Es war der 21. Februar 1985 und ein bitterkalter Tag in Leeuwarden, eine Stadt in der Provinz Friesland im Norden Hollands. Doch trotz der Kälte war schon lange vor Sonnenaufgang die halbe Stadt auf den Beinen. Mehr als 15.000 Schlittschuhläufer, die meisten davon Amateure, warteten in einer riesigen Halle, wo sie mit ihren Rennanzügen und Strickmützen aufgeregt hin und her hüpften.
Zudem hatten sich Hunderttausende vor ihren Fernsehapparaten und am Streckenrand versammelt. Sie hatten 22 Jahre auf diesen Tag gewartet. Endlich hieß es wieder „Elfstedentocht”.
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Die Elfstädtetour, wie die deutsche Bezeichnung lautet, ist ein extrem hartes Natureis-Langstreckenrennen, das entlang der elf friesischen Ortschaften mit historischem Stadtrecht führt. Die fast 200 km lange To(rt)ur, die in Leeuwarden beginnt und endet, führt über zugefrorene Kanälen, Flüsse und Seen. Die Läufer müssen sich in jeder der elf Städte einen Stempel abholen und derjenige, der als Erster die Ziellinie überquert, wird zu so etwas wie einem kleinen Nationalhelden, während die anderen Finisher zumindest das heiß begehrte Elfstedentocht-Kreuz überreicht bekommen.
Als der Startschuss ertönte, drängte das Meer an Menschen aus der Halle Richtung ersten Kanal. Dort zogen sich die Läufer schnell ihre Schlittschuhe an und machten sich—unter ohrenbetäubendem Lärm der Zuschauer—auf den langen, beschwerlichen Weg.
„Es war ein wirklich magischer Moment”, erinnert sich Immie Jonkman, die damals 14 war. Sie hatte schon ihr ganzes Leben lang von der Elfstedentocht gehört, aber erst, als sie zum ersten Mal am Streckenrand stand, verstand sie um seine Bedeutung. „Es war wie ein nationaler Feiertag”, ergänzt sie.
Eine Vorgängerversion der Veranstaltung gab es schon 1749 und das erste offizielle Rennen fand 1909 statt. Es kann nur dann abgehalten werden, wenn das Eis entlang der gesamten Strecke mindestens 15 cm dick ist. Sieht das Wetter vielversprechend aus, wird in 48 Stunden die ganze Strecke präpariert. Die Einwohner von Leeuwarden, Sneek, IJlst, Sloten, Stavoren, Hindeloopen, Workum, Bolsward, Harlingen, Franeker und Dokkum machen sich dann an die Arbeit und fegen den Schnee vom Eis oder bereiten kleine Verpflegungspakete zu, die sie dann am Tag aller Tage den vorbeisausenden Athleten zustecken.
Das Wetter war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nie ein großes Thema. Es herrschten regelmäßig so strenge Winter, dass mindestens alle fünf Jahre das Rennen stattfinden konnte. Nur aufgrund der beiden Weltkriege wurden längere Unterbrechungen nötig. Das Rennen von 1963, das insgesamt 12., war das wohl härteste aller Zeiten. Es war so kalt und schneite so heftig, dass es von den insgesamt 10.000 Startern nur 136 ins Ziel schafften. Das Rennen ging auch als „Hölle von 1963″ in die niederländischen Geschichtsbücher ein. Doch die wahre Hölle begann erst in den Jahren danach—zumindest für Fans und diejenigen, die sich auch mal an der Elfstedentocht versuchen wollten. Am Ende mussten sie ganze 22 Jahre warten, bis die Wetterverhältnisse ein erneutes Rennen zuließen.
Theo Brandsma, Klimaforscher am Königlich-Niederländischen Meteorologischen Institut (KNMI), erinnert sich auch noch ganz genau an den Tag im Februar 1985. Er war nur wenige Jahre älter als Jonkman und hatte zusammen mit ein paar Freunden beschlossen, die Schlittschuhe anzuziehen und an den Start zu gehen. Er fühlte sich bereit für die Herausforderung, auch wenn man erst wirklich weiß, was einen erwartet, wenn das Rennen losgeht. So kam, was kommen musste. Während des Rennens, wahrscheinlich hatte er einen schweren Hungerast erlitten, wurde er plötzlich ohnmächtig. Erst nach einer Stunde kam er wieder zu sich, stand auf und schaffte es wie durch ein Wunder bis ins Ziel.
Auch im Folgejahr nahm er am Rennen teil und kam erneut, diesmal ohne Zwischenfälle, ins Ziel.
Dann mussten erneut elf lange Jahre ins Land gehen, bis sich die Niederländer wieder über eine Elfstedentocht freuen konnten. Und seit 1997—dem Jahr, als der damals 18-jährige Willem-Alexander im Ziel von seiner Mutter und Königin Beatrix aufgegangen werden musste—konnte kein weiteres Rennen mehr stattfinden. Für Außenstehende ist die Schuldfrage längst geklärt. Stichwort: Klimawandel.
Die Niederlanden sind stark bedroht vom Klimawandel und dem daraus resultierenden Anstieg des Meeresspiegels. Denn mehr als 55 Prozent der Landesfläche liegen unterhalb des Meeresspiegels. Trotz dieser Tatsache tun sich niederländische Regierungen traditionell schwer damit, das Konzept Klimawandel mit all seinen Folgen zu akzeptieren. Also haben einige Klimaforscher in unserem Nachbarland eine neue Strategie eingeschlagen: Anstatt von den Folgen für weit entfernte Regenwälder irgendwo im Amazonas-Gebiet zu sprechen, lenken sie die Aufmerksamkeit der ?–ffentlichkeit zunehmend auf die Elfstedentocht und ihre düstere Zukunft.
2009 haben Hans Visser und Arthur Petersen von der niederländischen Organisation für Umweltbewertung ein Modell entwickelt, dem zufolge das Eis in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts nur noch alle 18 Jahre dick genug sein wird, um die Elfstedentocht ausrichten zu können. Doch jetzt kommt der Hammer: Für die Zeit nach 2050 errechnet dasselbe Modell, dass die Elfstedentocht nur noch alle 180 Jahre stattfinden können wird. Diese Prognose deckt sich mit einer Studie, die im August 2013 in Nature veröffentlicht wurde. Die hatte herausgefunden, dass die Temperaturen zwischen 2047 und 2069 so extrem ausfallen werden, dass alles, was die Menschheit zwischen 1860 und 2005 erlebt hat, in den Schatten gestellt werden wird.
2001 hat sich Bradsma die durchschnittlichen Wintertemperaturen und die maximale Eisdicke während des gesamten 20. Jahrhunderts angeschaut. Zwischen 1981 bis 2001 betrug die Durchschnittstemperatur im Winter rund 3,3 Grad Celsius und lag damit deutlich über den 2,5 Grad Celsius, die für die Zeitspanne von 1881 bis 2000 gemessen wurden. Für jede weitere Erwärmung um ein Grad Celsius, so Bradsma, würde die maximale Eisdicke um weitere 5,4 cm zurückgehen.
Doch trotz gestiegener Durchschnittstemperaturen konnten zwischen 1981 und 2001 drei Ausgaben der Elfstedentocht abgehalten werden, was darauf hindeutet, dass die Temperatur nicht alles ist. So würden auch Veränderungen der Windströmungen eine Rolle spielen. Die seien zwar eigentlich normal und nur von vorübergehender Natur, doch jüngste Forschungsergebnisse legen nahe, dass die veränderten Windströmungen alles andere als temporär sein könnten.
So oder so kam Brandsma zu dem—nicht ganz so unerwarteten—Schluss, dass aufgrund der starken Treibhausgasemissionen und des damit verbundenen Anstiegs der Durchschnittstemperatur zukünftige Austragungen der Elfstedentocht eine echte Rarität darstellen werden.
Schnell haben niederländische Politiker seine Forschungsergebnisse aufgegriffen. „Als ich 1956 geboren wurde, stand die Chance auf ein Stattfinden der Elfstedentocht bei eins zu vier. Als meine Tochter 1999 geboren wurde, stand die Chance nur noch bei eins zu zehn. Eine enorme Veränderung für gerade einmal eine Generation”, verkündete der damalige niederländische Premierminister, Jan Peter Balkenende, 2005 in einer Rede.
Natürlich bedeutet Klimawandel mehr als nur das Ende eines historischen Schlittschuhrennens. Doch wenn man darüber mehr Leute für das Thema interessieren kann, ist es dennoch ein guter Anfang. Visser ist sich indes sicher, dass die neue Strategie viele Leute in den Niederlanden wachgerüttelt hat. Deswegen hat er seitdem weitere Aufsätze veröffentlicht, in denen er aufgezeigt hat, wie auch andere Länder durch die Thematisierung von „lokalen Bedrohungen” Klimawandel für die einheimische Bevölkerung zu einem greifbareren und aktuelleren Problem machen könnten.
Dieses Jahr hat sich übrigens ein nationaler Fernsehsender etwas ganz Besonders ausgedacht, um die Leere zu füllen: Sie haben das komplette Rennen von 1985 einfach nochmal ausgestrahlt, und zwar so, als sei alles live. Währenddessen nehmen einige Fahrer auch an anderen Rennen teil (etwa auf Seen oder künstlichem Eis), um irgendwie auf ihre Kosten zu kommen. Und rund 30.000 Einheimische zahlen noch immer Jahr für Jahr eine kleine Startgebühr.
Sie alle waren 2012 voller Hoffnung und Vorfreude, als das Wetter vielversprechend aussah. Jedes Hotel in der Gegend war ausgebucht und sogar der Eisschnelllauf-Olympiasieger von 2010, Mark Tuitert, hatte auf Twitter versprochen, dass—falls er sich terminlich zwischen der Weltmeisterschaft und der Elfstedentocht entscheiden müsste—seine Wahl auf das Outdoor-Traditionsrennen fallen würde. Aber wie in den Jahren zuvor ist dann das Eis wieder zu früh geschmolzen.
Wie lange werden die Niederländer noch das Rennen organisieren, eine ganzjährige Herausforderung, die von Hunderten von Freiwilligen auf die Beine gestellt wird? Vielleicht 30, 40 Jahre, tippt Jonkman. Dann würden wir auch schon das Jahr 2050 schreiben—also genau der Zeitpunkt, ab dem Visser und Petersen zufolge das Rennen klimabedingt eh keine Zukunft mehr hätte.
Doch bis dahin werden die Niederländer weiter hoffen. „Je länger es dauert”, so Jonkman, „desto toller und magischer wird die nächste Elfstedentocht sein.”