80 Quadratmeter, Altbau, unter 1.000 Euro: Wenn ein Berliner Vermieter eine bezahlbare Wohnung annonciert, stellen sich schon mal 800 Leute zur Besichtigung an. Studenten, die eher am unteren Ende der Mietpyramide ihr Dasein fristen, ziehen deshalb notgedrungen in teurere Luxuswohnheime. Andere finden monatelang gar keine Wohnung. Ausgerechnet der Discounter ALDI Nord mit seinen einstöckigen Filialen will jetzt Abhilfe schaffen. Denn wo unten Einmachgurkengläser, Thermounterwäsche und geriffelte Kartoffelchips auf einer einzigen Etage verkauft werden, ist noch viel Platz – nach oben. ALDI Nord will deshalb nun eine Reihe seiner Berliner Märkte abreißen und durch Neubauten ersetzen: unten der Lebensmitteldiscounter mit seinen Sonderangebotsschildchen, oben mehrere Geschosse Wohnungen. Das hat das Unternehmen diese Woche bekannt gegeben und tatsächlich handelt es sich allem Anschein nach um eine sinnvolle Idee.
Denn die Lage ist – ohne Übertreibung – dramatisch, auf dem Berliner Wohnungsmarkt kommen ganz schnell ganz viele Nullen zusammen. 2016 sollen 13.700 neue Wohnungen in Berlin gebaut worden sein. Zu wenig, denn die Stadt rechnet mit einem Mehrbedarf von 20.000 Wohnungen – pro Jahr. Bis 2030 müssten 194.000 zusätzliche Wohnungen entstehen, um den Andrang auf Berlin auch nur im Ansatz aufzufangen. 80.000 bis 120.000 bezahlbare Wohnungen fehlen schon jetzt, sagt der Berliner Mieterverein. Dazu gehören vor allem Sozialwohnungen, deren Bau vom Staat gefördert wird, sodass die Mieten niedrig bleiben. Da verwundert es kaum, wenn die Hilfsorganisation Caritas schätzt, dass bereits jetzt 20.000 Berliner wohnungslos sind, etwa 6.000 von ihnen leben auf der Straße. Könnten die bei ALDI demnächst nicht nur ihre Pfandsammlung abgeben, sondern dort auch wohnen?
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Das Unternehmen will mehr als 2.000 Wohnungen in Berlin bauen. Das wäre immerhin mehr als ein Prozent des errechneten Bedarfs. 30 ALDI-Häuser des Modells Wohnst-du-schon-wo-du-kaufst (frei nach einer schwedischen Möbelmarke) sollen die Berliner Silhouette auffüllen, 15 Standorte hat der Discounter bereits ausgesucht, an zwei davon wird es konkret. Bereits beschlossen ist der Abriss und Neubau des alten ALDI-Gebäudes in der Sewanstraße in Berlin-Friedrichsfelde. Das Vorhaben in der Silbersteinstraße im Stadtteil Neukölln haben die Behörden bislang noch nicht genehmigt. Der Grünen-Politiker Jochen Biedermann, Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung, Soziales und Bürgerdienste in Neukölln, teilte VICE per E-Mail mit, dass der notwendige Abstimmungstermin mit dem Stadtentwicklungsamt erst in diesem Monat stattfindet.
Die dortigen Wohnungen wären – vorerst – ein Tropfen auf das heißgelaufene Berliner Mietpflaster. 134 baut ALDI Nord im Osten, heißt es aus dem Bezirksamt Lichtenberg, 50 bis 70 sollen in Neukölln dazukommen, schreibt die Berliner Morgenpost. Die maximale Kaltmiete soll bei 10 Euro pro Quadratmeter liegen und damit in etwa bei der ortsüblichen Vergleichsmiete aus dem Berliner Mietspiegel. Und die wird in den nächsten Jahren noch weiter steigen, sprich: Die ALDI-Wohnungen wären demnach nicht teurer als andere Angebote, die du derzeit auf den Immobilien-Webseiten finden kannst, sondern aller Voraussicht nach billiger. Ein Münchner lacht über solche Preise, ein Leipziger sagt sich hingegen wohl: “Hoffentlich bleibt meine Wohnung billig!” In jedem Fall wäre eine Discounterwohnung größer als die umfunktionierte Gästetoilette, in der eine Berliner Studentin schon 2016 lebte. 30 Prozent der ALDi-Wohnungen sollen zudem als Sozialwohnungen gebaut werden.
Wie das aussehen soll, zeigen Modellfotos, die ALDI Nord veröffentlicht hat. Sechs zusätzliche Geschosse erheben sich über dem Supermarkt. Der Bau ist ein schlichter weißer Quader, vor den Fenstern hängen kleine Balkons mit Balustraden aus dunklem Glas. Der Bezirk Lichtenberg findet: Das passt ins Stadtbild. Auch weil das Projekt ökologische Vorteile habe. Birgit Monteiro, SPD-Politikerin und Bezirksstadträtin für Stadtentwicklung, Soziales, Wirtschaft und Arbeit in Lichtenberg, schreibt VICE, grundsätzlich begrüße der Bezirk das Vorhaben, in Berlin müssten schließlich Wohnungen gebaut werden. In Lichtenberg allein sollen das bis 2021 rund 11.000 sein. Für Monteiro kommen dafür noch drei bis zehn weitere Objekte wie der ALDI-Markt infrage: Neubauten dort könnten im besten Fall ein Zehntel des Lichtenbergers Bedarfs decken. Es sei ihr auch lieber, wenn “Wohnungen auf bereits versiegelten Flächen errichtet werden, anstatt grüne Flächen zu bebauen”.
Monteiros Neuköllner Kollege Jochen Biedermann teilte VICE mit, dass sein Bezirk auch Gespräche mit anderen Supermarktketten führe. Statt über Markenkleidung könnten sich junge Berliner demnächst also über (Billig-)Markenwohnen voneinander abgrenzen. Mögliches Motto: Wir lieben Putzpläne. Und Wandtattoos.
Update vom 2. Februar, 18:26 Uhr: Wir haben den Artikel um weitere Zahlen Bau in Lichtenberg ergänzt.