Auf der diesjährigen New Yorker Comic Con (NYCC) schienen Frauen den Männern zahlenmäßig überlegen zu sein. Einige kamen mit ihrem Freund im passenden Cosplay-Kostüm, andere kamen mit ihrer Freundin und wieder andere kamen allein oder durchstreiften die Comicbuchmesse in großen Gruppen. Sie waren alt und jung und von unterschiedlichster ethnischer Herkunft. Einige von ihnen waren transgender, andere nicht.
Comics hatten immer den Ruf, ein absolut männerdominiertes Genre zu sein, das von und für weiße, heterosexuelle Männer gemacht wurde. Doch in den vergangenen Jahren hielt die geschlechtliche, ethnische und sexuelle Vielfalt verstärkt Einzug in die Welt der Nerds und bekam immer mehr Sichtbarkeit. Der Veranstaltungsplan der NYCC hat diese Entwicklung widergespiegelt: In diesem Jahr gab es eine ganze Reihe von Foren zum Thema Frauen und Comics. Eines davon fand am Donnerstagabend statt und hat einen Blick darauf geworfen, dass die Spielregeln in der Industrie mithilfe von Frauen immer weiter verändert werden. Hierzu wurden mehrere Comicbuchkünstlerinnen auf die Bühne geholt—darunter auch Sarah Andersen, eine aufstrebende Künstlerin aus der Indie-Szene. Andersen verschleiert ihren Online-Auftritt ganz bewusst, um den Beleidigungen im Netz aus dem Weg zu gehen, von denen nach wie vor viele Frauen des öffentlichen Lebens betroffen sind. „Als Frau im Internet aufzutreten ist kein Zuckerschlecken. Aus diesem Grund möchte ich mein Gesicht lieber nicht zeigen”, heißt es auf ihrer Website.
Videos by VICE
Mehr lesen: Fantasien ohne Vorurteile—Wie Fanfictions Frauen empowern
In Andersens halbbiografischem Comic Sarah Scribbles geht es um ein alternatives Mädchen, das mit viel Witz gegen ihre eigenen Unsicherheiten und die Unannehmlichkeiten des Lebens kämpft. In einem ihrer Comics sieht man die rehäugige Sarah, wie sie einen Burrito in sich hineinstopft, während die Frau neben ihr damit prahlt, dass sie nur bio isst. Durch die Unvollkommenheit und Natürlichkeit von Andersens Arbeit fällt es leicht, sich mit der Protagonistin zu identifizieren—ganz besonders jungen Frauen. Sarah liegt andauernd im Clinch mit dem Erwachsenwerden und ihrem Schicksal als Teil der Generation Y, was durch zahlreiche angsterfüllte Blicke in ihren Comicstrips zum Ausdruck kommt—zum Bespiel, wenn Sarah über die verwirrenden, unerreichbaren Schönheitsideale von Snapchat-Filtern klagt oder illustriert, wie schlimm ihre Periode ist oder wie das eigene Leben im Chaos versinkt, während man sich wie besessen Makeup-Tutorials auf YouTube anschaut.
Dr. Louie Dean Valencia Garcia ist Dozent für Geschichte und Literatur an der Universität von Harvard. Im Rahmen seiner Forschungsarbeit hat er einen bedeutenden Blick auf das Comicbuchgenre geworfen—sowohl auf das Mainstreamuniversum von DC als auch auf die Welt der alternativen Comics. In Valencias Augen ist Andersen „ein exzellentes Beispiel für die florierende alternative Comicbuchindustrie, die ganz neue Zielgruppen anspricht und das Medium verändert.”
In diesem Medium, erklärt Valencia, waren Frauen bisher immer unterrepräsentiert, obwohl „Mädchen schon seit Langem zu den Lesern von Comics gehören—genauer gesagt, schon seit es die ersten Superheldencomics gab.” Mitte des 20. Jahrhunderts hat ein—wie Valencia sagt—bedauerlicher Psychiater namens Frederic Wertham ein Buch mit dem Titel Seduction of the Innocent veröffentlicht, in dem er sich darüber beschwert, dass Wonder Woman lesbisch ist (Jahrzehnte später wurde Wonder Woman ganz offiziell homosexuell, was zweifellos ein großartiger Schritt war) und warnte vor den vielen Bösewichten und ihrem Einfluss auf leicht beeinflussbare Gemüter. Wie die New York Times berichtet, geriet Werthams Arbeit seither allerdings in Verruf, weil sie allem Anschein nach auf „falschen Tatsachen” und „verfälschten” Informationen beruht. Damals zeigte die Arbeit allerdings ihre Wirkung.
Als Reaktion auf Werthams Beschwerden wurde 1954 eine Zensurstelle namens Comics Code Authority (CCA) eingerichtet. Valencia erklärt, dass durch die CCA „die Diskussion über queere Themen sowie jede positive Darstellung von Scheidung verboten wurde. Außerdem forderten sie eine streng heteronormative Darstellung von Familie.” All das, so Valencia, hatte zur Folge, dass Männer zur vornehmlichen Zielgruppe von Comicbüchern wurden.
Ich bin stolz, dass ich die Arbeit der Frauen fortführen kann, die mir den Weg geebnet haben.
Einige Superheldinnen—so wie Wonder Woman—blieben uns aber trotz allem erhalten. Wonder Woman entwickelte sich, wie Valencia anmerkt, sogar zu einer Ikone der Feministinnen und wurde von feministischen Wortführerinnen wie Gloria Steinem strategisch genutzt. In den 70er-Jahren wurde dann eine Frau namens Jenette Kahn Präsidentin und Chefredakteurin von DC Comics. „Kahn half dabei, DC Comics zu diversifizieren und schuf einen Platz für Frauen innerhalb des Unternehmens. Ihr haben wir unter anderem Janice Race, Louise Simonson und Karen Berger zu verdanken—um nur ein paar zu nennen.”
Doch trotz der gestiegenen Zahl weiblicher Comicentwickler war das Genre noch immer stark männerzentriert. Laut Valencia war die Darstellung von Frauen auch in den 90ern nach wie vor entsetzlich. Im Rahmen des NYCC-Forums fragte ein Moderator die Frauen im Publikum, seit wann sie sich mit Comics beschäftigen, woraufhin eine der Frauen rief: „Sailor Moon!”, womit sie die legendäre Manga-Reihe meinte, die 1995 erstmals als Fernsehserie in Deutschland ausgestrahlt wurde. Von den anderen Frauen kam zustimmender Beifall und auch die Podiumsteilnehmer waren einer Meinung: Die Serie und ihre weiblichen Hauptfiguren vermittelte Frauen ein Gefühl von Selbstbestimmung. Abgesehen von Sailor Moons progressivem weiblichen Kontext war die Sichtweise des Genres allerdings noch immer stark eingeschränkt. Als die Serie in den englischsprachigen Ländern erschien, wurden die lesbischen Handlungsstränge für das amerikanische Publikum beispielsweise komplett zensiert.
Valencia glaubt, dass eine der größten Veränderungen 1999 stattfand, als die Comiczeichnerin Gail Simone die Website Women in Refrigerators gründete. Laut der Website sollten dort alle „Superheldinnen aufgelistet werden, die entweder entmachtet, missbraucht oder zerstückelt und in einen Kühlschrank gesteckt wurden.” Das Ganze war ein schlagendes Statement gegen den damaligen Umgang mit Frauen in Comics.
Danach „war klar, dass sich die Comicbuchindustrie verändern musste”, sagt Valencia. Er sagt auch, dass die Industrie, die die jungen Frauen von heute erben, „das Resultat jahrzehntelanger Forderungen nach der Darstellung von Frauen in den Mainstreammedien ist.” All das war eine Reaktion auf Werthams rückschrittlichen Angriff auf Comics und die kulturelle Vielfalt und hatte zur Folge, dass der Weg für die vermehrte Repräsentation von Frauen in Comics geebnet wurde—die, wie Valencia sagt, heute stärker ist als jemals zuvor.
Folgt Broadly bei Facebook, Twitter und Instagram.
Andersen und die anderen Diskussionsteilnehmer schienen es derweil alle leid zu sein, Fragen zu ihrem Geschlecht zu beantworten oder dazu, was es bedeutet und wie es sich anfühlt, eine Frau zu sein, die Comics macht. Sie schienen sich alle einig zu sein, dass die Tatsache, dass sie Frauen sind, keinerlei Einfluss auf ihre Arbeit hat. Eine der Podiumssprecherinnen, Gabrielle Bell, eine surrealistische Indie-Comiczeichnerin, meinte, dass sie die Fixierung auf die Geschlechter herablassend fände, was gleichzeitig das Forum selbst infrage stellte. Sie fragte auch, warum sie nicht einfach Künstler sein könnten, anstatt immer als weibliche Künstler dargestellt zu werden.
Arielle Jovellanos, die ebenfalls an der Diskussion teilnahm, war auch der Meinung, dass sie bei ihrer Arbeit nicht viel über ihr Geschlecht nachdenkt. Allerdings war sie sich bewusst, dass sie das zum Teil auch ihren Vorgängerinnen zu verdanken hat. „Ich bin stolz, dass ich die Arbeit der Frauen fortführen kann, die mir den Weg geebnet haben”, sagt Javellanos.
Valencias Ansicht nach ist die zunehmende Diversifizierung von Comics bezeichnend dafür, dass „marginalisierte Stimmen” gesamtgesellschaftlich immer mehr Beachtung finden. Da Comics im Vergleich zu Filmen kostengünstig produziert werden können, spiegeln sie derartige kulturelle Veränderungen sehr viel häufiger wider (und prüfen ihre Rentabilität) als Industrien mit höheren Produktionskosten. Aus diesem Grund, sagt Valencia, „werden Comics vermutlich bis auf absehbare Zukunft eine Art Brücke zwischen [dem Mainstream und] den Untergruppen beziehungsweise den marginalisierten, unterdrückten Kulturen bleiben.”
Für einige Comiczeichnerinnen ist die bewusste, vielfältige Darstellung von Frauen ein wichtiger Bestandteil ihrer Kunst. Die letzte bedeutende Inklusion einer Frau in die Welt der Comics fand erst dieses Jahr statt, als Roxane Gay die erste schwarze Autorin bei Marvel wurde. In einem Interview mit der New York Times sagte Gay: „Wenn man die Chance bekommt, schwarze und queere schwarze Frauen in das Marveluniversum zu schreiben, dann kann man nicht Nein sagen.”
Mehr lesen: Charaktermerkmal Doppel-F—Anime hat ein echtes Frauenproblem
Neben der Autorin Ta-Nehisi Coates ist Gay die Schöpferin der mit Spannung erwarteten Serie World of Wakanda. Während Frauen immer weiter Einzug in die Welt der Comics halten, steigt auch der Wunsch nach einer vielfältigeren Darstellung von Persönlichkeiten mit unterschiedlichem Aussehen—von farbigen Menschen über Menschen mit Behinderung bis hin zu Transgender. Bei einem Forum zu farbigen Frauen in Comics, das am Sonntag auf der NYCC stattfand, wandte sich die Cartoonistin Barbara Brandon-Croft gemeinsam mit anderen farbigen Comiczeichnerinnen an das Publikum. Brandon-Croft erklärte, dass sie die erste afro-amerikanische Frau ist, die mit ihren Inhalten in einer nationalen Zeitung erschien. Ihr Comic Where I’m Coming From erschien ab den 80ern bis zum Jahr 2005 und stellt die einfachen Momente im Leben schwarzer Frauen dar und die Probleme, mit denen sie konfrontiert werden—von der Bedeutung, als schwarze Frau wählen zu gehen bis hin zu Rassismus in der Filmindustrie.
Sie und die anderen Diskussionsteilnehmer dachten unter anderem auch über den Unterschied zwischen Diversität und Repräsentation nach, während das Publikum Bedenken hinsichtlich der fehlenden Darstellung von Identifikationsfiguren in den Mainstreamcomics äußerte. Sichtbarkeit, meinte eine Diskussionsteilnehmerin, ist das Wichtigste. Die Vorstellung, dass weiße, heterosexuelle Männer die allgemeine Weltanschauung der Leser repräsentieren, hat längst ausgedient und die Forderungen, die sowohl von den Fans als auch von den Zeichnern in den Raum gestellt wurden, scheinen auch widerzuspiegeln, was Valencia meinte, als er sagte, dass Comics genauso vielfältig sein sollten wie die Leute, die sie lesen: „Vielfältigere Autoren und Charaktere führen letztendlich auch zu besseren Geschichten.”