Im Chinesischen gibt es noch kein eigenes Wort für „Puck.” Stattdessen benutzt man „bingqiu”, was übersetzt so viel wie „Eisball” bedeutet. Denn Chinesen haben eigentlich so viel mit Eishockey am Hut wie Wayne Gretzky mit Badminton. Doch das soll—und wird—sich schon bald ändern.
Am 5. September 2016 feierte Kunlun Red Star sein Heimdebüt im Pekinger LeSports Center. Red Star ist das neueste Franchise der KHL, die nach der NHL als zweitstärkste Liga der Welt gilt. Aber warum Eishockey im Reich der Mitte?
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In der Halle selbst waren die Zeichen eines großen sportlichen Events unübersehbar: atemberaubende Lichtershow, roter Teppich, lautstarke Hallensprecher.
Die switchten unentwegt zwischen Chinesisch und Russisch und streuten manchmal auch Englisch ein. Kunlun spielte natürlich in rot-gelben Jerseys. Und vor dem Spiel gab es auch noch ein paar feierliche Kommentare vom chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping.
Nur viele Zuschauer gab es leider nicht. Aber darauf kommen wir später noch zu sprechen.
Aber zurück zur Ursprungsfrage: Was soll das Ganze?
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China will mal wieder die Muskeln spielen lassen, wie schon während der Sommerspiele im Reich der Mitte 2008. Dieses Mal gibt die Großmacht alles dafür, um auch im Eishockey zu einem Schwergewicht zu werden. So wie Russland, die USA oder Kanada.
Das Geld dafür hat China. Und jetzt auch die Motivation: Denn in nur sechs Jahren werden alle Augen auf Peking gerichtet sein, wenn dort die Winterspiele 2022 stattfinden werden.
China, als Gastgeberland, hat die Möglichkeit, sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern ein Eishockeyteam ins Rennen zu schicken. Und Peking wird alles daran setzen, vor heimischem Publikum die großen Nationen zu ärgern.
Aber wie will es China schaffen, von der jetzigen Nummer 37 der Welt zu einer Einheit zu werden, die schon 2022 ernsthaft um Medaillen mitspielen kann?
Wenn China irgendjemand helfen kann, die Leiter möglichst schnell zu erklimmen, dann ist es wohl Russland. Schließlich waren es einst die Sowjets, die Kanada bei der WM 1954 mit 7:2 schlugen und sich zum Weltmeister krönten, nachdem sie nicht mal zehn Jahre zuvor ernsthaft mit Eishockey angefangen hatten. Was folgten, waren drei Jahrzehnte internationaler Dominanz.
Bei Kunlun kommen sowohl der General Manager als auch der Trainer aus Russland. Ihre ersten chinesischen „Schüler” sind vier Feldspieler und ein Goalie. Bisher hatten Tianxiang Xia, Guanhua Wang und Shengrong Xia aber kaum Einsatzzeiten. Wirklich spielbereit sind sie noch nicht.
„Für sie bedeutet die KHL einen deutlich erhöhten Schwierigkeitsgrad”, meint der frühere Washington-Capital-Spieler Sean Collins, der gerade seine erste Saison in der KHL spielt.
Selbst die Klassenbesten unter den Chinesen im Team, Rudi Ying und Zach Yuen, kommen nur auf drei bzw. zwölf Minuten Einsatzzeit. Das heißt für sie extra viel Training. Und das mit einem erfahrenen Mann.
„Wir haben einen Trainer, der lange Zeit in Finnland gearbeitet hat. Er kombiniert also sowjetische und europäische Ideen”, erklärt GM Vladimir Krechin.
Die Rede ist von Vladimir Yurzinov, Jr., Sohn der sowjetischen Eishockeylegende, der betont: „Die chinesischen Spieler müssen die Entwicklung machen, von Eishockey zu mögen hin zu professionellen Spielern. Für den unreifen Spieler ist Eishockey nur Spaß. Für den Profi ist es harte Arbeit, ein echter Job.”
Für den 18-jährigen Ying, der im letzten Jahr in einer kanadischen Junior League gespielt hat, heißt das im übertragenen Sinne: vom Spielplatz auf die Baustelle. Und das weiß er selber.
„Nur Talent reicht nicht aus. Man muss auch im Wettbewerb bestehen.”
Ying glaubt, der größte Unterschied zwischen Chinesen und den Besten der Welt ist mentaler Natur. „Fehlendes Talent ist nicht das Problem—das Problem ist, wie sie das Spiel sehen, wie sie es spielen.” Er glaubt, seine Landsleute sehen Eishockey als Geschicklichkeitssport, weniger als Kontaktsport.
Der in Vancouver geborene Yuen weiß, wie hohes Niveau aussieht. Der frühere Draft-Pick der Winnipeg Jets hat in der AHL gespielt, der zweithöchsten Liga Nordamerikas. Außerdem hat er auch schon mit dem Stürmer der Edmonton Oliers, Ryan Nugent-Hopkins, zusammengespielt. Als ich ihn frage, was die Chinesen von den Russen lernen können, meint er nur: „Ich glaube alles.”
Das chinesische Team von 2022 wird mit großer Sicherheit um die beiden Namen Ying und Yuen aufgebaut werden. Der eine ist der jüngste Spieler von Red Star, der andere versucht nach einer gescheiterten Karriere in Nordamerika einen Neustart.
Aber so oder so werden sechs Jahre nicht ausreichen, selbst wenn mehr gebürtige Nordamerikaner wie Yuen für Team China spielen sollten.
Krechin rechnet damit, dass es mindestens 10 bis 15 Jahre dauern wird, bis China überhaupt an der Top 15 der Welt schnuppern wird—und so mit Mannschaften wie Österreich oder Deutschland Schritt halten kann.
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10 bis 15 Jahre werden natürlich zu lang sein, um 2022 irgendetwas reißen zu können. Trotzdem kann man ohne Übertreibung sagen, dass es aktuell einen Eishockey-Boom in China gibt. Bis 2020 sollen über 400 Anlagen gebaut werden. Diese sollen dabei helfen, die Kinder einer wachsenden wohlhabenden Mittelschicht zum Eishockey zu locken. 2008 gab es rund 300 Eishockey spielende Grundschüler im Land, heute sind es schon rund 3.000.
Von diesen Kindern werden wohl einige in der Eishockey-Akademie landen, die Red Star demnächst eröffnen wird. Auch die NHL hat schon von Chinas Mini-Boom Notiz genommen. Im letzten Sommer haben gleich NHL-Teams (Toronto Maple Leafs, Vancouver Canucks und New York Islanders) Jugendcamps in China abgehalten. Dieses Jahr waren die Boston Bruins, Los Angeles Kings und Montreal Canadiens zu Gast.
Kevin Westgarth, der für die NHL das Wachstum im Ausland betreut, meinte gegenüber The Hockey News: „Im letzten Jahr wurde mit Andong Song der erste Chinese in die NHL gedraftet. Das wird hoffentlich wie ein Katalysator wirken. Vor allem die kommenden Winterspiele machen uns Hoffnung.”
Zwischen Modeerscheinung und Masterplan: Chinas Großangriff im Fußball
In den letzten drei Saisons hat das chinesische Staatsfernsehen CCTV zahlreiche NHL-Spiele übertragen. Während dieser Zeit sind die Zuschauerzahlen von 400.000 auf eine Million angestiegen, Spiel 4 im Stanley-Cup-Finale sahen dann schon 6 Millionen Zuschauer. Diese Zahlen werden der chinesischen Politik natürlich gefallen, auch wenn sie im Vergleich zur Gesamteinwohnerzahl noch immer verschwindend gering sind.
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Als sich Peking noch für die Winterspiele 2022 bewarb, meinte Staatspräsident Xi Jinping: „Sollten wir die Spiele bekommen, wird das mehr als 300 Millionen Chinesen zum Wintersport inspirieren.”
Das ist ein hehres Ziel für ein Land, das traditionell auf Sommersportarten setzt. China gewann beispielsweise erst 2002 sein allererstes Olympia-Gold bei Winterspielen. Die meisten Medaillen, elf Stück, holte China 2010 in Vancouver. Zum Vergleich: Bei den Sommerspielen in Peking kam China auf 100 Mal Edelmetall.
Dass es am Ende wirklich 300 Millionen Wintersportler werden, hat wohl kein Offizieller in China wirklich auf dem Schirm. Doch eines ist klar: Das Eishockey-Programm bei den Männern genießt die volle Unterstützung des Staates.
Paradebeispiel: Sowohl Xi Jinping als auch Vladimir Putin waren im letzten Juni dabei, als Kunlun offiziell in die KHL aufgenommen wurde.
Und auch wenn Xi und Putin bei dem Heimdebüt von Red Star fehlen mussten, weil gerade ein lästiger G20-Gipfel stattfand, war dennoch Politikprominenz zugegen, wie etwa in der Person des russischen Vize-Premierministers Arkady Dvorkovich. Und Xi ließ auch etwas ausrichten: „Der Eishockey-Austausch zwischen den beiden Ländern wird China dabei helfen, sich schneller auf die Winterspiele von 2022 vorzubereiten.”
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Wenn man von (mangelnder) Vorbereitung spricht, war es ein kleines Wunder, dass das erste Heimspiel der Kunlun Red Star überhaupt stattfand.
Obwohl die chinesische Erweiterung bereits im letzten Dezember angekündigt wurde, war es bis Ende Juni noch nicht offiziell. Kunluns erstes Training, das erst Wochen später stattfand, hatte gerade einmal fünf Teilnehmer. Es herrschte sogar bis eine Woche zuvor Unklarheit darüber, ob das erste Heimspiel überhaupt stattfinden würde, denn am 5. September sollte bereits ein Konzert im LeSports Center veranstaltet werden. Es machten Gerüchte die Runde, dass Red Star ihr erstes Heimspiel in Shanghai austragen müssten. Als es dann soweit war, blieb die Begeisterung überschaubar: Gerade einmal 7.832 der 14.000 Plätze waren belegt. Zu ihrer Verteidigung muss man sagen, dass wenigstens die, die da waren, Enthusiasmus versprühten. Schon nach wenigen Minuten brachte der Kunlun-Flügelspieler Oleg Yashin die Menge mit einem Treffer zum Johlen. Trotzdem müssen die Fans mit dem Sport erst noch, naja, das Eis brechen.
Kurz danach schoss der ehemalige New Jersey Devils-Spieler Anssi Salmela das allerste Heimtor von Red Star. Weil Sport keine Sprache kennt, drehte auch hier die komplette Halle durch: „Jiayou”-Schreie—zu deutsch „Ihr schafft das”—unterstrichen die hitzige Stimmung. Hinter mir schrie ein heißblütiger Fan im Eifer des Gefechts „Motherfucker” und hatte dabei ein verdammt gutes Timing. Er zog mich immer mehr auf seine Seite, als er seinem Freund Fisher Yu, der ein „Küss mich, ich bin Ire und spiele Hockey”-Shirt trug, Sachen zurief. Es stellte sich heraus, dass Zhong Cong Wu und Yu zu den ersten Hobby-Eishockeyspielern Pekings zählten.
Es war noch nicht mal die Hälfte gespielt, aber Kunlun war bereits mit 5:1 davongezogen und sorgten damit für entspannte Fans. Als Salmela kurz vor Ende noch ein Tor erzielte, waren die Ränge schon spürbar leerer. Der verhaltene Applaus implizierte, dass sie sich schon an die Erfolge gewöhnt hatten. Meine Gedanken schweiften ebenfalls ab, als ich etwas Außergewöhnliches sah: Es war ein kleines Mädchen, dass ein Sidney-Crosby-Trikot trug—in Peking. Ihr Vater Song Dai erklärte mir voller Stolz, dass seine Tochter Demi eins von ca. zwanzig Mädchen wäre, das in der Hauptstadt Eishockey spielt. Während des Stanley-Cup-Finales waren sie für ein Juniorenturnier in Kanada zu Besuch. Daher käme auch die Bewunderung für Crosby.
Nach dem 6:3-Triumph durfte der ehemalige Leafs Spieler Alexei Ponikarovsky wohl auch noch etwas Geld in das Phrasenschwein werfen. „Ich hoffe, wir gewinnen mehr Spiele und dadurch mehr Fans” war sein Fazit des Spiels. Trotzdem lag etwas in der Luft: Es gab eine kleine, leidenschaftliche Eishockey-Fanbase. Noch nie haben so viele Kinder in China Eishockey gespielt, deswegen gibt es auch weiterhin noch Hoffnung. China, die KHL und Red Star haben Hoffnung, dass die Leute das Angebot annehmen, wenn es denn endlich etabliert sein wird.
„Wie du sehen kannst, läuft hier alles ein bisschen anders”, witzelte der Kunlun-Kapitän Janne Jalasvaara nach dem Spiel. Natürlich meinte er nicht den Sport. Aber was ist so anders an China? Man kann sich erlauben zu sagen, dass vielen der Sport egal ist und man mit den halbleeren Stadien kein Geld verdient. Obwohl die Nation für ihre Geduld bekannt ist, ist es schwer zu beurteilen, ob sie diese auch mit dem Eishockey haben wird. Durch die teuren Investments in die Infrastruktur könnte man ein Weltklasseteam aufbauen—aber das wird wohl vorerst nicht passieren. Wird sich die Regierung auch über 2022 für den Sport interessieren? Wird der Traum, eine Hockeymacht zu sein, bald platzen?
„Momentan gibt uns die Regierung viel Geld. Gut möglich, dass es nach 2022 weniger wird”, gibt Li zu. „China braucht beim Eishockey ein System, das sich selbst trägt und nicht auf das Geld des Staates angewiesen ist.” Yang ergänzt: „In China ändert sich das Sportsystem momentan. Damals lief alles über die Subventionen der Regierung, aber wir entwickeln uns immer mehr zu einem marktgetriebenen Wettbewerb.” Trotzdem bleibt der zweifache Goldmedaillengewinner ein Optimist: „Nach 2022 kann der Sport alleine wachsen. Eishockey hat dafür auf alle Fälle das Potential—die Kinder lieben es.”
Trotzdem ist es nicht beliebt genug. Zumindest noch nicht. Nach der Eröffnungszeremonie musste Red Star für ihre Heimspiele in das Feiyang Skating Center in Shanghai umziehen. Im LeSport Center, das bereits gebucht wurde, werden sie erst wieder Mitte Dezember auflaufen können.
Seit dem Umzug hat Kunlun durchschnittlich nur 1.103 Besucher in den nun 14 Begegnungen in Shanghai. Es gibt Gerüchte, dass die KHL ein paar Teams aus der Liga entfernen will. Gerade einmal 721 Zuschauer erlebten den Augenblick, als Yuen am 27. Oktober Geschichte schrieb: Er war der erste chinesische Spieler, der in der KHL ein Tor erzielte.
„So ein Tor ist nicht nur für mich etwas Besonderes, für die Zukunft des chinesischen Eishockeys kann das eine weitaus größere Tragweite haben”, so der glückliche Torschütze. Allerdings wird es mehr als ein Tor brauchen, damit der Sport im Reich der Mitte voll und ganz akzeptiert wird. Vielmehr brauchen die Kinder ein Vorbild, zu dem sie aufschauen können—und in Yuen könnte Kunlun genauso eins gefunden haben. Nachdem er in den ersten zehn Spielen gerade einmal sechs Minuten auf dem Eis stand, durfte er in den letzten 21 Begegnungen durchschnittlich 15 Minuten spielen. Er ist zwar nicht der Star des Teams, aber bei einem Playoff-Kandidaten eine tragende Rolle zu spielen, ist immerhin etwas.
Einen großen Teil seiner Entwicklung schreibt er dabei den russischen und europäischen Trainern zu: „Sie haben mir wirklich dabei geholfen, mich auf das andere Spiel einzustellen. Im europäischen Eishockey gibt es weitaus weniger Spielraum, was das Halten und die Arbeit mit dem Schläger betrifft. Das Verteidigen ist komplett anders, vor allem auf so dickem Eis.” Außerdem fügte er an: „Unser Team hat jede Menge Spitzenspieler und ein paar Jungs aus der NHL. Mit ihnen zu spielen, hat mich wirklich perfekt vorbereitet.”
Wenn man versucht, das scheinbar Unmögliche zu erreichen, und sich mit den Besten der Besten messen muss, braucht man jedes bisschen Hoffnung. Für die chinesische Nationalmannschaft ist die rapide Entwicklung eines Spielers schon mal ein gutes Zeichen—die KHL ist schließlich nicht irgendeine Liga. Oder wie es Yuen sagte: „Jede Nation muss irgendwo anfangen.”