„Don’t drink, don’t smoke, don’t fuck”: im Gespräch mit Straight Edgerinnen

Der Generation Y wird gern unterstellt, sich hemmungslos dem hedonistischen Rausch hinzugeben. Und klar, wahrscheinlich war es selten so einfach, schnell und anonym an Drogen zu kommen wie in der heutigen Zeit. Man muss sich nicht mal mehr die Mühe machen, einen Straßendealer zu finden und somit das Risiko eingehen, wegen ein paar Gramm Marihuana von der Polizei erwischt zu werden. Heute kann man sich seine Drogen ganz einfach im Internet bestellen. Auch was schnellen und bedeutungslosen Sex angeht, ist das Jahr 2016 ein wahrer Meilenstein: App runterladen, ein paarmal nach rechts wischen, treffen, tschüss. Ein Kinderspiel also.

Trotz allem gibt es immer mehr Menschen, die sich bewusst für ein gesundes und drogenfreies Leben entscheiden. So auch die Anhänger der Straight-Edge-Bewegung, die ihren Namen dem gleichnamigen Song der Band Minor Threat verdanken. „Don’t drink, don’t smoke, don’t fuck” lautet ihr Motto, eine klare Absage also an die Exzess-Gesellschaft. Wir haben mit fünf Frauen über ihre Beweggründe, Gelegenheitssex und die von Männern dominierte Szene gesprochen und dabei wieder einmal festgestellt: Man kann auch nüchtern Spaß haben. Man muss es nur mal versuchen.

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Colleen (24), seit 5 Jahren Straight Edge

Colleen hat als Teenager gerne mal über die Stränge geschlagen. Auf Konzerten oder Hauspartys wurde reichlich Alkohol getrunken, teilweise sogar bis zur Bewusstlosigkeit. „Als ich etwas älter war, habe ich von einem Tag auf den anderen beschlossen, keinen Alkohol mehr zu trinken.” sagt sie Broadly. „In Berlin sieht man leider viele Menschen, die der Alkohol oder andere Drogen kaputt gemacht haben. Wir hatten auch einen schweren Fall von Alkoholismus im engeren Familienkreis, was mich sehr stark beeinflusst hat. Alkohol trinken und Rauchen heisst für mich auch, ein System zu unterstützen, das ich nicht unterstützen möchte. Ich lebe deswegen vegan, daher liegt eine drogenfreie Lebensweise auch nahe. Ich möchte nichts zu mir nehmen, das mich in meinem Wesen verändern könnte.”

Ihr engerer Freundeskreis weiss Bescheid und unterstützt ihre Lebensweise vollkommen. Trotzdem verrät die 24-Jährige nicht allen auf Anhieb, dass sie Straight Edge lebt. „Fremde reagieren oft sehr blöd und wenig verständnisvoll, was halt daran liegt, dass Alkohol leider gesellschaftlich total etabliert ist. Da ist man ein ‚Sonderling’, wenn man nicht trinkt. Die Leute schauen immer ganz verdutzt und verstehen nicht, weshalb ein so junger Mensch wie ich keinen Alkohol zu sich nimmt. Ab und zu kommt es aber mal vor, dass andere meinen Lebensstil total super finden, aber sagen, dass sie selbst nicht so leben könnten.”

Sex ist so eine intime Sache, dass ich das nicht ständig mit wechselnden Partnern teilen und erleben möchte.

Für Colleen ist es kein Problem, dass ihr Partner ab und an trinkt. Dafür distanziert sie sich klar von flüchtigen Sexbekanntschaften. „Für mich geht es bei Straight Edge auch darum, andere Menschen respektvoll zu behandeln. Ständig wechselnde Partner*innen im Bett zu haben, hat für mich etwas respektloses. Sex ist so eine intime Sache, dass ich das nicht ständig mit wechselnden Partnern teilen und erleben möchte.”

Dass die Straight-Edge-Szene im Allgemeinen als eher männerdominiert gilt, ist der Berlinerin auch schon aufgefallen. Obwohl sie die Geschlechterverteilung in ihrem gleichgesinnten Freundeskreis als „sehr ausgewogen” bezeichnet: „Bei Shows ist der Frauenanteil oft sehr gering und auch weibliche Hardcore-Bands findet man nicht so oft. So könnte es sein, dass sich Männer dadurch mehr mit dem Thema beschäftigen, weil es für sie präsenter oder zugänglicher ist.”

Kat (34), seit 18 Jahren Straight Edge

Kats Opa war Trinker, was die damals 16-Jährige in ihrer Entscheidung, ein drogen-, alkohol-, und rauchfreies Leben zu führen, enorm beeinflusste. Mit dem Begriff, der ihrem Lebensstil heute einen Namen gibt, kam Kat allerdings erst Mitte der Neunziger in Berührung. „Mir hat es gefallen, für diesen Lebensstil einen Ausdruck zu haben, auch wenn ich mit der dazugehörigen Musik damals Null anfangen konnte. Da ich zu Suchterkrankungen neige, wären Rauchen, Trinken oder der Konsum von Drogen ohnehin keine gute Idee.” Für Kat bedeutet Straight Edge soviel wie „sober living for the revolution”.

Straight Edge zu sein ist eine persönliche Entscheidung, während vegan zu leben eine Entscheidung für andere Lebewesen ist.

„Damit setze ich Dinge in die Tat um, die zugedröhnt oder betrunken wahrscheinlich nicht möglich wären. Straight Edge zu sein ist eine persönliche Entscheidung, während vegan zu leben eine Entscheidung für andere Lebewesen ist. Ich hab keine Glaskugel, die mir die Zukunft voraussagt, aber im Moment, und dieser Moment dauert nun schon 18 Jahre, fühlt es sich so an, als wäre straight edge sein ein lifetime commitment. Hinterher bin ich schlauer.”

Kat bezeichnet ihre sexuelle Orientierung als pansexuell, bei ihr zählt nicht das Geschlecht, sondern der Mensch. Mit einer Person, die raucht, trinkt oder Drogen nimmt, würde sie allerdings nicht zusammen sein. „In einem eingenebelten Wohnzimmer Netflix schauen, einen Kerl mit Fahne küssen, mir Sorgen machen, ob meine Partnerin auf dem Rave wieder zu viel Speed nimmt und bei jemand anderem aufwacht—ich hatte das alles. Ich brauche davon keine Wiederholung. Für eine Affäre vielleicht, aber nicht in einer Partnerschaft, die Zukunft haben soll.”

Anna (26), seit mehreren Jahren Straight Edge

„Bei mir gibt es nur Abstinenz oder Totalausfall. Ich kenne meine Persönlichkeit mittlerweile gut und weiß, dass es mir leicht fällt, Süchte zu entwickeln. Das möchte ich vermeiden”, erklärt Anna. Sie hat nach eigener Aussage über Jahre hinweg getrunken, geraucht und gekifft. „Ich habe in meinem engeren Freundeskreis gesehen, was Drogen mit Menschen anstellen können und das ist kein Weg, den ich für mich wollen würde. Trotzdem bin ich dafür, dass Menschen tun und lassen können, was sie wollen, solange sie, wenn überhaupt, nur sich schaden und alt genug sind, die Konsequenzen zu tragen.”

Neben ihrer Schwierigkeit, als Konsumentin ein gesundes Mittelmaß zu finden, ist die Motivation der 26-Jährigen vor allem politischer Natur. „In dieser Welt läuft so viel falsch und ich kann daran nichts ändern, wenn ich mich zudröhne, nur um es mir angenehmer zu machen. Straight Edge lebe ich für mich, weil ich bei Sinnen sein möchte. Weil ich weiß, wie ich sein kann, wenn ich nicht nüchtern bin und ich mich dann selbst nicht leiden kann. Vegan lebe ich für andere. Vegan Straight Edge ist also meine Konsequenz, weil ich weiß, dass eine bessere Welt für alle möglich ist und ich meinen Teil dazu beitragen will.”

Die Wenigsten, die ich kenne, sind auch alkoholisiert erträglich.

Von Annas früherem Freundeskreis ist nicht mehr viel übrig. Anfangs dachte sie noch, dass sich die Welt von Konsumenten und Nichtkonsumenten irgendwie vereinen lässt, doch mit der Zeit wurde ihr das zu anstrengend. „Ich kann mich nicht entspannen, wenn Menschen um mich herum betrunken oder auf irgendwelchen Drogen sind. Die Wenigsten, die ich kenne, sind auch alkoholisiert erträglich. Ich weiß nicht, ob es Hand in Hand ging, aber man hat sich unterschiedlich entwickelt und irgendwann gab es nichts mehr, das uns verband, als der Alkohol meinerseits wegfiel. Nur von schönen Erinnerungen kann eine Freundschaft nicht leben. Frühere Bekannte haben auch lange erfolglos versucht, mich zu überreden, doch wieder mit dem Trinken anzufangen, was absolut daneben war.”

Das Thema Gelegenheitssex sieht Anna, im Gegensatz zu vielen anderen aus der Szene, eher locker. „Ich für mich habe entschieden, dass für Sex keine Beziehung nötig ist, zumal es außerhalb der ‚hetero-monogam’-Beziehung noch ein riesiges Spektrum gibt. Solange alles einvernehmlich zwischen Erwachsenen stattfindet—was spricht dagegen? Das Einzige, das ich wirklich wichtig finde ist, dass alles auf Augenhöhe passiert.” Alternativen zur Heteronormativität wünscht sie sich auch ganz allgemein für die männerdominierte Straight-Edge-Szene: „Mir geht immer das Herz auf, wenn die Musiker und Musikerinnen auf ziemlich großen Shows extra ansprechen, dass sie es befürworten, auch Frauen, Queers, und andere Outlaws auf ihren Shows bzw. vorne im Pit zu sehen. Wenn dann noch Menschen auf der Bühne stehen, die nicht in das binäre Geschlechtersystem passen, ist es umso schöner.”

Maureen (24) schon immer Straight Edge

Die 24-Jährige lebt nach eigener Aussage schon immer nach dem Straight-Edge-Prinzip. Ihren gesunden und drogenfreien Lebensstil nennt sie seit ihrem 16. Lebensjahr auch so, seitdem sie über ihren Punk-Freundeskreis zum ersten Mal mit dem Begriff in Berührung kam. „Der Verzicht auf verschiedene Substanzen rührt wohl daher, dass ich mit einem suchtkranken Elternteil groß geworden bin. Später verspürte ich ebenfalls nie das Verlangen nach Rauschzuständen, trotz der ‚Nicht-Edger’ in meinem Freundeskreis. Auch, weil ich weiterhin intime Beziehungen zu Menschen mit Abhängigkeiten führe, die mir die Schattenseiten immer wieder bewusst machen.”, erzählt sie uns.

Klassische Kommentare wie „Wow, ich könnte das nicht!”, „Fehlt dir da nicht was?” oder „Hast du denn überhaupt Spaß beim Feiern?”, hört Maureen oft. „Meine Familie und Freunde reagieren positiv bis neutral auf meinen Lebensstil. Soll heißen: Es macht für sie entweder keinen Unterschied oder es freut sie, da ihnen bewusst ist, dass es ein Lebensstil zugunsten meiner Gesundheit ist. Mir wird auch oft Respekt und Anerkennung zugesprochen. Einige freut es, dass ich dann noch fahrtüchtig bin und sie deshalb die Gelegenheit haben, bequem Heim zu kommen. Oh, und dann gibt es noch die Menschen, die glauben, sie müssen Mitleid mit mir haben.”

Ich stelle mich meinen Gefühlen lieber, statt sie wegzutrinken.

Sich selbst begreift Maureen nicht zwingend als Teil der Straight-Edge-Szene, auch wenn sie deren Lebensstil lebt. Deswegen erwartet sie das auch nicht von einem potentiellen Partner. „Ich hatte genau genommen nie eine ‚Straight Edge-Beziehung’, wenn man das so nennen will. Nur mein jetziger Freund hat eine Weile—zwei Jahre, um genau zu sein—bewusst auf sämtliche Substanzen verzichtet. Ich hatte und habe einige intime Beziehungen zu Menschen, die, was verschiedene Subtanzen anbelangt, ein gestörtes Verhalten an den Tag legen, oder tatsächlich schon an einer Sucht erkrankt sind. Ausschließen kann und will ich eine Beziehung zu einer Person, die zu Suchterkrankungen neigt, deswegen nicht. Wir wissen ja nie, wo die Liebe hinfällt.”

Ihre Entscheidung für Straight Edge bereut Maureen nicht: „Ich stelle mich meinen Gefühlen lieber, statt sie wegzutrinken—selbst wenn es unangenehme sind.”

Melixxx (24), seit fast 9 Jahren Straight Edge

Melixxx fand ihren Zugang zur Straight-Edge-Szene vor allem durch die Musik. „Der Nihilismus und das Destruktive des klassischen Deutschpunks frustrierte mich schnell, weshalb Oldschool-Hardcore zu meiner bevorzugten Soundquelle wurde. Minor Threat und so. PMA. Die Klassiker eben. Damals schon sagte ich zu Freunden und Bekannten, die mir Alkohol anboten: ‚Nein Danke, ich bin edge.’” Damals war sie 12. Zwar probiert sie sich mit 15 dann doch an Alkohol und Tabak, bricht das Experiment Rauschmittel aber nach einem halben Jahr ab.

„Nein, ich schlage keiner Person die Kippe aus der Hand und nein, ich gehöre auch keiner Sekte an. Ich mache das für mich.”, erzählt die heute 24-Jährige. „Paradox finde ich, dass man noch immer schief angeguckt wird, wenn man auf sich und seinen Körper achtet, die Umwelt und seine Mitmenschen respektiert, vegan lebt und somit eigentlich ein ganz passabler, wenn nicht sogar respektvoller, Zeitgenosse ist. Wenn man sich jedoch jedes Wochenende mit Alkohol und Drogen zudröhnt und sich die Seele aus dem Leib kotzt, sagt keiner was.”

Hardcore und Straight Edge schreibt man vielfach nur den muskelbepackten und testosteronversprühenden Männern zu.

Ein Problem mit Menschen, die in ihrem Konsumverhalten enthemmter sind, hat sie nicht, solange sie keine Beziehung mit ihnen führen muss. „Wenn ich eine Partnerin hätte, die nicht vegan und Straight Edge lebt, wäre Rauchen ein sehr großes No-Go”, erklärt Melixxx. Sie selbst hielt sich lange Zeit für asexuell, bis sie ihre Liebe zu Frauen entdeckte—was die Partnersuche in der Straight-Edge-Szene zusätzlich schwierig macht. „Die Auswahl an nicht-heterosexuellen-vegan-straight-edge-lebenden Frauen in den Kreisen, in denen ich mich bewege, die meinem persönlichen Kriterienkatalog entsprechen UND auch mich interessant finden, beläuft sich auf ein Minimum. Ich kenne mehr Männer, als Frauen, die edge sind. Das ist dann wie die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen.”

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Melixxx erklärt sich die Tatsache, dass in der Szene grundsätzlich mehr Männer als Frauen unterwegs sind, so: „Hardcore und Straight Edge ist nur was für die ganz Harten. Da musst du dich beweisen. Hardcore und Straight Edge schreibt man vielfach nur den muskelbepackten und testosteronversprühenden Männern zu. Frauen sind hier, wie so oft, nur ein nettes Beiwerk, mit dem Mann sich gerne schmückt, von dem Mann sich aber nichts sagen lässt. Richtig etabliert in der Szene sind sie erst nach Jahren, oder wenn sie mit einem Typen aus der Szene zusammen sind.”

Rückblickend habe ihr die Szene zwar gezeigt, „dass es auch andere Menschen gibt, die so sind wie ich und dass es okay ist, so zu sein wie ich bin.”, trotzdem: „In einem Text hab ich mal geschrieben, dass die Hardcore- und Straight Edge-Community auch nur ein Abbild der Mehrheitsgesellschaft ist mit der besseren Hintergrundbeschallung. Daran halte ich auch weiter fest.”