David LaChapelle glaubt, dass er ein Gefäß für eine höhere Macht ist. “Ich habe einige Bilder, bei denen ich wirklich wenig zu tun hatte. Ich bin einfach mitten in der Nacht aufgestanden und hatte ein Bild im Kopf, nachdem ich für Inspiration gebetet hatte”, erzählte er am Telefon. Zunächst war es überraschend zu hören, dass jemand, der auf eine lange und erfolgreiche Karriere umgeben von den größten Berühmtheiten zurückblicken kann, seine eigene Demut betont – der Mentee von Andy Warhol, Entdecker von Paris Hilton und Amanda Lepore, der Fotograf von Whitney Houston, Elizabeth Taylor und Tupac Shakur. Aber es stellt sich heraus, dass das LaChapelles Haltung ist, künstlerisch wie persönlich.
“Ich bin so begeistert, eine Ausstellung in New York zu haben – dort bin ich wirklich erwachsen geworden”, sagte der Fotograf über Make Believe, seine erste große Einzelausstellung in den Vereinigten Staaten. “New York ist ein hartes Pflaster, wissen Sie … wenn man es dort schafft …”, er brach ab und stimmte den Frank-Sinatra-Hit “New York New York” an. Die Retrospektive, die am 9. September im Fotografiska New York startete, umfasst 150 Werke aus über vier Jahrzehnten.
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Im Alter von 15 Jahren verließ LaChapelle sein Elternhaus in Connecticut und zog in den 1980er-Jahren nach Manhattan. Seine Anfänge als Künstler machte er im East Village, wo er ins Nachtleben eintauchte. Seine Hörner stieß er sich bei Andy Warhols berüchtigtem Interview-Magazin ab. Angetrieben von der existenziellen Ungewissheit, die die AIDS-Epidemie mit sich brachte, zeigte er in seinen frühen Arbeiten kranke Freunde, die Engelsflügel trugen und in heiliges, glühendes Licht getaucht waren.
Später wagte sich LaChapelle an das Aufnehmen von fantastischen Spektakeln mit hohem Budget, einschließlich der Mode- und Werbefotografie. Er erforschte Themen wie Künstlichkeit und vorstädtische Tagträume. Ein Foto aus dem Jahr 2002, “I Buy A Big Car For Shopping”, zeigt eine blonde Frau in einer Landschaft aus überdimensionierten Fertighäusern, wie sie in US-amerikanischen Vorstädten üblich sind. Sie steht vor einem Geländewagen, der in eine riesige, aufblasbare Coca-Cola-Dose gekracht ist. Da es sich schließlich um eine LaChapelle-Produktion handelt, sieht das blutende, zerzauste Model aus, als wäre sie bereit für den Laufsteg.
In seinen aufwendigen Porträts für Zeitschriften durchwob LaChapelle das Konzept der Berühmtheit mit religiöser Ikonografie: Kim Kardashian ist Maria Magdalena, die einen Strom schimmernder Tränen weint, Kanye West ist Christus mit einer Dornenkrone.
LaChapelles typischer Porträtstil kann sowohl als surrealistische Feier der zeitgenössischen Kultur als auch als freche Satire gesehen werden, die Amerikaner an ihre schlimmsten Sünden erinnert. Für die Kardashian-Jenner-Weihnachtskarte, die er 2013 fotografierte, sammelte er 500 Boulevardmagazine mit den allgegenwärtigen Gesichtern der Familie und verteilte die Schwestern und ihre Begleitung in einer postapokalyptischen Landschaft, die sie selbst geschaffen hatten.
Neben seiner Tätigkeit als Fotograf führte LaChapelle bei einer Reihe von Musikvideos für Top-40-Diven und einem Dokumentarfilm über Streetdance in South Central Los Angeles von 2005 Regie und veröffentlichte zahlreiche Kunstbücher. Mitte der Nullerjahre nahm er eine Auszeit von der kommerziellen Arbeit und tauschte New York gegen eine abgelegene Farm in Maui. Einige seiner neueren Arbeiten knüpfen an seine religiösen Themen an und erforschen die göttliche Ruhe der immergrünen Landschaften Hawaiis.
Die neue Ausstellung Make Believe ist ein Höhepunkt seiner dynamischen, interdisziplinären Karriere. VICE sprach mit ihm über die Retrospektive, seine wechselnden Inspirationen und seine Gedanken zu seinem Vermächtnis.
VICE: Du hast in den Achtzigern bei Andy Warhols Interview gearbeitet. Gibt es etwas, das du von ihm und deiner Zeit bei Interview gelernt hast und noch heute berücksichtigst?
David LaChappelle: Warhol bestätigte etwas, das mir schon länger durch den Kopf gegangen war. Einmal war ich in seinem Büro und er sagte zu mir: “Mach, was du willst, lass einfach nur alle gut aussehen.”
Außerdem habe ich eine noch viel wichtigere Lektion gelernt. Meine Freunde, die damals auf Designschulen wie die Parsons und die FIT gingen, waren so gemein zu Andy. Sie sagten: “Warum arbeitest du für ihn? Er ist ein Versager.” Sie waren wirklich zynisch.
Die Kunstwelt wusste ihn nicht zu schätzen, als er starb. Europa und Asien schon. New York nicht. Er wollte nur eine Ausstellung im Museum of Modern Art. Das wollte er sein ganzes Leben lang, und er bekam sie erst nach seinem Tod. Die größte Ausstellung in der Geschichte des Museums, aber man wartete, bis er tot war. Alle liefen herum und sagten: “Oh mein Gott, dieser Typ ist ein Genie!” Ich dachte nur an die Leute, die sich über ihn lustig gemacht hatten. Er war die ganze Zeit unterwegs, und die Kunstkritiker meinten: “Wie kann er ein ernsthafter Künstler sein?”
Ich habe miterlebt, dass es einen Wandel gab. Im Laufe der Jahre wurde mir klar, dass Picasso die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörte und Andy Warhol die zweite Hälfte.
In deinen frühen Werken hast du Männer, die an AIDS erkrankt sind, als überirdische Engel dargestellt. Wie bist du darauf gekommen?
Nun, die Leute auf den Fotos waren Freunde von mir. Plötzlich, Anfang der Achtziger, wurde ich auf diese Seuche aufmerksam. [Das US-amerikanische Gesundheitsministerium] nannte [fahrlässigerweise] den Klub der “vier H”, heroinsüchtige, homosexuelle, hämophile und haitianische Personen [als Risikogruppen für AIDS]. Ich hatte schon früh diese Vorahnung, dass es eine Seuche sein würde, und dass sie riesig werden würde. Jetzt sind [über] 33 Millionen Menschen tot.
Die Vorahnung, die ich hatte, war wirklich wahr. Ich war abends bei der Robert-Mapplethorpe-Ausstellung, und ich saß in der Ecke und war von den Bildern und Porträts überwältigt. Ich hatte ein seltsames Gefühl. Als ich im Regen nach Hause ging, habe ich so heftig geweint und hatte die Vorahnung, dass diese kleine Sache zu einer massiven, globalen, biblischen Plage werden würde. Und dann fingen die Leute tatsächlich an, zu erkranken. Mein Freund starb 1984 an AIDS, als ich 21 und er 24 war, und ich war sicher, dass ich es hatte.
Ich dachte nicht, dass ich so lange hier sein würde, also wollte ich eine Bestimmung haben, wegen der ich am Leben war. Es ging nicht um Geld oder darum, ein Vermächtnis zu hinterlassen. Es ging mir darum, schöne Bilder zu machen, die ich der Welt zurücklassen konnte, und das waren diese Engelsbilder. Also habe ich mein ganzes Erspartes verwendet und diese Flügel entwerfen lassen. Ich wollte den Geist von Engeln fotografieren. Ich bin Gott sehr nahe gekommen. Ich bin Gott nahe, seit ich ein Kind war. Aber das war, als ich mit dem Tod konfrontiert wurde. Ich dachte, ich würde sterben. Warum sollte ich nicht? Wir hatten keinen geschützten Sex. Das hatte niemand.
Du hast religiöse Motive auch in popkulturelle Fotografien einfließen lassen. Zum Beispiel bei deinem Rolling-Stone-Cover mit Kanye West als blutendem Christus. Kannst du die Darstellung von Berühmtheiten als Gottheiten näher erläutern?
Ungefähr zu dieser Zeit hatte ich einen mediterranen Jesus und einen englischen Jesus gemacht. Ich habe Kanye für den Rolling Stone fotografiert und ein Bild für mich selbst gemacht. Das war das Jahr, in dem Mel Gibsons Film Die Passion Christi herauskam, und ich habe es perfekt darauf abgestimmt. Der Hintergrund, jeder Dorn, den wir ihm auf den Kopf setzten – es war wirklich wie das Poster. Ich hätte nicht gedacht, dass die Zeitschrift das auf die Titelseite setzen würde.
Ich wollte den Schwarzen Jesus darstellen. Ich wollte Christus auf unterschiedliche Art und Weise und in verschiedenen Hautfarben darstellen, weil uns in der Bibel gesagt wird, dass wir als Ebenbild Gottes geschaffen wurden. Wir sind auch unterschiedlich. Das ist etwas, das ich sehr interessant fand. Ich arbeite wirklich intuitiv und tue einfach das, was ich liebe. Ich hatte das Glück, einfach meinem Herzen zu folgen.
Du hast mit analoger Fotografie und Printmedien angefangen. Jetzt wird Fotografie oft über Instagram konsumiert und vermittelt. Hat die Smartphone-Technologie dein Vorgehen bei der Produktion dieser überlebensgroßen Spektakel verändert?
Nein, das hat sie nicht. Ich wollte kein Instagram, und ich habe mich jahrelang dagegen gewehrt. Ich wollte nicht, dass meine Fotos so klein gesehen werden. Ich wollte, dass die Leute sich die Mühe machen, ein Buch aufzuschlagen oder eine Ausstellung zu besuchen. Aber wir machten eine Buchtour und Johnny Byrne, mein Studioassistent, sagte: “Du musst das wirklich machen.”
Nach einer Weile war ich angetan. Auf der Buchtour war es wirklich hilfreich, einen Bezug zum Publikum zu haben. Wenn ich auf Instagram bin, verbringe ich nicht so viel Zeit damit, mir etwas anderes anzusehen, weil ich mich dabei nicht gut fühle. Ich bin sehr vorsichtig mit dem, was ich mit meinen Augen konsumiere, und ich möchte mir nicht wahllos irgendwas ansehen.
Als ich ein Kind war, hatte ich das Buch von Richard Avedon, das sein bestes Werk war. Er hat es herausgegeben und Seite für Seite zusammengestellt. Auf jedem Bild war das beste Haar und Make-up, das beste Styling. Ich habe meinen Vater angefleht, es mir zu kaufen, als ich 14 war. Ich schwöre, ich kannte jedes Bild auswendig. Durch Osmose habe ich es aufgesogen. Der Unterschied zwischen einem Avedon-Buch und Instagram besteht darin, dass man sich jetzt durch eine Menge mittelmäßiger, seltsamer und schlechter Bilder durcharbeiten muss. Bei dem Buch gab es keinen Müll.
Sogar meine frühen Arbeiten sind immer noch aktuell und können in einer Museumsausstellung gezeigt werden, weil ich keinen Trends gefolgt bin. Ich habe mein eigenes Ding gemacht. Alle [in den 1980er-Jahren] hatten kurzes, stacheliges Haar, und ich wollte unbedingt Renaissance, Botticelli-Stil machen. Heute gibt es so viele Kinder, die sich an Dingen orientieren, die letzte Woche oder letztes Jahr aufgenommen wurden. Schaut in die Geschichtsbücher und lasst euch von der Kunstgeschichte und von Gemälden inspirieren. Kunstgeschichte bekommt man nicht auf Instagram.
Mitte der Nullerjahre hast du eine Pause von der kommerziellen Fotografie eingelegt. Was inspiriert und stimuliert dich jetzt, neue Arbeiten anzufertigen?
Ehrlich gesagt, ich bete einfach. Ich bete für Inspiration, und sie kommt. Das ist der Grund, warum ich keine MasterClass geben konnte. Sie wollten schon früh, dass ich eine MasterClass gebe, und sie sagten: “Du wirst eine Menge Geld verdienen.” Ich kann nicht ehrlich sein und über das Beten für Inspiration als Teil meines Prozesses sprechen. Wenn ich es weglassen würde, wäre das eine Lüge. Wenn ich es erwähnen würde, würden die Leute ihr Geld zurückverlangen.
Willst du damit sagen, dass es von innen kommt?
Es kommt von Gott.
Deshalb, bei all diesem Stolz – Ich bin stolz auf meine Arbeit, Stolz, Stolz Stolz – denke ich mir, aber Demut ist wichtig. Bescheidenheit. Ich meine nicht falsche Bescheidenheit. Ich habe so ein Glück und bin gesegnet, dass ich diese Möglichkeit habe, Kunst zu machen. Es gibt so viele Leute auf dieser Welt, die Krieg und Armut und Hunger und Leid ertragen müssen, und gerne daraus Kunst schaffen würden. Ich bin nicht stolz. Ich bin gesegnet. Es ist ein Geschenk. Dafür sollte man Gott dankbar sein und Vertrauen in ihn haben. Niemand kann mir etwas anderes erzählen. Ich kann nur für mich selbst sprechen. Ich weiß, wo meine Inspiration herkommt, und sie kommt nicht von mir.
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