Wenn ich an meine Kindergartenzeit denke, dann denke ich nicht an Max, der mich immer auf den Schoß nahm. Nicht an Jürgen, der mit uns tobte und nicht an Julian, der mich immer tröstete, wenn ich hinfiel. Es gab in unserem Kindergarten nämlich nur Frauen. Dabei hätte mir damals im Kindergarten sehr geholfen, auch männliche Bezugspersonen zu haben. Dann würde ich Zuneigung vielleicht nicht nur mit Frauen verbinden und mit Männern Strenge und Distanz. Geschlechter-Stereotype sind nicht angeboren, sondern erlernt. Und ein Erzieher, der Kinder tröstet, lebt auch Jungs vor, dass es ganz normal ist, als Mann Gefühle zu zeigen.
Der Erzieherberuf ist Frauensache, immer noch. In Deutschland lag der Anteil männlicher Erzieher 2018 bundesweit gerade einmal bei fünf Prozent. Dabei unterstützt der Bund sogar eine Kampagne, für mehr Männer in Kitas und viele Eltern finden es gut, wenn sich auch Männer um ihre Kinder kümmern. Vor allem alleinerziehende Mütter. Birger Holz, ein Mann, der Erzieherinnen und Erzieher ausbildet, sagt: “Jungs sehnen sich nach männlichen Vergleichen.” Für die Jungs sei es wichtig, in der Kita auch männliche Vorbilder zu haben.
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Aber für die Erzieher selbst ist der Job oft eine Qual. Und das nicht nur, weil der Beruf so schlecht bezahlt wird, worunter natürlich auch die Kolleginnen leiden, sondern auch weil sie gegen Klischees und Vorurteile ankämpfen müssen.
So wie Enrico Köhler. Er ist seit sieben Jahren Erzieher und hat schon in unterschiedlichen Kindertagesstätten gearbeitet. Enrico ist fast zwei Meter groß, hat dunkelbraune Haare, trägt Vollbart und Brille. Seine Stimme ist kräftig und tief. Er hört gerne Heavy Metal. Dass er damit nicht in das Klischees der Erzieherinnen passt, spürt er oft. Das fängt damit an, dass ihm oft nicht zugetraut wird, ein Kind zu trösten und Kolleginnen ihm das Kind abnehmen.
Dass wir mit der Kindererziehung immer noch Frauen assoziieren, ist nicht nur ungerecht für Frauen, sondern auch für Männer. Männer, die sich bewusst für einen sozialen Beruf entscheiden, sind die Helden der Geschlechtergerechtigkeit. Leider wird ihnen die Entscheidung, Erzieher zu werden nicht leicht gemacht. Stattdessen werden sie verdächtigt, eine pädosexuelle Neigung zu haben. Das Familienministerium gibt an, dass 32 Prozent der befragten Eltern Vorbehalte gegenüber männlichen Erziehern hinsichtlich körperlicher Nähe zu Kindern haben. Im Vergleich dazu kam der Gedanke bei Erzieherinnen nur bei 13 Prozent auf.
Manche Kitas führen ein grundsätzliches Wickelverbot für Männer ein.
In manchen Kitas gibt es deshalb Sonderregeln für Erzieher. Birger, der Ausbilder, hört immer wieder von Kitas, in denen Männer keine Kleinkinder wickeln dürfen.
Das findet er aber falsch: “Wenn ich als Leitung sage, dass Männer das Kind bitte nicht wickeln sollen, unterstütze ich die Annahme, Erzieher seien grundsätzlich gefährdet, pädophil zu sein.” Er hat selbst erlebt, dass Eltern ihm gegenüber skeptisch waren “Im Kindergarten sind auch Kinder auf meinem Schoß gewesen und Eltern haben sich bei der Leitung beschwert”.
Cem Erkisi, Erzieher in Berlin Neukölln, hat es schon einmal erlebt, dass ein Vater sich neben ihn gestellt hat, als er sein Kind wickelte, und ihn dabei böse anstarrte. Als den Eltern gesagt wurde, dass das Wickeln auch Aufgabe des männlichen Personals sei, hätten sie die Kita gewechselt.
Erzieher verunsichert das in ihrem Umgang mit Kindern. Enrico erzählt von einer Situation, in der er vier Kinder auf dem Schoß hatte. “In dem Augenblick hab ich echt gedacht: Wie wirkt das jetzt, wenn die Eltern vorbeilaufen.” Auch Cem hatte sich beim Toben mit den Kindern schon Gedanken gemacht, ob das nicht zu viel Körperkontakt sei: “Wie kommt das jetzt an? Wie sieht das aus?” Doch er hat versucht, den Gedanken wegzuschieben. “Das ist meine Art zu arbeiten. Das gefällt den Kindern und macht denen Spaß. Das ist das Wichtigste.”
“Kinder können das mit einem Jahr schon zeigen: Du bist jetzt die falsche Person, die mich wickelt. Und das ist völlig okay”
Vorsicht gegenüber Erziehern kann dazu beitragen, Kindesmissbrauch zu verhindern und schneller aufzudecken. Wenn die Anschuldigungen jedoch falsch sind, können sie auch dazu führen, das Leben des Erziehers zu zerstören, bevor die Beweislage geklärt ist. Genau das ist im großen Maße im “Montessori-Prozess” 1991 passiert. Hier wurde ein Erzieher in über hundert Missbrauchsfällen angeklagt. Der Prozess ging über zwei Jahre, bis der Unschuldige freigesprochen wurde, weil die Ermittlungen durch suggestive Befragungen der Kinder und besorgniserregende Eltern verfälscht wurden.
Enrico hat auch erlebt, wie ein Kollege beschuldigt wurde, übergriffig geworden zu sein. Der Erzieher sei von den Eltern daraufhin regelrecht “gejagt” worden und in Elternforen wurde auf ihn gehetzt, wie Enrico sagt. Später stellte sich heraus, dass die Vorwürfe nicht stimmten. Daraufhin haben die Erzieher in seiner Kita eine Männer-Austauschgruppe gegründet. “Wir haben uns gefragt: Wie können wir uns schützen, um nicht in diese Rolle gedrückt zu werden?”
Viele Erzieher werden von der Kita-Leitung und ihren Kolleginnen unterstützt. Die erklären dann zum Beispiel den Eltern, dass es kein Problem darstellt, wenn die Kinder auch von Männern gewickelt werden und betonen, welche Vorteile Erzieher ins Team bringen können. Das beste Mittel aber, um Spaß mit den Kindern zu haben und gleichzeitig den Schutz der Kinder zu sichern, sei Empathie. Das fange schon beim Wickeln an. Enrico frage die Kinder immer, ob sie von ihm gewickelt werden wollen. “Kinder können das mit einem Jahr schon zeigen: Du bist jetzt die falsche Person, die mich wickelt. Und das ist völlig okay”, sagt Enrico. “Da entsteht dann Selbstbestimmung”.
Kinder vor Missbrauch in der Kita schützen ist wichtig und erfordert Sensibilität. Aber einen Erzieher pauschal zu verdächtigen, macht es schwer, Geschlechterrollen aufzubrechen. Wie Birger sagt: “Somit steht ein Mann vor der Herausforderung: Was will ich machen? Will ich einen Beruf machen, der mir Spaß macht – mit Kindern arbeiten? Oder werde ich dann in eine Schublade gesteckt, in die ich nicht rein möchte?”.
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