Der verrückte Reichtum der Premier League ist auf einem hartnäckigen Mythos aufgebaut. Das wurde mir neulich klar, als ich – ein gebürtiger Engländer und Arsenal-Fan – mit einem Dauerkartenbesitzer von Eintracht Frankfurt sprach. Der erzählte mir mit leuchtenden Augen, dass er demnächst für ein Heimspiel meiner Mannschaft nach London reisen würde. Besonders freuen würde er sich auf die Wahnsinnsstimmung im englischen Fußball, den leidenschaftlichen Fans sei Dank. Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, wie enttäuscht und desillusioniert er aus London zurückkommen wird. Und das, nachdem er für ein Spiel im Emirates fast die Hälfte von einem Jahr Stehplatz in Frankfurt blechen muss.
Diese Diskrepanz zwischen Erwartung und Wirklichkeit ist nicht nur auf Arsenal beschränkt. Es ist das Symptom eines Problems, das englische Klubs im ganzen Land betrifft. „Wir verzeichnen einen Rückgang, und diese Meinung wird allgemein geteilt”, sagt Jay McKenna von der Liverpool-Fangruppe ‚Spirit of Shankly’, als ich ihn auf die Stadionatmosphäre in der Premier League anspreche. „Vom Verband und von den Vereinen hört man natürlich nichts in die Richtung, weil sie wissen, dass das ihr Produkt beschädigen würde.”
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Und in der Tat haben die Liga und ihre Vereine ein vitales Interesse daran, das Premier-League-Image einer formidablen Stimmungskanone zu bewahren. Schließlich will man ja auch noch in Zukunft Abermillionen scheffeln. Die Idee, dass Engländer leidenschaftliche Fans sind, weil sie auf eine lange Fußballtradition und -geschichte zurückblicken, ist ein zentraler Bestandteil der Marke Premier League. Beispiel Red Devils: Im Jahr 2016 hatten 80% der Vereinseinnahmen (515 Millionen Pfund) direkt mit dem Branding von Premier League und Manchester United zu tun. Denn am Ende werden eben mit der Marke die bekanntermaßen lukrativen TV-Rechte verkauft; am Ende ist es eben die Marke, die Menschen im fernen China davon überzeugt, United-Trikots zu kaufen, oder Softdrink-Sponsorenverträge in Nigeria an Land zieht.
„Wir verkaufen den Leuten die Premier League als ein Produkt”, sagt McKenna. „Liverpool weiß das ganz genau, darum platzieren sie ihre Werbeflächen immer am oberen Ende der Kop. Wenn ein Fan oder ein Medienvertreter ein Foto schießt, oder wenn die TV-Kameras auf die Kop schwenken, entsteht so immer ein postkartentaugliches Motiv”, erklärt er weiter. „Die Kop, die Fahnen, die Schals, die Banner, die Gesänge, ‚You’ll Never Walk Alone’ und direkt darüber Standard Chartered und New Balance. Sie verkaufen diese Story, den Mythos, die Geschichte und Tradition.”
Doch dieser scheinbar perfekte Schnappschuss vom englischen Fußball, dieser Mythos, der als Teil des Premier-League-Pakets verkauft wird, steht immer mehr im Widerspruch zu dem, was Fans tatsächlich auf den Tribünen erleben. Fans wie McKenna sehen den harten Kern der Anhängerschaft, der die Stimmung erzeugt, mit der die Liga Werbung macht, immer kleiner werden – und die Stadien immer leiser. Fragt man Fans in England nach den Gründen für diese Entwicklung, ist die Antwort eigentlich fast immer dieselbe. „Ich denke, es liegt an den Preisen”, so Raymond Herlihy von der Arsenal-Fangruppe ‚REDaction Gooners’. Raymond erzählt mir außerdem, dass er zahlreiche langjährige Gunners-Fans kennt, die aufgrund der hohen Ticketpreise nicht mehr ins Stadion kommen.
Was der Liga und den Klubs aber vielleicht noch mehr Sorgen bereiten sollte, ist die Tatsache, dass hohe Preise die kommende Generation von Fans abschrecken könnte. „Das Alter der jetzigen Fans ist auf alle Fälle ein Faktor”, glaubt Herhily. „Bei Arsenal ist der durchschnittliche Dauerkartenbesitzer um die 50. Auch wenn der sich noch so anstrengt, stimmungstechnisch kann er einfach nicht so viel beitragen wie ein Fan mit Anfang 20. Aber welche jungen Leute können sich heute noch Arsenal-Dauerkarten leisten?”, fragt er. Vor dem Hintergrund stetig ansteigender Wohnungspreise, stagnierender Löhne und allgemeiner Brexit-Sorgen lautet die Antwort: eigentlich fast keine mehr.
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Die teuren Ticketpreise in der Premier League sind aber nicht nur ein Problem für all diejenigen Fans, die aus den Stadien vertrieben werden. Sie wirken sich auch auf das Verhältnis zwischen Fußball und seinen Fans aus. „Ich gehe nicht nach Anfield und denke mir: ‚Ich will 90 Minuten hochwertige Premier-League-Action sehen’, so wie es im Pay-TV heißen würde,” erklärt McKenna. „Ich gehe dahin, weil ich den Liverpool Football Club sehen will”. Er sagt weiter, dass im Stadion auch für Leute Platz sein muss, die nur zuschauen wollen, aber dass diese gut situierten Zuschauer den richtigen Fans schon seit längerem vorgezogen werden – also all jenen Fans, die für Stimmung sorgen, selbst wenn auf dem Platz von ‚hochwertiger Premier-League-Action’ mal nichts zu sehen ist. Diejenigen, die nur zuschauen möchten, erwarten sich ihrerseits auch einen Gegenwert für ihr Geld, in Form von Qualität auf dem Platz.
„Meine Dauerkarte kostet locker 1.000 Pfund und das ist noch die günstigste, die man bekommen kann”, erklärt Herlihy. „Wenn du deinen Fans so viel abknüpfst, schaffst du auch eine höhere Erwartungshaltung, was die Leistung auf dem Platz betrifft.” Die anhaltende Frustration von Arsenal-Fans wegen fehlender Ambitionen in der Chefetage (Eigentümer Stan Kronke hat mal rausgehauen, dass er Arsenal nicht gekauft hätte, um Titel zu gewinnen) ist umso verständlicher, weil kein EPL-Verein höhere Ticketpreise hat. „Aus meiner Sicht wollen wir gar nicht die Meisterschaft holen, wir versuchen, Vierter zu werden”, so Herlihy weiter. „Wir versuchen, Geld zu verdienen, ohne uns dafür ein Bein ausreißen zu müssen. Das ist dann aber bei solchen Ticketpreisen nicht akzeptabel.”
Man könnte argumentieren, dass die Situation bei Arsenal eine besondere ist. Aber dass auch die treuesten Fans etwas für ihr Geld erwarten, ist dann doch nichts so Besonderes. „Ich liebe Jürgen Klopp”, sagt McKenna, „aber ein Teil von mir will manchmal – wenn er mal wieder die Fans auffordert, sein Team zu unterstützen – einfach nur brüllen: ‚Junge, die haben nicht 59 Pfund gezahlt, um sich eine solche Scheiße anzuschauen.’”
Es gibt erste Anzeichen dafür, dass sich die Premier League und ihre Vereine der nachlassenden Stimmung bewusst geworden sind. Dass man ernsthaft über die flächendeckende Einführung des Safe-Standing nachdenkt, ist ein stillschweigendes Eingeständnis, dass die Atmosphäre wieder besser werden muss. Die Einführung einer Preisgrenze für Auswärtstickets (30 Pfund) war ein weiterer positiver Schritt. In einer Stellungnahme beschrieb die Liga ihre Initiative als „essentiell für eine gute Stadionatmosphäre” und unterstrich die wichtige Funktion von Auswärtsfans: „Sie lösen bei den Heimfans eine Reaktion aus und die unterscheidet die Premier League von den anderen Ligen.”
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Vielleicht müssen wir aber auch einfach akzeptieren, so wie Herlihy nahelegt, dass lautstarke Heimkulissen bei stinknormalen Ligaspielen der Vergangenheit angehören. Vielleicht ist der Marketing-Riese Premier League geschickt genug, die Realität so zu verschleiern, dass man weiterhin die englische Liga als Stimmungsmonster verkaufen kann. Gleichzeitig betont Herlihy völlig zurecht, dass Fans auch gerne mal die rosarote Brille aufhaben, wenn sie über die Vergangenheit sprechen. Und zwar dann, wenn sie vergessen, dass die Stadionatmosphäre zwar steriler wirkt, dafür aber die Problemfelder Gewalt und Sicherheit weitestgehend unter Kontrolle gebracht worden sind. Es geht also darum, einen gangbaren Mittelweg zu finden.
Doch Grundbedingung für jeden noch so kreativen Mittelweg ist das Gebot, die Ticketpreise wieder zu senken, will man den Trend der nachlassenden Stimmung wieder umkehren. Wenn nicht gerade die Regierung regulierend dazwischengeht – was äußerst unwahrscheinlich erscheint –, ist die einzige Lösung wohl nur die, dass die maue Stimmung die Liga finanziell trifft. Also dann, wenn man keinem mehr glaubwürdig verkaufen kann, dass die Premier League bebt. Bleibt die Frage, ob es dann überhaupt noch richtige Fans gibt.