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Die junge Frau, die sich um die Presse-Akkreditierung kümmert, ist auf das Schlimmste vorbereitet. “Ich freue mich dann schon auf den Verriss”, schmunzelt sie und übergibt uns die Tickets. Offenbar denkt sie, wir machen das hier zum Spaß, nehmen halluzinogene Drogen oder besuchen so ein Konzert mit einem ironischen Unterton. Aber weit gefehlt! Ich für meinen Teil nehme einfach jede Gelegenheit wahr, bei der man sich heillos betrinken kann und meine ansonsten sehr stilsichere Freundin liebt Enrique Iglesias seit er 1999 erstmals “Bailamooooos” durch die Gegend röhrte. Was folgte, dürfte jedem bekannt sein. Ob mit “Hero” oder “Escape” – die Schlafzimmerblick-Version von Ricky Martin eroberte weltweit die Kinderzimmer und schaffte es, aus dem Schatten seines vermeintlich übermächtigen Vaters heraus zu treten. Informationen zu Enriques Vater findet ihr im örtlichen Naturhistorischen Museum oder im CD-Regal eurer bei QVC shoppenden Mutter.
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Knappe 20 Jahre später frage ich mich ohne jede Häme: “Lebt der noch?” Man (beziehungsweise ich) hat schließlich länger nichts mehr von ihm gehört und der größte Erfolg seiner Frau in letzter Zeit ist die namentliche Erwähnung in einem Song von Haftbefehl und Miss Platnum. Mein innerer Hater reibt sich schon die Hände, das kann ja was werden! Wo spielt der eigentlich? Ich erwarte einen der Kellerclubs, in denen abgehalfterte Zirkuspferde wie er eben so auftreten – und bekomme die Mercedes-Benz Arena in Berlin serviert. Na gut. Wird bestimmt leer. Mindestens halbleer. “Wir sind ausverkauft” trällert uns die Dame an der Kasse beim Gehen noch hinterher. Etwas Stolz schwingt in ihrer Stimme mit. Wir trinken die letzten Tropfen aus der Cremant-Flasche und begeben uns in den für jeden käuflich erreichbaren VIP-Bereich, in dem etwas zu alte, genervte und korpulente Herren in quietschbunten Camp-David-Hemden mit etwas zu jung gebliebenen, quietschenden Damen in Leopardenmuster-Kleidern herumirren.
Es ist nicht zu übersehen: Dieser Mann, der einst damit prahlte, immer noch Jungfrau zu sein und dann den feuchten Traum aller Polohemdenträger und Yachtclubfans, Anna Kurnikova, weg heiratete, ist auf großer Deutschlandtour und es gibt jede Menge Menschen, die das sehen möchten. Passend zu seinem Image als keuscher Schwerenöter, hat Enrique seine Tour Love & Sex genannt. Da kann man ruhig mal klatschen. Als wir unsere Plätze suchen, ist die Stimmung bereits auf dem Siedepunkt. Dabei ist überhaupt niemand auf der Bühne. Das bloße Abspielen von aktuellen Ballermannhits über die Arenaboxen sorgt bei dem Ü30-Publikum allerdings schon für emotionale Ausbrüche der besonderen Art. Viele scheinen einfach froh, überhaupt mal wieder auszugehen. Die Kinder und der Job und so weiter. Ich bin froh, dass die klassischen “Ich habe LSD genommen und bin zu einem Enrique Iglesias Konzert gegangen”-Zeiten vorbei sind. Erstens habe ich Angst vor LSD und zweitens wäre das ein garantierter Horrortrip. Der Gin Tonic hält mich bei Laune, das reicht.
Plötzlich dann, aus dem Nichts, geht es los. Enrique stürmt auf die Bühne. Erste Erkenntnis: Offenbar hat Enrique Angst vor Taschendieben. Er trägt eine dieser silbernen Ketten, die von der Hose ans Portemonnaie in die Arschtasche führen. Auch ein Kajalstift kam großzügig zum Einsatz. Die dazugehörige Skater-Mütze in Tarngrün darf natürlich auch nicht fehlen. Wären wir noch in den frühen 2000ern, wäre jetzt ein “Hallo die 90er haben angerufen und wollen ihren Style zurück”-Witz angebracht. Lassen wir mal lieber. Apropos Tarngrün: Würde er den Schirm seiner Mütze noch tiefer ziehen, wäre er komplett verdeckt. Aber kein Size-Shaming bitte, der 1,60 Meter große Wirbelwind neben mir ist bereits in Ekstase, freudestrahlend singt sie die emotional tiefschürfenden Texte des Schmusebarden mit als gäbe es kein Morgen. Einer der Songs heißt offenbar “Ring my Bells” und niemand scheint sich daran zu stören.
Mein persönlicher Lieblingstitel des Abends ist und bleibt jedoch “Tonight (I’m fucking you)”. Enrique scheint in seinem Element. Zumindest, wenn er es sich zur Aufgabe gemacht hat, asynchron zum Playblack zu singen, unkoordiniert über die Bühne zu rennen und in bester Christiano Ronaldo-Manier das Publikum anzufeuern.
Ich warte, wie soll es anders sein, lediglich auf “Hero” und habe daher Zeit, mich dem Publikum zu widmen. Es fällt auf, dass alle um uns herum besonders bei den spanischsprachigen Songs extrem textsicher sind. Auch im Publikum unzählige spanische Flaggen. Und dann fällt es uns wie Schuppen von den Augen: Jede Krise hat ihren Profiteur. Bei der Griechenlandkrise waren es die Hedgefonds. Von der Islandkrise profitierte letztendlich die Bevölkerung. Und wenn es nach Xavier Naidoo geht, profitieren von der allgemeinen, weltweiten Krise großnasige Marionettenspieler in einer ominösen GmbH-Zentrale. Von der spanischen Krise hingegen profitieren das Berghain, MDMA-Dealer und Enrique Iglesias. Und während die ersten beiden Erfolgsgeschichten Berliner Phänomene sind, haben sich die Spanier über ganz Europa verteilt und besuchen die Konzerte von Enrique Iglesias. Denn wir alle wissen: Geht es bergab, muss Unterhaltung her. Und nichts ist identitätsstiftender als ein Haufen ethnisch identischer Menschen, die gemeinsam im Takt klatschen und romantisch-verklärte Schnulzen mit trällern. Fragt Helene Fischer.
Nicht alle haben so viel Glück in der Liebe wie Enrique Iglesias. Das sind deren Alternativen.
Enrique macht derweil, was man von ihm erwartet. Er fängt BH’s im Halbspagat, läuft volksnah durchs Publikum und befummelt eine in die Jahre gekommene Backgroundsängerin, die den Löwenanteil an Arbeit an diesem Abend verrichten wird und mit dem Sonnebrille tragenden Drummer verheiratet ist. Ich stelle mir vor, wie er am Ende der Tour auf den Star der Show schießt, weil er sich jeden Abend anschauen muss, wie seine Ehefrau von ihm unsittlich berührt wird. Huch, kurz eingenickt. Ich habe trotzdem meinen Spaß, denn ich kann gönnen. Ich gönne Enrique die Millionen, die er mit dieser Vorstellung absahnt, ich gönne Enriques Barkeeper/Drogendealer seinen Anteil und ich gönne dem Publikum ihre anderthalb Stunden Sorgenfreiheit.
Und dann ist es soweit! In der Mitte des Publikums, auf einer kleinen, privat anmutenden Bühne, erscheint er und die ersten Takte von “Hero” lassen das Publikum erschaudern. Endlich ein Song den ich mitsingen kann! Die von mir Verehrte zu meiner Rechten bereitet sich ebenfalls auf ihren Einsatz vor, zwei junge Latinas vor uns versuchen verzweifelt ins Blickfeld des Sängers zu geraten, Handylichter, die einst Feuerzeuge waren, erleuchten den Saal. Alle sind bereit für Emotionen. Ein ohrenbetäubender Sound durchreißt die Luft. Nein, das war nicht Enriques Stimme. Das sind technische Probleme. Ein kurzes Sammeln, einmal durchatmen, verstörte Blicke – dann geht es weiter. “Would you dance, if I asked you to dance?” Zackbumm! Erneut dieses Geräusch, das ertönt, wenn man ein Chinchkabel an einen Elektroschocker hält und das ganze auf eine Konzertanlagen-Box überträgt. Im Sekundentakt werden unsere Ohren nun malträtiert, Enrique verzichtet auf den Refrain und lässt nun das Publikum singen. Heute Abend wird keine zehn Sekunden am Stück “Hero” gesungen, soviel wird schnell klar. Stinksauer!
Ich kann mit vielem umgehen. Mit betrunkenen Stars, der eigenen Drogenabstinenz und nervtötendem Publikum. Mit Barkeepern in VIP-Bereichen, die überfordert sind von der Bestellung eines Gin Tonics oder Angestellten, die einen nicht in den Kaminraum lassen wollen, weil man das extra buchen muss. Mit Songs, die auf dem Reißbrett entstanden sind, mit Kirmes-Beats und zwergwüchsigen Latinlovern, die bei Wikipedia eine falsche Körpergröße angeben. Was tut man nicht alles für die Liebe! Aber wisst ihr, wann ich wirklich sauer werde? Wenn mir der Interpret einen guten Song versaut. Enrique, es war eine Blitzhochzeit mit einem ebenso schnellen Ende, wie bei Britney Spears und ihrem Sandkastenfreund Jason Alexander. Und ich kann reinen Gewissens sagen: Ich habe alles probiert, um es dir Recht zu machen, doch wir gehen ab heute getrennte Wege. Danke trotzdem. Für Alles.