London School of Economics schreibt, fordert Degrowth “eine florierende Menschheit”. Wir verbinden seit jeher Wirtschaftswachstum mit weniger Armut, besserer Lebensqualität und genug Arbeitsplätzen für alle. Aber in Wahrheit funktioniere nichts davon, so Hickel.
“Warum sind wir überzeugt, dass unser Wirtschaftssystem zwingend so sein muss, wie es jetzt ist?”, fragt er. “Das ist eigentlich lächerlich. Wir müssen uns aus dieser absurden Unterwürfigkeit gegenüber dem System lösen und ein besseres entwickeln.”
Ob man die Forderungen der Degrowth-Bewegung für realistisch hält oder nicht, die wenigsten würden wohl anzweifeln, dass die Menschheit handeln muss. Und Debatten wie diese gehören dazu.