Als Magnus fünf wurde, verkündete Henrik Carlsen seiner Frau Sigrun, dass er das Gefühl hätte, ihr Sohnemann würde eines Tages ein Schach-Großmeister werden. Henrik, der als Jugendlicher selbst auf Amateurebene in Norwegen Schach gespielt hat, erkannte in Magnus einige Charakterzüge, die ein erfolgreicher Schachspieler mitbringen sollte.
„Er war ein neugieriges Kind”, erzählt mir Henrik. „Du konntest sein Interesse echt für die unterschiedlichsten Dinge wecken. Aber für Schach schien er ein besonderes Talent zu haben. Er brachte die nötige intellektuelle Neugier mit, ein gutes Gedächtnis, ein gutes räumliches Denken und die Fähigkeit, sich zu fokussieren. Er konnte stundenlang dasselbe machen, ohne mitzubekommen, dass wir mit ihm sprechen.”
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Am Anfang war sein Interesse für Schach noch überschaubar, lieber ging er Skifahren oder spielte Fußball, erzählt mir sein Vater. Seine Faszination für den Sport stieg aber drei Jahre später rasant an, als er seinen Vater gegen seine ältere Schwester Ellen spielen sah.
„Das hat mein Interesse endgültig geweckt”, so Magnus im Interview mit VICE Sports. „Meine Schwester zu schlagen, wurde zu meiner größten Motivation und infolgedessen hat mich Schach so richtig gefesselt. Ich habe in meiner Freizeit stundenlang Bücher über Schach gelesen oder einfach nur die Figuren über das Brett geschoben und über das Spiel nachgedacht.”
Sein Vater erinnert sich daran, dass es vor allem die unendlichen Spielmöglichkeiten waren, die seinen Sohn in den Bann zogen. „Er stellte fest, dass Schach ein eigenes Universum war, das es zu erkunden galt”, so Henrik.
Nach nur wenigen Monaten hatte Magnus zum ersten Mal seine Schwester geschlagen. Im Alter von neun schlag er auch seinen Vater. Erfolg in größerem Umfang kam nicht sofort, aber trotzdem relativ schnell. In seinem ersten Juniorenturnier holte der neunjährige Magnus den 13. Platz. Mit zehn Jahren war er schon der beste Juniorenspieler Norwegens und mit elf gab es in seiner Altersklasse nur einen Spieler, der noch besser war als er: ein russisches Ausnahmetalent namens Sergey Karjakin.
Aktuell stehen Carlsen und Karjakin im Finale der Schach-WM. Beide gingen in der zwölften Partie kein Risiko ein, weswegen es am Mittwoch ins Tiebreak geht.
Carlsen, mittlerweile 25 Jahre alt, gilt als bester Schachspieler aller Zeiten und hat sich den Spitznamen „Mozart des Schachs”—auch Titel einer norwegischen Doku über den Superstar—erarbeitet. Vor drei Jahren wurde er Weltmeister, als er den indischen Superstar Vishy Anand in Chennai besiegen konnte. 12 Monate später konnte er den Inder in einem Rematch erneut besiegen und seinen WM-Titel verteidigen.
Seine Erfolge sind umso beachtlicher, wenn man bedenkt, wie wenig Elitespieler es in seiner Heimat gibt. Stand heute ist Carlsen Norwegens einziger Spieler in den Top 100, verglichen mit fünf aus Frankreich, sechs aus England, sieben aus den USA und 24 aus Russland.
Doch nicht nur, dass Carlsen viele Titel gesammelt hat. Er hat auch das Image seines Sports verändert. „Er ist weder ein bisschen pummelig, noch sieht er nerdy aus. Er könnte locker ein echter Athlet sein”, sagt Fred Friedel, der zusammen mit dem früheren Weltmeister Garry Kasparov die Nachrichtenseite ChessBase gegründet hat und die Carlsen-Familie seit über einem Jahrzehnt kennt. „Sein Name endet nicht auf ‚ov’ oder ‚vitch’, er ist kein Russe, sondern hat an der Seite von Bill Gates und Mark Zuckerberg das Silicon Valley abgeklappert. Er hat Schach zu einem Mainstream-Interesse gemacht und viele Leute zum Sport geführt.”
Die World Chess Federation verkündete vor einigen Wochen, dass insgesamt eine Milliarde Zuschauer für das Finale zwischen Carlsen und Karjakin im Laufe der zwei Wochen im Fernsehen und Internet einschalten würden. Auch wenn das sehr optimistisch war, haben die Partien sehr viele Menschen vor die Bildschirme locken können. Zum ersten Mal wird eine bedeutende Schachpaarung in Virtual Reality gestreamt. Das hat vor allem mit der Person Magnus Carlsen zu tun. Carlsen hat mit G-Star Raw einen Modelvertrag und hat mit Play Magnus seine eigene App. Außerdem wurde ihm 2013 für „Star Trek” eine Rolle angeboten. Allein mit seinen Werbeverträgen verdient er locker über eine Million Dollar pro Jahr.
In vielerlei Hinsicht kann sich Carlsen glücklich schätzen. Nicht zuletzt mit dem Timing seiner Karriere. Sein Vorgänger Garry Kasparov—der jüngste Weltmeister aller Zeiten, der zwischen 1985 und 2000 die Schachwelt dominierte—gilt als einer der charismatischsten Spieler, die es je gab. Kasparov schaffte es, erfahrene Großmeister zu Nervenbündeln zu zermürben—und zwar nur durch seine bloße Gegenwart. Doch weil sich der Großteil seiner Karriere vor dem Internet-Zeitalter abspielte, wurden seine Erfolge und Heldentaten in wenigen Zeilen im Sportteil abgefrühstückt. Oder eben ausführlicher in einschlägigen Nischenmagazinen.
„Er hat nicht dieselbe Aura wie Kasparov”, sagt Friedel. „Die war absolut einzigartig. Ich erinnere mich an einen Großmeister, der mir von seiner ersten Partie gegen Kasparov erzählt hat. Er meinte zu mir, dass er sich selbst anherrschen musste, keine Angst zu haben und ihn nicht anzuschauen. Magnus ist dagegen viel zurückhaltender und gelassener, doch jedes Mal, wenn er spielt, bekommt er die Aufmerksamkeit von Zehntausenden Menschen auf der ganzen Welt. Und das hat ihm viel gebracht.”
Carlsens Aufstieg fiel zeitlich mit einer steigenden Popularität von Schach zusammen. In den letzten zehn Jahren entstanden immer mehr Apps, Websiten und Social-Media-Plattformen. Mittlerweile ist es möglich, zu jeder Zeit gegen jeden auf der Welt zu spielen, ein paar wenige Knopfdrücke genügen. Gleichzeitig erlebt der Sport aktuell einen Imagewandel, mehr und mehr junge Spieler erobern die Weltspitze. Aktuell sind sechs Spieler in den Top 10 jünger als 30. Körperliches Training ist mittlerweile Standard. Das ist auch nötig, um besser mit den emotionalen Herausforderungen einer Schachpartie auf hohem Niveau zurechtzukommen, die häufig länger als vier Stunden dauert.
„Es gab schon Studien zum Blutdruck und der Herzfrequenz von Schachspielern während Partien”, so Friedel weiter. „Und obwohl sie nur still sitzen, schießt ihr Puls bis auf 160 hoch, ihr Körper bildet Adrenalin, der Blutdruck steigt. Aber gerade weil sie nur sitzen und das Brett anstarren, muss es der Körper irgendwie schaffen, das Adrenalin wieder abzubauen, damit sie ruhig und fokussiert bleiben.”
Carlsens Trainingsprogramm sieht unter anderem Fußball-, Tennis- und Basketballsessions zwischen den einzelnen Partien vor.
„Während einer WM-Partie steigt das Stresslevel stark an und es kann schwer werden, ausreichend Schlaf zu bekommen”, erklärt uns Carlsen. „Auch Training und Ernährung sind wichtig. Hinter mir steht ein ganzes Team, bestehend aus meinem Trainer, meinem Manager, meinem Vater, einem Arzt und einem Koch, die mir helfen, wo sie nur können. Zwischen den Partien ist es wichtig, für eine relaxte Atmosphäre zu sorgen. Darum gehe ich viel spazieren, mache Sport oder spiele Karten.”
Carlsens nervenstarke Spielweise und seine Fähigkeit, auch in Marathonmatches konzentriert zu bleiben, haben ihn schon als 14-jähriges Talent zu einem Weltklassespieler gemacht. Doch während vergangene Großmeister wie Kasparov oder Bobby Fischer vor allem mit ihren Angriffszügen begeisterten, steht Carlsen für eine Mischung aus Geduld und Hartnäckigkeit. Laut seiner Elo-Zahl vom Mai 2014 ist Carlsen mit 2882 Punkten der beste Schachspieler aller Zeiten (der bisherige Rekord von Garri Kasparow aus dem Jahr 1999 lag bei 2851 Punkten).
Der frühere Weltmeister Vladimir Kramnik führt Carlsens Erfolge und Nervenstärke auf seine körperliche Fitness zurück. Ebenso betonte er dessen Fähigkeit, „psychologischen Hängern” aus dem Weg zu gehen, die in langatmigen Partien und Matches, die sich über zwei Wochen hinziehen können, unvermeidlich sind. Carlsen selbst sieht das Ganze etwas differenzierter. „Ich glaube, dass niemand die ganze Partie über konzentriert bleiben kann. Der Schlüssel liegt darin, die Momente zu erkennen, wo volle Konzentration absolut vonnöten ist.”
Während Kasparov seine Aura hatte, hat Carlsen eine unfassbare Belastbarkeit und Nerven aus Stahl—auch in Drucksituationen. Carlsen selbst beschreibt sein Spiel auf fast schon poetische Weise.
„Beim Schach geht es nicht nur um Gedächtnis memory. Das hilft natürlich, aber sollte nicht überbewertet werden. Klar muss man sich mit früheren Partien intensiv auseinandersetzen, aber wenn ich spiele, weiß ich intuitiv sofort, welcher Zug der richtige ist. Meine meiste Denkarbeit dient dazu, meinen ersten Instinkt zu verifizieren.”
Carlsen spielt auch gerne seine Intelligenz herunter. In einem Interview mit dem Spiegel sagte er mal: „Vielleicht ist es ganz gut, dass ich nicht die schlaueste Person auf diesem Planeten bin. Schaut euch den britischen Großmeister John Nunn an, eines der größten Talente aller Zeiten. Der wurde nie Weltmeister, weil er einfach zu klug war. Er hatte zu viele andere Dinge im Kopf. Für mich gibt es nur Schach.”
„Er ist ein unfassbar nerviger Gegner”, sagt sein eigener Trainer Peter Nielsen. „Seine praktischen Stärken sind auf einem ganz neuen Level, womit die Leute echt Schwierigkeiten haben. Er hat unglaublich viel Geduld. Manche Spieler gehen sofort auf Sieg, er aber hat kein Problem damit, erst nach sechs Stunden zu gewinnen. Es gibt häufig Positionen, wo die meisten Spieler einem Unentschieden zustimmen würden. Er aber sieht dann immer noch irgendwelche Möglichkeiten und spielt einfach weiter, auch drei Stunden, und übt damit über längere Zeit Druck auf seine Gegner aus, und zwar mit einfachen, aber exakten Zügen. Früher oder später werden seine Gegner fast schon paranoid, verlieren auf dem Brett die Übersicht und trauen sich bei harmlosen Positionen kein Unentschieden mehr zu.”
Carlsen selbst glaubt auch, dass er von seinem Status als Weltmeister profitiert, weil seine Gegner häufig mehr seinen Ruf als die aktuelle Position auf dem Brett im Fokus haben. „Manchmal habe ich den Vorteil, dass meine Gegner meinen Zügen fast schon blind vertrauen und nicht die Antworten geben, die die Stellung eigentlich verlangen würde. Es fehlt ihnen manchmal einfach der Mut”, so Carlsen weiter.
Auch wenn Carlsen ein Produkt der neuen Schachgeneration ist, ein Kind des Informationszeitalters, so hat er doch erstaunlich wenig für die neueste Technologie übrig. Seine meisten Gegner verbringen viele Stunden am Tag vor Schachcomputern, um sich Vorteile in den ersten zehn bis 15 Zügen der Eröffnung zu verschaffen. Carlsen lässt Schachcomputer links liegen und spielt lieber Poker oder Videospiele. „Die heutigen Schachcomputer und das Internet sorgen dafür, dass die Topspieler eigentlich eh schon alles wissen. Wenn ich mich auf meine Gegner vorbereite, versuche ich mir Strategien zu überlegen, die von den ausgetretenen Pfaden möglichst weit wegführen. Ich glaube, ich bin der beste Spieler und ich will gegen eine andere Person spielen, nicht gegen einen Computer.”
Nielsen erklärt weiter, dass fast jeder Spieler versuchen würde, schon in den Eröffnungen einen Vorteil zu erlangen, nicht aber Carlsen, der vor allem auf den Überraschungsfaktor setzt und es vorzieht, seinen Gegner in das Ungewisse zu führen, auch wenn das bedeutet, dass er dann defensiv spielen muss.
„Er ist sehr flexibel und besonders gut darin, auch eine defensive Position in einen Sieg umzumünzen”, so Nielsen weiter. Mal schauen, ob er das auch morgen im Tiebreak der Schach-WM gegen Karjakin unter Beweis stellen kann.